Stationen auf dem Weg der Heldenreise (Teil 2)
Der erste Teil des Artikels beschrieb den Entwicklungsweg des Helden anhand der einstelligen Arkana, wie er sich von altem loslöst und zu seinem eigentlichen Potenzial erwacht. Im zweiten Teil, den zweistelligen Arkana, erfahren wir nun, wie er die Dunkelheit kennen und überwinden lernt, um gestärkt aus ihr hervorzugehen.
Achilles und Herakles, zwei herausragende Helden der griechischen Mythologie, absolvierten ihre anspruchsvolle Ausbildung bei Chiron, dem Zentauren. Als ein Wesen, halb Mensch, halb Pferd, hatte dieser in der Vergangenheit selbst seine ausschließlich von Nahrungssuche und Arterhaltung, seine rein animalisch motivierte Lebenseinstellung transformiert. Seine neue Orientierung brachte mit sich, dass er seine wahre Lebensaufgabe erkannte und nun zukünftige HeldInnen ausbildete und ihrer Mission zuführte. Auch in modernen Versionen der Heldenreise wie etwa der Star Wars Saga, wenn der junge Luke Skywalker vom Yedi Meister Obi-Wan Kenobi ausgebildet wird, verinnerlichen HeldInnen, dass ihr Geist nicht der Materie unterliegt, sondern sie diese lenken und erschaffen kann, sie erhalten Zugang zur Kraft des wahren Willens.
Während der letzten Etappe der einstelligen Großen Arkanen finden HeldInnen ihren Lehrer, den Eremiten IX, der ihre Ausrichtung neu justiert. Sie entdecken ihr verborgenes, zeitloses Potenzial, das aus der Quelle innerer Stille wirkt, sie erfahren ihren wahren Namen. Nach einer Phase des Rückzugs, verursacht durch Reha, Fasten, nach dem Aufenthalt im Ashram und dergleichen kehren wir zurück in die bunte Außenwelt und begleiten die Helden der Mythologie, die ihre Reise in der Abenddämmerung fortsetzen, die in die Finsternis der Nacht übergeht, um nach der Morgendämmerung wieder vom Sonnenaufgang abgelöst zu werden.
»Die tiefere Ursache für das Unglück ist die fehlende Anpassung an den Fluss des Lebens.«
Die zweistelligen Tarot-Arkana sind nicht mehr vom Aktionszyklus des Magiers I bestimmt, sondern von der Stille und der Intuition der Hohepriesterin II, von den Kräften der Weiblichkeit und des Empfangens. Die Entfaltung eines Bewusstseins jenseits der Ratio tritt nun immer klarer in den Vordergrund. Der Sinn jeder Nachtmeerfahrt ist die bewusste Anbindung an ein ganzheitliches Universum, dessen Intelligenz unendlich größer ist als die menschliche Vorstellung. Die Helden der Mythologie, der Sagen und der Märchen treten in Kontakt mit den Göttern, dem Höheren Selbst – oder sie erhalten zumindest die Chance dazu! Können sie ihrem inneren Ruf auch weiterhin folgen? Können wir in der Alltagspraxis der Stille auch dann lauschen, wenn der äußere Lärm zur Kakophonie anschwillt? Wenn wir nach dem Meditationsseminar wieder zur Arbeit zurückkehren?

Das Rad des Schicksals
Arkanum X, das Rad des Schicksals, stellt die Verbindung mit unbekannten Dimensionen her, die rational nicht begreifbar sind, die man lediglich durch ihre Auswirkungen erkennt. Das rotierende Rad symbolisiert das Auf und Ab des Lebens, dem jede/r unterliegt, dem jedoch ein eingeweihter Mensch grundsätzlich anders begegnet als Menschen, für die lediglich die Materie zählt. Während diese meist gegen ihr Schicksal ankämpfen, es kontrollieren wollen oder sich als dessen fatale Opfer verstehen, lernen HeldInnen das Lesen der Botschaften, die das Leben ihnen hinter der Oberfläche des »alltäglichen Überlebenskampfes« zuspielt. Sie achten insbesondere auf den optimalen Zeitpunkt ihres Tuns – sowie auch ihres »Nicht-Tuns«.
