Dr. Lars Jaeger – Wissenschaft in der Kritik, Esoterik und Okkultismus im Hoch

Die fatale Logik eines Zeitgeistes

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Wissenschaft befreite uns von vielen Formen des Leids, aber sie bringt auch den Verlust absoluter Gewissheiten mit sich, da jedes Wissen hinterfragt werden kann und muss. Esoterik und Spiritualität sollen zum Ausgleich absolute Aussagen liefern, die fest und in sich geschlossen sind. Leider öffnet dies auch die Tür für VereinfacherInnen und PopulistInnen. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Biologie und der künstlichen Intelligenz brauchen wir jedoch Spiritualität dringender denn je, um unsere Rolle als Menschen zu verstehen.

Geht es um tiefes Wissen oder bedeutungsvolle Erkenntnisse, eine erfolgreiche Lebensgestaltung oder gar allgemeine Lebensweisheit, so scheinen die Naturwissenschaften in der öffentlichen Wahrnehmung einen eher schweren Stand zu haben. Viele Menschen, die nach tiefem Wissen, Gelehrtheit, Einsicht in das Geheimnisvolle der Welt oder auch nur Lebensfreude suchen, stöbern heute eher in Büchern über östliche Weisheiten oder westliche Esoterik, als sich ein Lehrbuch der Physik oder Biologie zu Gemüte zu führen. Sie lesen dann lieber »Das Tao der Physik« als »Die Physik«, beschäftigen sich lieber mit quantenphilosophisch begründeter Spiritualität oder Quantenheilung als mit den Aussagen der Quantenphysik selbst. Viele Menschen applaudieren (mit gutem Recht), wenn spirituelle Lehrerinnen und Lehrer formulieren, dass das Ziel eines erfüllten Lebens sei, menschliches Leiden zu vermindern, Freude zu finden und die Natur unseres Geistes zu erfassen. Zugleich führt aber die Bemerkung, dass die Wissenschaft seit ihrer Begründung ähnliche Ziele hatte – und dabei je nach Betrachtungsweise weitaus Bedeutenderes erreicht hat –, bei den meisten Zeitgenossen bestenfalls zu einem müden Schulterzucken, oft jedoch zu heftigem Widerspruch bis hin zur Anschuldigung der Ignoranz in Anbetracht all der globalen Probleme, die doch die Wissenschaft verursacht hat. Oder er oder sie wird gar als schnöder Materialist bezeichnet, der nun auch die Sphäre höchster geistiger Erkenntnisse der Kälte wissenschaftlicher Rationalität aussetzen will. Auch im politischen Spektrum hat es die Wissenschaft oft schwer. Vor allem rechtspopulistische Politiker wie zum Beispiel der Zürcher SVP-Politiker Roger Köppel haben erkannt, dass es lohnender ist, sich auf ideologische Glaubenssysteme zu stützen als auf wissenschaftliche Rationalität – was ihn u. a. den von Wissenschaftlern erfassten Klimawandel als eine »Modebewegung« von »Betrunkenen« bezeichnen lässt.

Der Verlust des Absoluten

Man muss sich fragen, warum die Wissenschaft bei vielen Menschen heute einen derartig schweren Stand hat. Ist sie vielleicht Opfer ihres eigenen Erfolges geworden? Nehmen die Menschen die Erfolge der Wissenschaften wie selbstverständlich hin, aber zeigen dort, wo sie noch kein vollendetes Wissen erreicht hat (und das hat sie ja nahezu nirgendwo), mit dem Finger auf sie? So wird mitunter die wissenschaftliche Meisterleistung einer unfassbar schnellen Entwicklung und Herstellung eines Corona-Impfstoffes bereits mit einer Selbstverständlichkeit aufgenommen, die an Gleichgültigkeit bezüglich der Leistung von Gen- und Medizinforschern grenzt.

