Dr. Pim van Lommel

Dr. Pim van Lommel – Bewusstsein jenseits des Körpers

Wissenschaftliche Erkenntnisse über das Phänomen der Nahtoderfahrungen

Sind Nahtoderfahrungen ein Beweis für die Kontinuität unseres Bewusstseins und die Reinkarnation in ein weiteres, neues physisches Leben? Forschungen in diesem Bereich belegen außerkörperliche Erfahrungen von Patienten während ihres klinischen Todes, die zum Teil mit Erinnerungen bis vor die eigene Geburt einhergehen. Das Erlebte führt dabei oft zu einer tiefgreifenden Transformation der Betroffenen.

Ronald Engert: Herr Dr. Pim van Lommel, Sie haben 1986 mit Ihrer Forschungsarbeit über Nahtoderfahrungen (NTE) begonnen und Sie sind bis heute aktiv am Forschen. Dies ist erstaunlich. Ich möchte mit einer statistischen Frage beginnen. Wie viel Prozent der Bevölkerung glaubt an Nahtoderfahrungen oder hat sogar eine Nahtoderfahrung erlebt?

Dr. Pim van Lommel: Nun, es wurden vier Studien über Überlebende eines Herzstillstands veröffentlicht, und der Prozentsatz der Patienten, die von einer Nahtoderfahrung berichtet haben, lag zwischen 15 und 25 Prozent. In der von meinem Team und mir durchgeführten Studie waren es 18 Prozent. Manche Untersuchungen aus Deutschland und den USA besagen, dass etwa 4,2 Prozent der Allgemeinbevölkerung in der westlichen Welt ein Nahtoderlebnis erfahren haben sollen. Wenn man dies auf die Gesamtbevölkerung Europas überträgt, wären es um die 600.000 Menschen in den Niederlanden, etwa 3,5 Millionen in Deutschland und in Europa insgesamt etwa 20 Millionen Menschen, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben.

Engert: Das ist eine außerordentlich hohe Zahl. Vor kurzem las ich einen Artikel, der sich dem Thema aus einer materialistischen Perspektive annäherte und in dem von 62 Fällen in den letzten 30 Jahren die Rede war. Ich war erstaunt, dass der Autor auf eine solch niedrige Zahl kommen konnte. Denn es liegt ein großer Unterschied zwischen Ihrer Einschätzung und der des Artikels.

Van Lommel: Ich nenne das vorsätzliche Ignoranz.

Engert: Es ist schwierig, in der konventionellen Medizin und Wissenschaft mit Erkenntnissen oder Aussagen über Nahtoderfahrungen (NTEs) Fuß zu fassen, da sie die Existenz der NTEs nicht anerkennen. Nahtoderfahrungen werden allgemein als unwissenschaftlich betrachtet, da sie nicht reproduzierbar und infolgedessen unbeweisbar sind. Was ist Ihre Antwort auf solche Kritik?

Van Lommel: Zunächst einmal stimmen viele Mediziner, Neurowissenschaftler, Philosophen und Kognitionswissenschaftler meinem Ansatz zu, dass das Bewusstsein nicht mit der Funktion des Gehirns zusammenhängt

»Zunächst einmal stimmen viele Mediziner, Neurowissenschaftler, Philosophen und Kognitionswissenschaftler meinem Ansatz zu, dass das Bewusstsein nicht mit der Funktion des Gehirns zusammenhängt.«

Das Hauptversprechen der materiellen Wissenschaft ist es, dass Phänomene objektiviert, dupliziert und falsifiziert werden müssen, um bewiesen zu werden. Und wenn sie das beweisen können, dann sind diese Fakten wahr. Wenn man jedoch über das Bewusstsein spricht, also über das, was Menschen fühlen und denken, lassen sich die Aussagen nicht objektivieren, nicht duplizieren oder falsifizieren, also nicht beweisen. 

»Wenn wir über das Bewusstsein sprechen, befinden wir uns jenseits der materiellen Wissenschaft.«

Wenn wir über das Bewusstsein sprechen, befinden wir uns jenseits der materiellen Wissenschaft. Dabei ist das Hauptproblem der meisten Wissenschaftler, dass sie damit nicht umgehen können. Sie haben Angst vor Aussagen über Nahtoderfahrungen, weil sie diese nicht objektivieren können. Daraus ergibt sich eine große Zurückhaltung sowie eine vorsätzliche Ignoranz und Vorurteile gegenüber dieser Art von Studien. Die Kritik basiert somit weder auf Fakten noch auf den wissenschaftlichen Studien, die über Nahtoderfahrungen durchgeführt wurden, sondern auf vorsätzlicher Ignoranz und Vorurteilen.