Verantwortlich für die Drehung des Lebensrades sind Wesen wie Seth oder Hermanubis, die in einer Anderswelt beheimatet sind. Damit bringt Arkanum X zum Ausdruck, dass das Auf und Ab, der Lauf unseres Lebens, primär von unbewussten Kräften bestimmt wird. In einem rotierenden Rad können unsere Augen ab einer gewissen Geschwindigkeit die Speichen nicht mehr erkennen. Ähnlich verhält es sich mit feinstofflichen, schnell vibrierenden Frequenzen, die außerhalb unserer Wahrnehmung wirken und somit scheinbar nicht vorhanden sind. Doch Materie ist geronnene Energie, und das Tarot rät dazu, mit eben diesen höheren Vibrationen »gemeinsam zu schwingen«.
Wer in ein rotierendes Rad hineingreift, fängt sich eine Verletzung ein, die alles andere ist als Zufall. Die tiefere Ursache für das Unglück ist die fehlende Anpassung an den Fluss des Lebens. Das Verlassen des inneren Zentrums schleudert uns nach außen, wobei meistens der falsche Zeitpunkt der Grund dafür ist, wenn man von »dummen Zufällen« ereilt wird. Bruce Lee, ein Held der Neuzeit, rät uns: »Be like water, my friend.« Wie Wasser dem Gefälle zu folgen bedeutet, uns an die Frequenzen, das Vibrieren der geistigen Welt anzugleichen. Die hierfür nötigen Antennen sind allerdings nur empfangsbereit, wenn wir mit der inneren Stille auch dann in Kontakt bleiben, wenn die äußere Hektik gerade zu eskalieren scheint.
»Arkanum XI zeigt die Möglichkeit, die Göttin, den Gott im anderen Geschlecht zu erahnen.«
Die Sphinx am höchsten Punkt des Rades ist die Hüterin der vier Elemente. Sie weiß, wie Balance entsteht, wie die innere und äußere Welt als Einheit wirken. Häufig suchen HeldInnen während dieser Etappe das Orakel (Matrix-Trilogie!) auf und lassen ihr Schicksal enträtseln mit dem Ziel, ihre Anbindung an ein inneres Zentrum zu stärken und zu vertiefen. Mit der Vorhersage ihrer Zukunft hat dies absolut nichts zu tun, sondern mit der Absicht, im Karussell des Lebens das zentrale Gleichgewicht zu bewahren. Der Kontakt mit der Außenwelt wird dabei nicht verneint, denn die eigene Wirklichkeit soll nicht für die einzige gehalten werden. Eremiten IX neigen zu Eigenbrötlern, doch Arkanum X eröffnet das Zusammenspiel scheinbar getrennter Welten: Innen und Außen, Körper und Geist, Tag und Nacht befruchten sich gegenseitig für HeldInnen, die dafür bereit sind.
Die einstelligen Arkana dienen uns zur Durchsetzung und Entfaltung beim (Über)Leben, die zweistelligen wiederum stehen für den Ruf der Seele. Ein Eckpfeiler, der diesen Zusammenhang verdeutlicht und uns zugleich vertiefende Kenntnisse des Tarots vermittelt, ist die Verbindung der Arkana über ihre Quersumme, die beim Schicksalsrad (10) zum Magier (1) führt, der hier an die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten stößt. Er unterwirft sich dem Ruf der Götter und folgt diesem. Der richtige Zeitpunkt führt Ödipus auch zur Lösung des Rätsels, das die Sphinx ihm stellt: Zeit ist das Element, das Feuer, Wasser, Luft und Erde verbindet. Die vier Seiten der Pyramide treffen sich in der erhöhten Spitze. Das Zusammenspiel der beiden Karten Magier und Schicksalsrad lenkt unseren Blick in Richtung unserer Lebensaufgabe, wo beispielsweise der Beruf und unsere Berufung miteinander Verbindung aufnehmen.