»Man muss sich fragen, warum die Wissenschaft bei vielen Menschen heute einen derartig schweren Stand hat.«

Vielleicht sollte man sich einmal die unerträglichen Schmerzen bei der Behandlung einer Zahnwurzelinfektion vorstellen, die Menschen im 13. Jahrhundert erlitten, um zu einer geeigneten Wertschätzung zu kommen, wie stark die Wissenschaften unser Leben verbessert haben. Und wer lässt sich heute noch von dem »animalischen Magnetismus« beeindrucken, mit dem noch im 18. Jahrhundert der Esoteriker Franz Anton Mesmer unter Verwendung einfacher elektrischer und magnetischer Phänomene bei einer immensen Menge von Menschen Erstaunen und Hingabe erzielte? Oder man stelle sich einfach nur vor, es wären noch keine Impfstoffe gegen Covid-19 in Sicht.

»Wissenschaftliche Erkenntnisse sind keine Dogmen.«

Betrachtungen wie diese lassen uns erkennen: In materieller und lebensalltäglicher Hinsicht ist unsere Welt heute wie von keiner anderen Kraft vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt geprägt. In geistiger, intellektueller und emotionaler Hinsicht wartet die Macht der Wissenschaft dagegen mit etwas ganz anderem auf: mit dem Verlust der Komfortzone absoluter Gewissheiten. Qua der wissenschaftlichen Methode kommen wissenschaftliche »Wahrheiten« immer auch mit der Möglichkeit der eigenen Falschheit. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind keine Dogmen, sie stehen vielmehr ständig auf dem Prüfstand, zum Beispiel durch Experimente und rationalen Diskurs; jederzeit können sie dann – je nach Faktenlage – verworfen und neu formuliert werden. Dies ist keine Schwäche, sondern, wie schon Galilei erkannte, die größte Stärke der Wissenschaften. Doch es ist paradox: Je mehr Wissen wir erlangen, desto weniger durften wir darauf hoffen, dass es eine letzte Wahrheit gibt. Der Preis für unseren Wissenszuwachs ist also hoch: Wir haben nun nichts mehr, woran wir uns für immer und ewig festhalten können.

»Der Preis für unseren Wissenszuwachs ist also hoch: Wir haben nun nichts mehr, woran wir uns für immer und ewig festhalten können.«

Dies aber bereitet den meisten Menschen große Schwierigkeiten. Daher besteht eine Faszination esoterischer und spiritueller Gedankengebäude darin, dass sie uns Menschen in die Lage zu versetzen verspricht, Zugang zu einem kompletten Wissen über die Welt und unser Leben zu erhalten, dass es also ein Wissens- (oder Glaubens-)system gibt, das alle Antworten über uns Menschen und die Welt, in der wir leben, bereithält. Das ist eine enorme Verheißung, die auf viele Menschen faszinierend wirkt, die nicht den beschwerlichen Weg der Wissenschaften über Unsicherheiten, Kritik und immer wieder jede Menge Rückschläge zu gehen bereit sind, die sich vielmehr nichts sehnlicher wünschen, als die (gemäß Max Weber) »durch wissenschaftliche Rationalität entzauberte Weltsicht« wieder spirituell aufzufüllen. Sprechen nicht zuletzt die Philosophen seit Jahrhunderten und Jahrtausenden vom »Absoluten« (Geist, Wissen, Sein etc.)?

Dabei werden oft auch wissenschaftliche Erkenntnisse verwendet (missbraucht), um esoterische Weltbilder zu stützen. So verlängert sich die Liste der Beteuerungen und Versprechungen, die mit dem Präfix »Quanten-« daherkommen – »Quantenheilung«, »Quantenresonanz«, »Quantenbewusstsein« – stetig, neuerdings auch »Quantenwirtschaft«. Durch die Verbindung von Quantenphysik und Spiritualität erhofft man sich Wunderheilungen, perfekte Liebesbeziehungen bis hin zur Erfassung der letzten Geheimnisse. Als intellektueller Pate der Quantenmystik dient dabei das Phänomen der Verschränkung: »Weit voneinander entfernte Quantenteilchen können physikalisch miteinander verbunden (verschränkt) sein.« Daraus wird dann: »Alles hängt mit allem zusammen.« Es sind solche Sätze, die die nach Mystik lechzenden Herzen der Esoteriker höherschlagen lassen.