Engert: Was kann als echte Nahtoderfahrung betrachtet werden? Was sind Ihre Definitionsstandards?

Van Lommel: Eine Nahtoderfahrung ist die berichtete Erinnerung an eine Bewusstseinsperiode während eines besonderen Bewusstseinszustandes. Besondere Bewusstseinszustände bestehen aus bestimmten Elementen, zum Beispiel der Erfahrung, tot zu sein, eine Wahrnehmung, die sich auf außerhalb und oberhalb des leblosen Körpers erstreckt, durch einen Tunnel ins Licht zu gehen, verstorbene Verwandte oder Lichtwesen zu begegnen, einen Lebensrückblick, in dem man alles, was man in seinem bisherigen Leben erlebt hat, noch einmal erlebt, das Empfinden einer intensiven Verbindung zu anderen Menschen sowie sich der Vergangenheit anderer Menschen bewusst zu sein.

Dr. Pim van Lommel

Manchmal wird einem ein Ausblick auf zukünftige Ereignisse aus seinem Leben gezeigt, woraufhin man an eine Grenze gelangt und eine Stimme sagen hört: »Es ist noch nicht deine Zeit, du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen«, und danach kehrt die Person bewusst in den physischen Körper zurück. Diese Erfahrungen treten meistens während einer kritischen medizinischen Situation auf, wie dem klinischen Tod, also einem Herzstillstand, oder aufgrund eines Komas, einer Hirnblutung oder aufgrund von Verkehrsunfällen. Des Weiteren kann dieser Zustand durch einen hohen Blutverlust oder bei Frauen durch eine komplizierte Geburt ausgelöst werden. Kinder berichten von ähnlichen Bewusstseinszuständen, nachdem sie beinahe ertrunken wären. Gleichzeitig ist es interessant, dass solche Erfahrungen auch durch nicht lebensbedrohliche Situationen ausgelöst werden können, wie durch eine schwere Depression, eine existenzielle Krise während der Meditation oder eines Spaziergangs in der Natur. Auch Todesangst in Anbetracht eines drohenden Verkehrs- oder Bergunfalls kann diese Erfahrungen auslösen. Außerdem können nahtodähnliche Erfahrungen auch während der Endphase einer Krankheit eintreten. Diese werden als Visionen am Sterbebett oder als End-of-Life-Erfahrungen bezeichnet.

Alle von mir beschriebenen Arten von Erfahrungen können auftreten, doch um diese Erfahrungen zu erklären, brauchen wir einen wissenschaftlichen Ansatz, der unvoreingenommen die Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein beleuchtet. Dafür sind Studien über das Überleben eines Herzstillstands erforderlich, denn wir wissen, dass das Gehirn während eines Herzstillstandes nicht funktioniert. 

»Ein weiterer Aspekt von Nahtoderfahrungen ist, dass sie immer eine Transformation bewirken.«

Ein weiterer Aspekt von Nahtoderfahrungen ist, dass sie immer eine Transformation bewirken. Menschen verlieren nach einer derartigen Erfahrung die Angst vor dem Tod und erkennen, was im Leben wichtig ist, nämlich bedingungslose Liebe und Mitgefühl, die Annahme der eigenen negativen Aspekte, die wir alle haben, sowie die der anderen, das Gefühl von Verbundenheit mit anderen Menschen sowie die Liebe und Bewahrung der Natur. Der dritte Aspekt ist eine erhöhte Sensibilität. All diese Erfahrungen können als spirituelle Transformationserfahrungen bezeichnet werden.

Engert: Was schlagen Sie als wissenschaftliche oder rational nachvollziehbare Grundlage für Nahtoderfahrungen vor?

Van Lommel: Da eine Nahtoderfahrung eine subjektive Erfahrung ist, kann sie nicht bewiesen werden. Um ihre Frage zu beantworten, möchte ich den Aufbau unserer Studie erklären, welche noch immer die größte Studie rund um Nahtoderfahrungen ist. Im Jahr 1988 begannen wir mit der Untersuchung von 344 Überlebende eines Herzstillstands, wobei vier Jahre verstrichen, bis alle Patienten einbezogen wurden.

»Da eine Nahtoderfahrung eine subjektive Erfahrung ist, kann sie nicht bewiesen werden.«

Im ersten Teil der Studie stellten wir fest, dass 18 Prozent der Betroffenen während des klinischen Todes eine Nahtoderfahrung hatten. Sie alle berichteten von den klassischen Elementen, die ich bereits erwähnt habe. Darüber hinaus wollten wir herausfinden, ob eine Erklärung für die Ursache und den Inhalt der NTE vorliegt. Aus diesem Grund verglichen wir die 18 Prozent der Überlebenden mit einer Nahtoderfahrung mit den 82 Prozent der Überlebenden ohne Nahtoderfahrung und stellten fest, dass psychologische, pharmakologische oder physiologische Faktoren diesen Unterschied nicht erklären konnten.