Die Kraft
Das elfte Arkanum, Kraft oder Lust, legt offen, warum die beiden älteren Brüder des Narren, die einst vor diesem aufbrachen, um das schwer erwerbbare Gut zu finden, schließlich scheitern mussten. Helden, die sich ausschließlich über ihre Männlichkeit definieren, die nur auf Kampf und Körperstärke setzen, betrachten das Tier, das ihnen hier begegnet, als ihren Feind. Sie bekämpfen und töten den Drachen, der die Pforten zum Unbewussten bewacht. Siegfried, der Held der Nibelungen, badet sogar im Blut des Lindwurms, was ihm in der patriarchalen Welt scheinbare Unverletzbarkeit beschert. Doch wer ausschließlich auf Körperkraft und Kontrolle vertraut, wer primär kriegerisch eingestellt bleibt und das Tier tötet, wird an dieser Hybris früher oder später scheitern. Wer jedoch, wie der Narr des Tarots, sein inneres Tier und somit seine animalischen Wurzeln annimmt und läutert, erhält mit dem elften Arkanum einen wertvollen Freund und Gefährten. Er tötet seine Triebe nicht ab, sondern befriedet und bändigt sie. Ihm geht nicht mehr hemmungslos »der Gaul durch« oder »die Sau raus«, er bündelt diese Energie und verinnerlicht seine Triebkräfte. Der Medizinbeutel der Schamanen ist ein Symbol für die Transmutation der primitiven inneren Wildheit, die stattdessen als Krafttier zum Verbündeten wird. Wittern und Instinkt sind unbedingte Voraussetzung, um die Intuition zu öffnen, die primäre Orientierung, ohne die der Weg durch die zweistelligen Arkana nicht gelingen kann. Dionysos, Gott des Feierns und des Weines, ist auf seinem Raubtier reitend ein Relikt aus alter Zeit für diesen Entwicklungsschritt.
Psychologisch stehen die Großen Arkana weiterhin unter dem Motto, das andere Geschlecht innerlich zu erlösen. Wer diesem nur unter animalischen Aspekten begegnet, wer Paarung lediglich als Mittel zur Arterhaltung, bestenfalls als Interessengemeinschaft begreift, ist letztlich von der Angst geleitet. Er/sie wird dem anderen Geschlecht mit Machtmitteln begegnen, von Kontrolle und Manipulation geleitet.
Arkanum XI zeigt die Möglichkeit, die Göttin, den Gott im anderen Geschlecht zu erahnen. Obwohl die Königin der Amazonen ihm Frieden anbietet, tötet Achilles die Penthesilea. Herkules muss in Frauengewänder gekleidet Wolle spinnen, was dazu dienen soll, seine innere Weiblichkeit, seine Gefühle zu erlauben. Samson verrät das Geheimnis seiner Frau Delilah und verliert seine Stärke mit dem Verlust des Haupthaars, Symbol der Weiblichkeit. Wer die Kraft des anderen Geschlechts abtötet oder verrät, scheitert zu guter Letzt. Wer an dieser Stelle jedoch die Integration des Animalischen vollzieht und es mit der seelischen Komponente verbindet, erhält neue Stärke, die dazu verhilft, das menschliche Ego zu schrumpfen. In der Ausweglosigkeit der folgenden Karte, der Gehängte, wird der Druck weiter verstärkt.
An dieser Stelle wollen wir in aller Kürze auf die Reihenfolge der Großen Arkana eingehen: Die Karte Kraft oder auch Lust steht in allen älteren Tarot-Ausgaben an elfter Stelle. Edward Waite hat in seinem Tarot, der 1910 erschien, die beiden Karten 8 und 11 jedoch umgestellt. Er äußerte sich über seine Gründe nie konkret, doch es gibt handfeste Hypothesen, dass er von seinen Ordensoberen zu dieser Umstellung verpflichtet wurde. Er folgte dieser Vorgabe, hat allerdings in der waagrechten 8, dem Symbol der Lemniskate, in den Bildern 1 und 11 deutlich erkennbar ausgedrückt, dass auch er letztlich der »alten« Zählfolge zustimmte. Die herkömmliche Reihenfolge ist, insbesondere unter der Perspektive der Heldenreise, nach wie vor die überzeugendere. Anlass für diesen Exkurs ist die Quersumme der XI, nämlich II, die Hohepriesterin, die dafür steht, dass Körperkraft und Ratio, vorwiegend männliche Attribute, in den Hintergrund treten. Arkanum XI eröffnet den weiblichen Weg der Heldenreise, den gemeinsamen Nenner aller zweistelligen Großen Arkana.
