Barbara Stützel

Barbara Stützel – Gemeinschaft als Entwicklungsweg

Welche persönlichen Fähigkeiten zu mehr Verbundenheit beitragen

Wir Menschen sind mitfühlende, intelligente, kooperative Wesen. Und wir haben gleichzeitig ein Gesellschaftssystem geschaffen, in dem Ausbeutung und Konkurrenz dabei sind, das Leben auf der Erde nachhaltig in eine Katastrophe zu stürzen. Wie kommen wir aus dieser Situation wieder heraus? Die Systeme sind zu komplex und der Einzelne ihnen gegenüber scheinbar ohnmächtig. Und doch, wer soll etwas ändern, wenn nicht wir? 

In einer bewusst gelebten Gemeinschaft haben wir die Gelegenheit, zu forschen, wie das gesellschaftliche Paradigma sich in uns selbst widerspiegelt und wie Veränderung geschehen kann. 

Meine Erfahrungen berichte ich aus der ZEGG-Gemeinschaft (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung), einer Lebensgemeinschaft in der Nähe von Berlin, in der etwa 100 Menschen seit 1991 (und teils auch schon vorher) miteinander leben und forschen. Eine Lebensgemeinschaft ist ein Mikrokosmos, ein komplexes System verschiedenster Individuen und Bedürfnisse. Und in jeder Gruppe von Menschen sind bereits alle Themen des Menschseins angelegt. Wenn wir also verstehen wollen, was es im Inneren braucht, um im Äußeren kooperativer und verbundener zu handeln, können wir dies in einer kleinen Gruppe lernen und in dieser überschaubaren Größe versuchen, umzusetzen. Dies ist unser Anliegen im ZEGG. Wir widmen uns regelmäßig der Erforschung der tieferen Schichten unseres Miteinanders: Welche inneren Anteile führen zu Kooperation und Vertrauen und welche zu Angst und Konkurrenz, wo spüre und kreiere ich Verbindung oder wie erschaffe ich durch meine Gewohnheiten und mein Verhalten Trennung?

Für diese Forschung nutzen wir das ZEGG-Forum, Aufstellungen und verschiedene andere Formen von Innenarbeit wie Meditation, Gewaltfreie Kommunikation, Prozessarbeit etc. Die kollektive Forschung hilft: Denn nur mithilfe der Blicke und Spiegel der anderen kann ich meine eigenen blinden Stellen wahrnehmen. Was haben wir herausgefunden? Ein lebendiges verbundenes Miteinander wird durch Präsenz, Resonanz, Feedback, Selbstverantwortung und Miteinander-Lernen gestärkt – und daraus entsteht Synergie. Diese Aspekte möchte ich im Folgenden ausführen.

Präsent sein

Im ZEGG trainieren wir immer wieder Präsenz. So starten wir viele Treffen mit Stille oder gemeinsamem Singen, einem »Ankommen« im Körper oder auch einer emotionalen Eincheckrunde. Wir versuchen, uns zunächst miteinander zu verbinden mit dem, was gerade in jeder Einzelnen lebendig ist. Erst wenn wir uns so miteinander eingeschwungen haben, beginnen wir, thematisch zu arbeiten. So können wir leichter mitbekommen, wenn Energien unbewusst den Raum dominieren, die dort nichts zu suchen haben. Dies kann auch schon mal heißen, jemandem für ein paar Minuten ein Ohr zu leihen und mitzufühlen bei dem, was diese Person gerade bewegt. Meist ist es danach für diesen Menschen leichter, seine Themen für die Dauer des Treffens zu »parken«. Und wenn nicht, wissen wenigstens alle inklusive der aktivierten Person, dass nicht alle Reaktionen zu den Themen gehören, die im Treffen bearbeitet werden.

»Verantwortung für meine Präsenz im Kontakt zu übernehmen, heißt dann auch mal, eine Grenze zu setzen.«

Präsent werden heißt ja auch, mir bewusst werden, wenn ich es nicht bin. Manchmal wirbeln mich Dinge emotional durcheinander, oder ich bin einfach zu gestresst oder erschöpft, um etwas Neues aufzunehmen. Denn in Gemeinschaft mit vielen Menschen leben heißt auch, dass viele Themen gleichzeitig da sind. Verantwortung für meine Präsenz im Kontakt zu übernehmen, heißt dann auch mal, eine Grenze zu setzen. »Jetzt gerade kann ich nicht offen sein, ich brauche erst etwas anderes.«