Weder die Dauer des Herzstillstands noch die Dauer der Bewusstlosigkeit spielte eine Rolle – also ob sie für fünf Minuten oder drei Wochen bewusstlos im Koma lagen. Die Schwere des Sauerstoffmangels im Gehirn spielte ebenfalls keine Rolle bei der Erklärung des Auftretens der NTE. Alle Überlebende in unserer Studie sind aufgrund des Sauerstoffmangels im Gehirn bewusstlos gewesen, trotzdem berichteten 18 Prozent von ihnen von einer Nahtoderfahrung. Daneben untersuchten wir die verabreichten Medikamente und zogen psychologische Erklärungen, wie die Angst vor dem Tod, mit ein, doch auch diese Faktoren waren irrelevant. Weitere Faktoren wie das Vorwissen über NTEs, Bildung, Religionszugehörigkeit oder das Geschlecht hatten ebenfalls keine Bedeutung.

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Insofern lautet die wichtigste Schlussfolgerung unserer Studie, welche die bisher einzige Studie mit statistischer Analyse ist, dass keine medizinisch-wissenschaftliche Erklärung vorliegt, warum 18 Prozent der Betroffenen, die einen Herzstillstand überlebten, eine Nahtoderfahrung erlebten.

Der zweite Teil der Studie basiert auf aufgezeichneten Interviews, die nach zwei und acht Jahren mit zwei Gruppen geführt wurden: mit den Überlebenden einer NTE und mit Patienten, die den Herzstillstand ohne jegliche Erinnerung an die Zeit der Bewusstlosigkeit überlebt haben. Die Absicht war, festzustellen, ob die Veränderungen, die sich im Leben der Patienten nach einer solchen Erfahrung vollzogen und von denen sie berichten, auf den Herzstillstand oder auf die Nahtoderfahrung zurückzuführen sind. In diesem Teil der Studie zeigte sich, dass die klassische Transformation, mit ihren Merkmalen wie dem Verlust der Angst vor dem Tod, neuen Einsichten in die Bedeutung des Lebens und einer höheren Intuition, belegt, dass der objektive Aspekt, die Transformation, die subjektive Erfahrung bestätigt. Durch die statistische Analyse gelang es uns, zu beweisen, dass die Transformation nur auf eine NTE zurückzuführen ist. Somit ist dies der objektive Teil der subjektiven Erklärung.

Engert: Sie haben von Transformation gesprochen. Was geschieht dabei im Leben der Überlebenden?

Van Lommel: Die Verwandlung entspricht nicht dem Weltbild, in dem wir aufgewachsen sind, da sie eine völlig andere Sichtweise auf das Leben impliziert. Wenn die Überlebenden anschließend versuchen, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen, vor allem mit Ärzten, Krankenschwestern, Familienmitgliedern oder Partnern, hören diese ihnen entweder nicht zu oder entgegnen ihnen, dass diese nur Halluzinationen seien, sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten oder es eine Nebenwirkung von den Medikamenten sei. Infolge solcher Kommentare hören die Betroffenen auf, darüber zu sprechen. Ich nenne es ein spirituelles Trauma, das mit Depression, Heimweh und Einsamkeit einhergeht. Die Scheidungsrate dieser Patienten liegt bei 70 Prozent, weil der/die PartnerIn sagt, dass dies nicht mehr derselbe Mensch sei, mit dem er/sie früher verheiratet war. Es kann Jahre dauern, bis sie jemanden finden, dem sie davon erzählen können und der ihnen vorurteilsfrei und unkommentiert zuhört. Mit einem Mal hören die Betroffenen, dass ihre Erfahrung normal sei und dass sie sogar einen Namen hat, nämlich Nahtoderfahrung. Wohingegen sie zunächst glaubten, dass sie verrückt seien, weil niemand ihnen Glauben schenkte.

Sobald sie diese Erfahrung akzeptiert haben, haben sie die Möglichkeit, sie in ihr Leben zu integrieren, was wiederum 10 bis 20 Jahre dauern kann. Ich habe Menschen getroffen, die 50 Jahre lang über diese Erfahrung geschwiegen haben. 