»Wahren Frieden kann nur der finden, der Frieden mit dem Unfrieden schließt.«
Der Gehängte
Parzival findet der Legende nach erstmals die Gralsburg, doch er stellt dem leidenden König die falsche Frage, woraufhin er zurückgewiesen wird. HeldInnen finden sich in ausweglosen Situationen der Ohnmacht wieder. Wenn »nichts mehr geht…«, hat man die zwölfte Etappe der Reise erreicht. Mit gewohnten Mitteln kann man die Aufgabe nicht lösen, das Durchleben der Krise des Gehängten XII ist die notwendige Folge. Psychologisch kann die Umkehr, um die es gerade geht, durchaus als Midlifecrisis erlebt werden. Die Ursache läuft stets auf denselben Nenner hinaus: Man ist nicht bereit, seine Perspektive zu verlagern und sein Schicksal anzunehmen. Die Beine des Gehängten bilden eine 4, die Zahl des Materiellen, Rumpf und Arme ein Dreieck, Symbol für die Welt des Geistes. Erst, wenn sich diese Haltung um 180 Grad dreht, kann die Reise fortgesetzt werden. Odin hing umgekehrt an der Weltenesche Yggdrasil, um die magischen Runen zu erhalten und zum Weisheitsgott zu transformieren.

HeldInnen erkennen genau hier die große Chance, ihre veraltete Perspektive auf den Kopf zu stellen. Eine neue Sinnfrage nimmt Form an, die in eine andere Richtung zeigt als die materielle. Aus der Sackgasse kommt man nur, wenn die alten Ziele des Egos geopfert werden: Das Abgeben der Kontrolle ist die ungewohnte Ausrichtung zu neuen Horizonten. Helden mit nur einem Auge wie der nordische Weisheitsgott Odin sind das Symbol, dass sich der Blick nun nach innen richtet. Mit wachsender Erfahrung entsteht der Mut, das Opfer des Gehängten bewusst zu erbringen. Das Erleben einer neuen Freiheit bringt mit sich, dass der Stolz nun der Demut die Führung übergibt. Hierzu Aleister Crowley: »Lebe Dein Leben, wie ein Planet seine Bahn zieht, das ist Freiheit.«
Der Tod
Umgekehrt Aufgehängten fällt der Inhalt ihrer Taschen heraus, was als Vorspiel zur nächsten Station verstanden werden kann, denn Arkanum XIII, der Tod, lässt nicht mit sich verhandeln. Die Kombination von Gehängtem und Tod ist die Weichenstellung zum eigentlichen Einweihungsweg, hier werden die Leuchter umgestellt. Alle weiteren Etappen stehen für die sukzessive Drehung des Gehängten, bis wir ihn am Ziel der Reise, in Arkanum XXI erneut mit den Beinen eine 4 bilden sehen, die Arme wiederum lassen sich zum Dreieck verbinden. Nun jedoch ist die 4 unten. Die Lektion ist gelernt, denn man hat erkannt: Der Geist ist es, der die Materie regiert – nicht umgekehrt, wie man einst fest glaubte.
Die Quersumme III, die Herrscherin, wächst zu äußerer Fülle heran. Sie weiß, wann die Geburt stattfinden, was der Nachwuchs sein wird. Das Wachstum des Gehängten führt in die Tiefe (Spiritualität) und lässt völlig offen, wann was geschehen wird.
Der Einbruch der Nacht, der Abstieg in die Unterwelt beginnt mit der Begegnung mit dem Tod (gestorben, begraben, niedergefahren zur Hölle). Arkanum XIII klärt bedingungslos, dass niemand allmächtig ist. Doch findet der Tod des Tarots in der Mitte statt, nicht am Ende. »Stirb, bevor du stirbst«, und Du erfährst wahre Lebendigkeit. Die Verbindung von Tod und Gehängtem zeigt die Endlosschleife des Materialismus auf und natürlich ist es eine freie Entscheidung, ob man den Weg des Materialisten geht und den physischen Tod für das Ende des Lebens hält. Bis hierher kommt in der Tat jeder Mensch. Mit der Heldenreise hat diese Einstellung allerdings nicht allzu viel zu tun. »Stirb und Werde« lautet die Botschaft des 13. Arkanums, das den Abschied vom Lichten, vom bislang Bewussten zeigt. Der Tod begleitet uns lebenslang als der einzig wirklich sichere Ratgeber, was naturgemäß Demut mit sich bringt. Bei genauer Betrachtung der Karte ist das neue Leben, die Sonne, bereits im Hintergrund zu erkennen. Die Quersumme führt zurück zum Herrscher, der hier erkennt, dass er als oberster Diener seines Volkes zu handeln hat.