Barbara Stützel

In Gemeinschaft erleben wir mit denselben Menschen die verschiedensten Situationen – als Kolleg:in, Mitbewohner:in, Gemeinschaftsmitglied. Wir sind Freunde, wir kennen uns. Wenn eine Konfliktsituation auftaucht, ist einfach nur »recht haben – und mich damit aus dem Kontakt abwenden« – keine Option. Wenn ich also bemerke, dass die Menschen, mit denen ich zusammenlebe und die ich schätze, ganz anders auf eine Situation reagieren als ich, ist die nächste Schlussfolgerung, dass meine eigene Wahrnehmung genauso subjektiv ist, wie ich die der anderen einschätze. (Es sei denn, ich verschließe mich und weiß es besser. Diese Haltung zerstört allerdings auf Dauer die Gemeinschaft.)

»Wenn ich dann neugierig mit den anderen in einen Austausch komme, wie ihre Wirklichkeit aussieht, entsteht Kontakt.«

Zur Präsenz gehört also immer, mich für die Möglichkeit zu öffnen, dass auch meine eigene Wahrnehmung nur gefiltert ist und nicht der Wirklichkeit entspricht. Wenn ich dann neugierig mit den anderen in einen Austausch komme, wie ihre Wirklichkeit aussieht, entsteht Kontakt. Und wenn wir dann noch anfangen zu forschen, warum wir eigentlich so denken, wie wir denken, landen wir bei früher gemachten Erfahrungen, aus denen sich bestimmte Konzepte und Bedürfnisse entwickelt haben. Unser Gegenüber hat andere Erfahrungen gemacht und andere Schlüsse gezogen – und beide Arten, die Welt zu betrachten, bilden nicht die Wirklichkeit ab. Wenn ich mir dessen in der Tiefe bewusst werde, ändert sich meine Haltung zur Welt, und ich komme aus der bewertenden in eine fragende Haltung. Fragend neugierig zu sein, unterstützt es, die Gegenwart nicht mehr aus der Vergangenheit, den Konzepten oder bisher gemachten Erfahrungen zu definieren, sondern aus dem, was im Moment gerade wirklich geschieht.

In Resonanz kommen

Im Kontakt mit Menschen entsteht häufig eine Pendelbewegung – ich bin mit meiner Energie entweder beim anderen oder bei mir. Und wechsele zwischen beiden. Manche Menschen haben auch eine Tendenz, sich häufiger beim einen oder anderen Pol aufzuhalten.

Ein spannender Kontakt entsteht dann, wenn ich beim anderen und bei mir gleichzeitig sein kann; wenn ich genug Stabilität entwickelt habe, ganz bei mir zu bleiben, egal was für Energiebewegungen durch eine Situation oder andere Menschen an mich heranschwappen. Und wenn ich gleichzeitig genug Offenheit besitze, um den anderen wahrzunehmen, ohne mich in ihm zu verlieren. Diese Fähigkeit nenne ich Resonanz, etwas in mir gerät in Schwingung mit dem anderen, weil beides gleichzeitig präsent ist. Auf dieser Ebene kann ich auch Mitgefühl für andere entwickeln – also mit dem anderen fühlen, ohne meine eigene Stabilität zu verlieren. Mitgefühl ist nicht dasselbe wie Mitleid, denn beim Mitleid werde ich oft vom Schmerz des anderen so eingenommen, dass ich ihn undifferenziert übernehme, also mit dem anderen in seinem Schmerz wegschwimme.

Mitfühlen dagegen bedeutet eher, die Gefühle des anderen in mir schwingen zu lassen. Wahrzunehmen, dass diese Person traurig ist, ängstlich oder wütend, und ihr dafür einen Resonanzraum zu bieten. Auch dies kann ich nur, wenn ich selbst innerlich stabil bin, denn dann schwinge ich zwar mit, aber werde nicht davon überwältigt. Ich erinnere mich an ähnliche Gefühle in mir, aber aktiviere sie nicht neu.

Feedback geben und nehmen

Um bewusst in Resonanz zu kommen, unterstützt es, wenn wir unsere Innenvorgänge miteinander teilen. Hierzu gehört als Königsdisziplin auch das bewusst gegebene Feedback, bei dem wir mit unserem Gegenüber teilen, was er oder sie in uns auslöst. Feedback wird am ehesten genommen, wenn die vorigen Schritte gegeben sind, wenn also sowohl ich als auch mein Gegenüber präsent sind und so weit stabil und offen füreinander, dass wir miteinander in Resonanz sind.