Die menschliche Sehnsucht nach Gewissheit und Sicherheit

Die meisten Menschen überfordert eine Verzichtserklärung auf absolute Wahrheiten und auf Rückzugsgebiete im Substanziellen. Man stützt sich nun einmal gerne auf eindeutige Wahrheiten, klare spirituelle Grundlagen und unverrückbare Prinzipien. Was früher Gott war, ist heute der absolute Geist, eine substanzielle Grundstruktur, sind unverrückbare Naturgesetze, absolute Gewissheiten und nicht zuletzt auch immer gültige ökonomische, gesellschaftliche oder historische Gesetzmäßigkeiten, eine Nation mit bestimmten Geburtsrechten, eine Gesellschaft, in der »jeder seinen Platz hat«, ein fester Arbeitsplatz für das Leben und vieles andere. Wo solche Gewissheiten verloren gehen, entsteht Unsicherheit. Das war in den 1920er- und 1930er-Jahren nicht anders als heute. Dann füllen spirituelle, politische, soziale, religiöse und philosophische Vereinfacher und Populisten das Vakuum, das der Verlust alter Gewissheiten hinterlässt, mit ihren eigenen Unwahrheiten und Lügen. Hier wirken so mächtige wie bekannte Mechanismen der Selbsttäuschung und Selbstlüge. Bereits vor über 200 Jahren sprach Immanuel Kant von der »inneren Lüge« und beschreibt diese als »Unredlichkeit sich selbst gegenüber«. Es ist leichter, wie er schreibt, »sich blauen Dunst vorzumachen«, als den Widerspruch zwischen dem moralischen Anspruch und dem eigenen Denken und Tun zuzugeben. Kant spricht hier vom »faulen Fleck unsrer Gattung«.

Dabei ist die Freude an der Erfassung des Geheimnisvollen und dem Wissen über die Gründe des Weltdaseins wohl kaum irgendwo anders so groß wie in der Wissenschaft. Auf zutiefst beglückende Art und Weise befriedigt sie unsere nur allzu menschliche Neugier. Wissenschaftliche Erkenntnisse erlauben uns tiefe (wenn auch niemals endgültige) Einsichten in die Natur der Dinge oder die unseres Geistes und nicht zuletzt in die tiefste aller Fragen, die der englische Naturalist Henry Huxley bereits 1863 wie folgt formulierte: »Die Frage aller Fragen – das Problem, welches allen übrigen zugrunde liegt und welches tiefer interessiert als irgend ein anderes, ist die Bestimmung der Stellung, welche der Mensch in der Natur einnimmt, und seiner Beziehung zu der Gesamtheit aller Dinge.«

Doch auch der Spiritualität kommt heute eine enorme Bedeutung zu, allerdings fernab von Esoterik und Okkultismus. 

Spiritualität in Zeiten von Umbrüchen und Veränderungen

Durch zunehmende und sich in den nächsten Jahren wohl noch weiter verstärkende Digitalisierung, Nano- und Quantentechnologisierung, Neurologisierung, Biologisierung und andere ‚-sierungen‘ mitsamt ihren technologischen Möglichkeiten werden wir als Menschheit einen historischen Umbruch erleben, der unser Selbstbild sowie unser Sinn- und Daseinsverständnis schon bald massiv verändert. Geht es um Fragen der Genmanipulation, Stammzellenforschung, künstlichen Intelligenz, virtuellen Realität oder der Herstellung synthetischen Lebens (um nur einige Entwicklungen zu nennen), sehen heute auch viele nicht-religiöse Menschen in der modernen Biologie und den Informationswissenschaften gegenwärtige Varianten des Goethe’schen Zauberlehrlings am Werk. Wir nehmen daher die Herausforderungen unserer modernen Welt immer mehr als Krisen wahr und fragen desperat nach kohärenten globalen ethischen Reaktionen auf Dinge wie Umweltzerstörung, Klimaveränderung, Überbevölkerung, Nahrungsengpässe, Wirtschaftskrisen und nukleare Bedrohung, allesamt Probleme, die kaum ausschließlich in einem wissenschaftlichen Diskursrahmen behandelt werden können, sondern größerer, eben auch spiritueller Bezüge bedürfen.