»Der Geist ist es, der die Materie regiert – nicht umgekehrt, wie man einst fest glaubte.«
Das menschliche Potenzial ist alles andere als nur lichtvoll, erst das Zusammenspiel von Licht und Dunkel lässt Farben entstehen. Die finstersten Karten des Tarots, Tod, Teufel und Turm stehen für die tiefste Nacht. Erst nach deren Durchqueren wird mit der Karte der Stern der Blick zum Nachthimmel wieder möglich. Höhepunkt des Abstiegs in die Unterwelt in unserer Kultur ist die Nachtmeerfahrt Christi. Doch auch eine andere Schilderung der Bibel, nämlich die von Jonas, erzählt uns eine symbolträchtige Nachtmeerfahrt: Jonas weigert sich, Gottes Auftrag zu folgen und nach Ninive zu reisen, um dort zu predigen. Er zieht es vor, auf einem Schiff zu flüchten, wird jedoch von den Seeleuten ins Meer geworfen (Gehängter), sodann vom Wal verschluckt (Tod bis Teufel = Nachtmeerfahrt), um zuletzt, wen wunderts, in Ninive wieder ausgespuckt (Turm) zu werden, um nun eben doch seiner Bestimmung zu folgen.

Die Mäßigkeit
Während der Durchquerung der Unterwelt würde man von der Finsternis verschluckt, erhielte man nicht die Orientierung eines Lichtscheins. Die Geschichten jener, die sich im Unbewussten verirren, dem Wahnsinn unterliegen oder schlichtweg nicht mehr aus der Unendlichkeit zurückkehren, sind zahlreich. Die nötige Führung, die Seelenführung, ist Thema der Karte XIV, Mäßigkeit, Mischung oder auch Kunst, der einzig hellen zwischen den dunklen. Sie stellt den gegengeschlechtlichen Seelenführer dar, der dafür sorgt, dass wir uns nicht im Chaos verlieren. Die hinter der menschlichen Realität stehende Ordnung sorgt für unerwartete Hilfe. Circe oder auch die Göttin Athene erteilen Odysseus wertvolle Ratschläge, ohne die er niemals wieder in seine Heimat zurückgekehrt wäre. Das andere Geschlecht, das uns in gewisser Weise immer fremd bleiben, das man niemals rein rational verstehen wird, begegnet den HeldInnnen hier als Anima und Animus. Wenn diese akzeptiert und insbesondere angenommen werden, erhält man den Zauberspruch. Die Wachsstöpsel, die Odysseus‘ Ohren verschließen, verhindern, dass er dem betörenden Gesang der Sirenen verfällt und sein Schiff kentert. Das Mischen der Unterschiedlichkeiten in der rechten Dosierung führt als (homöopathische) Essenz zur angestrebten Ganzheitlichkeit: Seelenanteile, die in ihrer Urform nicht nur fremd, sondern bisweilen sogar tödlich sind, können in ihrer essenziellen Dosierung nun integriert werden. Arsen ist ein tödliches Gift; in der rechten Potenzierung verabreicht wird es zum Heilmittel. Der Hierophant, Quersumme V, unterwirft sich als Lehrer nun selbst der höheren Führung (Chiron).
Der Teufel und der Turm
In finsterster Nacht steht man dem Teufel nun leibhaftig gegenüber, dem Sinnbild für all das, was man verurteilt und weit von sich weist. Der Geist ist aus der Flasche entwichen, und das Paradox, das die Lösung bringt, lautet, den Gegenspieler als Verbündeten zu erkennen. Seth, der größte Zauberer der ägyptischen Mythologie, ist das einzige Wesen, das dem Sonnengott Ra helfen kann, als dessen Barke in der Nacht steckenbleibt. Er, dessen Namen man nicht auszusprechen wagt, überlistet die Nachtmeerschlange Apophis, einen ultimativen Gegenspieler der lichten Ordnung, das Wasser des Nils, das sie sich zuvor einverleibt hatte, wieder auszuspeien. Dunkle Aspekte vieler Gottheiten bewachen als Drachen und sonstiges Getier den wertvollen Schatz des inneren Selbst. Wer Luzifer, den Lichtbringer, lediglich als das summum malum auf einen bösen, eigentlich überflüssigen und lästigen Teufel reduziert, bleibt stecken, seine Reise ist zu Ende. Wer die Kräfte der Finsternis jedoch als Teil des Schöpfungsplans respektiert, erwirbt das wertvolle Gut, findet hier das Kraut des Lebens. Wer den Mut besitzt, all dem, was man auf gar keinen Fall sehen will, endlich ins Auge zu blicken, erlebt Befreiung. Die verkaufte Seele der Märchen ist nicht länger abgespalten, sie war nur verdrängt und kann nun integraler Bestandteil des Bewusstseins werden.