Barbara Stützel

Gutes Feedback geben hat zur Voraussetzung, dass ich in Verbindung kommen will. Früher habe ich, wenn mich in einer Situation etwas störte, dies nicht kommuniziert, aus Angst, die Verbindung vom anderen zu mir zu zerstören. Erst nach und nach habe ich wahrgenommen, dass ich damit das Gegenteil von dem erreiche, was ich mir wünsche, denn das Ungesagte blieb in mir stecken und störte die Verbindung. Wenn ich hingegen mitteile, was das Verhalten des anderen in mir auslöst, kann es Verbindung schaffen. Vor allem dann, wenn ich weiß, dass ein Teil meiner emotionalen Reaktion auch aus meiner eigenen Geschichte kommt und ich so die Verantwortung für die Reaktion bei mir behalte, dem anderen also nicht die Schuld daran gebe.

»Man kann nicht nicht kommunizieren.«

Wenn wir wach und in Resonanz sind, können wir auch passives, möglicherweise sogar unbewusstes, Feedback lesen, denn wie schon Watzlawick sagte: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« So nehmen wir im Alltag sehr viel bei anderen wahr – ein Teil davon ist von der Stimmung und den Filtern der anderen geprägt, ein Teil ist aber möglicherweise auch eine Reaktion auf unser Verhalten. Wenn mir also eine bestimmte Reaktion häufig begegnet, ist es gut, zu überprüfen, was in mir und meinem Verhalten diese Reaktion auslöst. In einem vertrauensvollen Setting (mit Präsenz, Stabilität und Offenheit aller Beteiligten) kann ich dies nachfragen und so etwas über mich erfahren, denn oft schwingen ja unbewusste Anteile im Verhalten mit, und wir können uns durch Feedback dessen bewusster werden.

Feedback ist also ein Teilen von Innenvorgängen im Miteinander, wir informieren uns gegenseitig, was in uns geschieht. In unserer Lebensgemeinschaft kreieren wir dazu immer wieder Räume, sei es individuell direkt nach Prozessen im ZEGG-Forum, als soziokratisches Evaluationsgespräch in den Arbeitsbereichen oder als Withhold Sharing1übersetzt »etwas Zurückgehaltenes teilen« – Übung in der Menschen gegenseitig Dinge aussprechen, die sie am Kontakt mit dem anderen hindern. Meist verändern sich diese Dinge alleine durch das Aussprechen und können losgelassen werden, so werden kleinere Störungen in Beziehungen aufgelöst. im kollektiven Prozess. Und da das Feedback-Geben ein Teil unserer Kultur ist, natürlich auch immer wieder im Alltag.

Miteinander-Lernen

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, an dem ich als Kind verstanden habe, dass nicht alle Menschen Deutsch sprechen und dass für die anderen ihre Sprache so vertraut ist wie für mich meine. Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, und es war eine tiefe Erkenntnis, dass die Welt in den Augen anderer ganz anders ist. Vielleicht ist diese Erkenntnis der Auslöser dafür, dass ich gerne Sprachen lerne. Ich bin immer wieder fasziniert, dass ich dadurch in anderen Kulturen Menschen besser fühlen kann und völlig neue Perspektiven lerne.

Genauso ist es inzwischen, wenn ich die Innenvorgänge anderer Menschen mitbekomme, sei es im tiefen Teilen oder im Feedback-Bekommen. Mich begeistert, welche Vielfalt an Perspektiven und Möglichkeiten sich da auftun, auch im Bild, wer ich eigentlich selbst bin. Denn wir Menschen können ohne den Spiegel und die Augen der anderen nur einen Teil von uns selbst wahrnehmen. (Martin Buber: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«)

Eine Voraussetzung dafür, dass Feedback vertrauensvoll zu Wachstum führen kann, ist eine Akzeptanz von Fehlern und Schatten. Denn wir scheuen ja Feedback aus Angst, dass es zu Trennung führen wird, wenn andere erkennen, dass ich Fehler habe. In der gesellschaftlichen Kultur ist verankert, dass wir ein möglichst glattes Bild von uns nach außen stellen, das signalisiert: »Ich habe das Leben im Griff, ich brauche nichts von anderen.«