»Hier brauchen wir eine Spiritualität, die sich nicht gegen, sondern neben die Wissenschaft stellt.«

Diese werden umso wichtiger, als dass die neuen mächtigen und atemberaubenden Technologien auch den Menschen selbst, seine Biologie, seine Identität und sein Bewusstsein grundlegend verändern könnten. In Anbetracht dessen wird es vermutlich bereits in nicht allzu ferner Zukunft einen Moment geben, in dem sich die Spielregeln des menschlichen Lebens und Zusammenlebens fundamental verändern könnten. Sind wir darauf vorbereitet? Hier brauchen wir eine Spiritualität, die sich nicht gegen, sondern neben die Wissenschaft stellt. Denn Spiritualität umfasst eben auch Erfahrungen oder Vorstellungen, durch die man sich einem größeren Ganzen zugehörig fühlt, und kann uns daher eine tiefere geistige Dimension des Mensch-Seins eröffnen und den Weg zu einem umfassenderen, sinnbezogenen Verständnis unserer Existenz in dieser Welt zeigen. Sie umfasst dabei auch Werte wie Liebe, Mitgefühl, Empathie, Moralität, Intuition und meditative Einsichten – und zuallerletzt auch eine Frage, die der große Physiker Richard Feynman in einer für ihn so typischen Einfachheit und Klarheit formulierte: »Was ist der Sinn des Ganzen?«

So kommt mit den sich abzeichnenden wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen Spiritualität gerade in ethischer Hinsicht große Bedeutung zu, wenn wir uns als gesellschaftliches Kollektiv an den mit diesen Entwicklungen verbundenen geistigen und intellektuellen Herausforderungen nicht scheitern sehen wollen. Deshalb erwarten nicht wenige Menschen, dass bei der Beantwortung wichtiger Zukunftsfragen und der Diskussion um die Gestaltung kommender Technologien spirituelles Denken eine bedeutende Rolle spielen muss, und zwar im Sinne einer Verantwortung für intellektuelle und ethische Integrität.

Es muss also darum gehen, die Bedeutung beider, der Wissenschaft wie der Spiritualität, in ihrer Gegenseitigkeit für den Nutzen unseres menschlichen Daseins zu erfassen und mit ihrer Hilfe die Wesenszüge eines humanen und ethisch kohärenten Weltbildes aufzuzeigen. Dabei geht es um zweierlei, spirituelle Motivation in Form von innerer Klarheit in der ethischen Ausrichtung und Streben nach Wahrheit und um rationales, das heißt wissenschaftliches Denken. Entgegen weitläufiger Vorstellungen, die Spiritualität mit Okkultismus oder Obskurantismus in Verbindung bringen, befähigt uns eine geeignete Spiritualität zu einer besseren Rationalität und Redlichkeit in unserem Denken und Handeln. Sie wird zu etwas wie einem inneren Kompass, der unserem Geist eine innere Ordnung und Orientierung verleiht, die uns zu einer Autonomie führen, mit der wir uns auf das Essenzielle fokussieren können. In der ethischen Erfassung wissenschaftlichen Schaffens und spirituellen Denkens begegnen wir, wie wir es auch immer wenden, einer ihnen beiden gemeinsamen Dimension, die für unsere Zukunft von enormer Bedeutung ist. Auf sie könnte es ankommen.

Dr. Lars Jaeger

Dr. Lars Jaeger (geb. 1969) ist ein schweizerisch-deutscher Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller, Finanztheoretiker und alternativer Investmentmanager. Er studierte Physik und Philosophie an der Universität Bonn in Deutschland und der École Polytechnique in Paris und hält einen Doktortitel in theoretischer Physik, den er in Studien am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden erwarb, wo er auch Post-Doc-Studien unternahm. Sein neuestes Buch »Sternstunden der Wissenschaft« ist im Suedverlag erschienen. Blog: larsjaeger.ch

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