Genossen in der Quersumme VI die Liebenden noch den Segen des Erzengels Raphael, treffen wir sie nun erneut, gefesselt am Sockel, auf welchem der gefallene Engel thront. Doch die Ketten um ihre Hälse sind so locker, dass sie sich umgehend befreien könnten. Arkanum XV lehrt, dass Schuld lediglich ein Gespenst ist. Nur die Selbstverurteilung kreiert die künstlichen Grenzen, die Menschen von Helden unterscheiden, die sich als bereitwillige Mitspieler für ihre Befreiung in Arkanum XVI, der Turm, öffnen. Dort hat sich der riesige Sockel des Teufels ins Unermessliche aufgebläht und kippt nun oder die Krone der Selbstüberhöhung wird heruntergestoßen. Göttliche Führung erhält man nicht, wenn, wie beim Turmbau zu Babel, das Bauwerk lediglich mit materiellen Mitteln errichtet wird, wenn man nur von unten nach oben will. Die Krone des Egos kappt die Verbindung, sie muss beseitigt werden, freiwillig oder im Zuge einer Apokalypse. Die Macht, wie die Kabbala es ausdrückt, steigt zu jenen herab, die sich für sie öffnen. Die Prinzessin küsst den Frosch, anstatt ihn an die Wand zu schmettern – und plötzlich steht der Traumprinz vor ihr. Dornröschen wird gerade aus ihrem 100 Jahre währenden Schlaf wachgeküsst. Sie hat ihre Hausaufgaben bereits im Vorfeld erledigt, indem sie die Chance der Quersumme VII, der Wagen, ergriff und die dunklen Sphingen, Schatten der vier Elemente, integrierte. Damals fehlte ihr noch die Reife, doch sie folgte ihren Gefühlen und erliegt dadurch nicht der Versuchung der Hybris. Sie kommt der Sonne nicht zu nahe wie Ikarus oder Phaeton, die abstürzen, weil sie zwar dem Lauf der Sonne, des Höheren Selbst folgen, dem Schatten, dem Dunkel jedoch nicht den nötigen Respekt zollen.

Der Stern und der Mond
In Schöpfungsgeschichten lesen wir »Es werde Licht«. Das »Fiat Lux« kann jedoch nur sichtbar werden, weil es sich von der dunklen Nacht abhebt: Ohne Dunkelheit kein Licht, lautet die Botschaft des Arkanums XVII, der Stern. Wer sich von der Begrenzung des Egos, der Turmetappe befreit hat, kann den Himmel und die dort leuchtenden Sterne wieder sehen. Erst in der dunklen Nacht der Seele wird es möglich, seinen Stern zu erblicken und diesem zu folgen. Neue Visionen zeigen sich jetzt und scheinen ins Bewusstsein herein. Die Botschaften der Götter verschaffen den HeldInnen Einblick in die kosmische Ordnung. Wer in dunkelster Nacht nach oben blickt, anstatt sich von der Finsternis verschlingen zu lassen, erhält neue Orientierung mit der stärksten Hoffnungskarte des Tarots. In der tiefsten Nacht ist die Dämmerung am nächsten, neue Möglichkeiten zeigen sich, die den bisherigen Rahmen außer Kraft setzen. Die Quersumme VIII lehrte mittels Karma die Gesetze der materiellen Welt, nun ist es die Intuition, die sich an den Gesetzen des Universums orientiert.