Barbara Stützel

Aber dieses Bild stimmt für die wenigsten Menschen, alle haben Fehler und Traumata, sind verletzlich und verletzt. Wir brauchen an diesen Stellen Einfühlung, Wahrnehmung und ein Miteinander-Lernen. In Gemeinschaft ist es weniger möglich, dieses »perfekte« Bild aufrechtzuerhalten, denn wir bekommen uns in allen Lebenslagen mit, auch in den verletzlichen und verletzten. Warum sollten wir uns nicht gleich darauf einigen, dass wir dabei gemeinsam in einem Boot sitzen und damit gemeinsam umgehen? Es ist leichter, wenn ich weiß, dass andere um meine Schwachstellen wissen und mir helfen, damit umzugehen, als dies alleine zu tun. Und umgekehrt: Ein Verhalten löst bei mir weniger Widerstand aus, wenn ich weiß, dass die andere Person dieses Verhalten an sich auch nicht mag und gerne ändern würde.

In einem vertrauensvollen Umfeld, das Fehler erlaubt, ist es leichter möglich, Dinge auszuprobieren, Potenziale zu entfalten, die Stimme zu erheben. Denn ich brauche weder perfekt zu sein noch brauche ich schon alles zu wissen. So kann ich leichter meine Wahrnehmung und meine Fähigkeiten einbringen – zum Wohl der anderen. Dass wir uns wirklich als ganze Menschen beteiligen, braucht nicht nur eine Gemeinschaft, sondern auch eine lebendige Demokratie. Gleichzeitig ist dazu die Fähigkeit gefragt, die eigene Meinung zu relativieren, die anderen genauso in Betracht zu ziehen und zu lernen, aus verschiedenen Perspektiven zu denken. Gerade bei der Entscheidungsfindung ist es notwendig, die Perspektive der anderen zu verstehen und die des Ganzen aufzusuchen. So kann ich durchaus mal eine Entscheidung mittragen, die ich persönlich nicht gut finde, weil ich weiß, dass sie für das Ganze gerade die stimmigste ist.

Synergie

Wenn wir fähig werden, uns selbst und die anderen gleichzeitig wahrzunehmen und in Kommunikation darüber zu sein, was in den verschiedenen Innenräumen geschieht, entsteht eine dritte Realität – das Wir. Dies ist schon in einer Paarbeziehung aufregend. Denn es geschehen Dinge, die weder aus dem einen noch aus dem anderenhätten entstehen können, sondern die durch die Interaktion und die Beziehung passieren. Und wenn beide sich gemeinsam für das öffnen, was die Situation im Feld noch an Informationen bereitstellt, entsteht etwas Neues.

Wenn dies dann nicht nur mit zwei Menschen geschieht, sondern mit vielen, wird es noch spannender. In meiner Gemeinschaftserfahrung habe ich immer wieder solche Sternstunden erlebt. Dazu muss man nicht unbedingt an einem Ort zusammenleben. Aber es braucht eine innere Ausrichtung, auf bewusste Art miteinander lernen zu wollen.

»Die Erfahrung, dass Synergie etwas Neues kreiert, gibt mir persönlich Hoffnung für die Krisen dieser Welt.«

Die Erfahrung, dass Synergie etwas Neues kreiert, gibt mir persönlich Hoffnung für die Krisen dieser Welt. Nicht, dass es schon eine Antwort wäre oder wir diese Antwort kennen würden. Aber die Vorstellung, dass viele Menschen auf einer tieferen Ebene wirklich kooperieren, so miteinander denken und spüren, dass Neues entsteht und dass wir dann eher aus dem Ruf der möglichen Zukunft handeln als aus den blinden Flecken der Vergangenheit – diese Vorstellung gibt mir Hoffnung, dass wir dann auch die notwendigen Antworten finden werden.

Barbara Stützel

Barbara Stützel ist psychologische Psychotherapeutin und Sängerin, seit 2001 Mitglied der ZEGG-Gemeinschaft. Sie ist leidenschaftliche Sucherin nach Intimität und Wahrheit mit den Stationen: Welt erkunden (lange Aufenthalte in Lateinamerika), Menschen erkunden (Psychologie, Leben in Gemeinschaft), sich selbst erkunden (Spiritualität, Yoga). In Seminaren und der Gemeinschaftsberatung kreiert sie Räume, in denen in Präsenz und Kontakt Neues entstehen kann (Forum, Gemeinschaftskurse, Yoga und Gesang).

www.zegg.de

www.durgas-tiger-school.com

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