»Wer die Kräfte der Finsternis jedoch als Teil des Schöpfungsplans respektiert, erwirbt das wertvolle Gut, findet hier das Kraut des Lebens.«
In der Morgendämmerung des Arkanums XVIII, der Mond, ist die Gefahr am höchsten, sich zu verirren und das Ziel aus den Augen zu verlieren. Wer im Innersten des Labyrinths seine Aufgaben löste, sollte während des Rückwegs unbedingt Orientierung haben. Einen Faden etwa, den Theseus auf Anraten der Ariadne abspulte und der ihn nun wieder zum Ausgang leitet. Lots Frau erhielt strikte Anweisung, nicht zur untergehenden Stadt Sodom zurückzublicken. Als sie es dennoch tat, erstarrte sie zur Salzsäule. Persephone aß in der Unterwelt den Kern eines Granatapfels und durfte deshalb für alle Zukunft lediglich die Hälfte ihrer Zeit im Lichten verweilen. Wer auf dem Rückweg aus der Unterwelt unachtsam ist, dem wird das so schwer eroberte Kraut des Lebens gestohlen. Der Mond, XVIII, ist der Geburtskanal zu einer neuen Ebene des Seins, weshalb die Angst gerade übermächtig zu sein scheint. Man hat keine Vorstellung davon, was einen erwartet, wenn man zu neuem Leben erwacht. Die Kabbala beschreibt diesen Schritt als die Überquerung des Abgrunds, die nur gelingt, wenn: »Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine, denn Dein Wille ist der meine.«
Erzähle einem Fisch, das Leben verlässt das Wasser, um sich von nun an auch auf dem Land weiterzuentwickeln. Wer hier der Versuchung des Rückfalls unterliegt, wird kurz vor dem Ende seiner Reise doch noch die Neugeburt, die Wiederauferstehung verhindern. Dem höheren Ruf auch dann zu folgen, wenn die Gefahren des Unbekannten lauern, ermöglicht die Rückkehr zum Tageslicht. Lautete die Aufforderung der Quersumme IX, des Eremiten, sich selbst zu entdecken, gilt es hier, sich selbst bedingungslos treu zu bleiben.

Das Ziel der Reise
Die letzten drei Stationen lassen sich zum »Ziel der Reise« zusammenfassen: Der neue Tag bricht an, wenn die Sonne, Arkanum XIX, mit neuer, verjüngter Energie erstrahlt. Die Auferstehung, die Befreiung aus materieller Anhaftung findet in Arkanum XX statt, dem Jüngsten Gericht. Die HeldInnen wachsen mit ihren höheren Herausforderungen, sie übernehmen mehr Verantwortung, erhalten mehr Einfluss: Haben wir tatsächlich unsere Reise selbst erlebt und unsere Aufgaben praktisch gelöst oder stammt unser Wissen lediglich aus Seminaren, deren Inhalt wir auswendig gelernt rezitieren? Sind wir als ZaunreiterInnen in beiden Welten beheimatet, weil wir Licht und Dunkel gleichermaßen als Teil der Schöpfung erkennen? Wahren Frieden kann nur der finden, der Frieden mit dem Unfrieden schließt. Nur wer beide elektrischen Pole sauber hält, kann den Strom eigenverantwortlich fließen lassen.
Einst, als Arkanum 0, eröffnete ein naiver und unbewusster Narr den Reigen, indem er auszog und Weisheit suchte. Nun hilft er, ohne Dank zu erwarten, weil dies zu seiner Natur geworden ist. Die Frage, die Parzival am Ende seiner Queste dem leidenden König Amfortas in der Gralsburg stellt, ist von Anteilnahme geleitet: »Wie geht es Euch?«
Die Heldin betrachtet das Leben nun erneut durch die Augen eines Kindes. Unschuldig, doch nicht mehr als unbewusster Narr, hat sie sich während ihrer Reise zum weisen Toren gewandelt. Ein großer Meister drückte dies einst mit den Worten aus: »Ins Himmelreich kommt, wer wieder Kind geworden ist.« Im letzten Arkanum, XXI die Welt, hat sich der runde Kreis zur Ellipse erweitert, das Du ist integriert, beide Pole haben sich zur Einheit verbunden – nur um eine neue Runde auf der Spirale des Lebens zu beginnen, wenn der Narr wieder ins Leben springt.


Zum Autor
Armin Denner, Jahrgang 1955, beschäftigt sich seit 1986 mit Tarot und den Hintergründen Kabbala und Alchemie. Seit der Jahrtausendwende leitet er das Tarotproject in Augsburg.
Auswahl seiner Bücher: Der Tarot-Lehrgang, Vom Chaos zur neuen Ordnung, Das 1mal1 des Tarots.
Folge Armin auf YouTube: Tarot-Alchemie-Kabbala
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