Einmal führten wir eine Studie an 82 Überlebende einer Nahtoderfahrung durch, wobei der Abstand zwischen Befragung und Erlebnis zwischen sieben Monaten und 50 Jahren, wenn nicht mehr, wobei der durchschnittliche Abstand 24 Jahre betrug. Dabei fanden wir heraus, dass von diesen 82 Überlebenden – mit einem durchschnittlichen Abstand von 24 Jahren – die Hälfte immer noch nicht in der Lage war, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen. Ein Hauptgrund dafür ist die fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft, denn an den Universitäten und Schulen haben wir immer gelernt, dass das Bewusstsein ein Produkt der Hirnfunktion ist. Demzufolge sollten gemäß unseren aktuellen medizinischen und wissenschaftlichen Konzepten diese Erfahrungen unmöglich sein. Das ist das Problem. Es ist ein spirituelles Trauma, trotz des positiven Inhalts der Nahtoderfahrung.

Engert: Es ist erstaunlich, dass die Menschen nach diesen Erlebnissen die Angst vor dem Tod verlieren, sich stärker mit sich selbst und anderen verbunden fühlen oder den Sinn des Lebens finden. Welche konkreten Konsequenzen ziehen die Menschen aus einer Nahtoderfahrung?

Van Lommel: Die Art und Weise, wie wir leben, hängt von unseren Vorstellungen über den Tod ab. Wenn man glaubt, dass der Tod das Ende von allem ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man seine gesamte Energie in die materiellen Aspekte des Lebens investiert. Die Prioritäten sind dann zum Beispiel Geld und Macht. 

»Doch wenn man weiß, dass es eine Kontinuität des Bewusstseins nach dem Tod des Körpers gibt, wird man anders leben.«

Doch wenn man weiß, dass es eine Kontinuität des Bewusstseins nach dem Tod des Körpers gibt, wird man anders leben. Man wird achtsamer sein. Man fühlt sich mit allem verbunden. Man fühlt sich mit der Natur verbunden. Man fühlt sich mit dem Planeten Erde verbunden. Die Erfahrung des Todes wird auch als Erfahrung des Einsseins bezeichnet, weil man sich eins mit allem fühlt. Dies ist der Grund für die erhöhte intuitive Sensibilität, die Überlebende empfinden, wenn sie in ihren Körper zurückkommen. Das Verbundenheitsgefühl mit anderen Menschen sowie der Natur kann sehr lange anhalten.

Die Angst vor dem Tod kennen sie jetzt mit Sicherheit. Der Körper und der Geist verhalten sich dann anders, da sie ein klares Bewusstsein mit der Möglichkeit der Wahrnehmung und des Erkennens von Emotionen und Erinnerungen in einem Moment erlebten, in dem das Gehirn nicht funktionierte. Sie wissen nun mit Sicherheit, dass es eine Kontinuität des Bewusstseins gibt, und deshalb fürchten sie den Tod nicht mehr. Der Tod existiert in ihren Augen nicht mehr. Der Tod ist nur das Ende des Körpers, jedoch nicht das Ende des Bewusstseins.

Engert: Was halten Sie von dem Begriff »spirituell«? Würden Sie sagen, dass es sich in diesem Zusammenhang um einen Beweis für die spirituelle Dimension handelt?

Van Lommel: Ich verwende nie den Begriff spirituelle Dimension. Jedoch bezeichne ich sie als eine spirituelle Erfahrung, damit die Menschen verstehen, dass sie über eine gewöhnliche Erfahrung hinausgeht. Mein Ansatz lautet, dass das Bewusstsein weder im Gehirn lokalisiert ist, noch von ihm erzeugt wird, denn wir wissen von Überlebenden eines Herzstillstands, dass das Bewusstsein nicht im Gehirn lokalisiert ist. Man sieht, dass Patienten während eines Herzstillstands innerhalb von Sekunden das Bewusstsein verlieren. Der Blutfluss zum Gehirn, den man an der Halsschlagader messen kann, ist innerhalb einer Sekunde gleich null. Außerdem verschwinden augenblicklich die verschiedenen Körperreflexe, die ein Produkt der Hirnrinde sind, wie der Hirnstammreflex, Würgereflex und der Lidschlussreflex. Das Verschwinden der Reflexe und die starren, erweiterten Pupillen sind die klinischen Anzeichen.

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Somit wissen wir mit Sicherheit, dass bei einem Herzstillstand innerhalb von 10 bis 20 Sekunden das Gehirn nicht mehr funktioniert. Und eine erfolgreiche Wiederbelebung erfolgt nie innerhalb von 20 Sekunden. Diesen Zeitraum der Bewusstlosigkeit aufgrund des Kreislauf- und Atemstillstands nennt man klinischen Tod. Innerhalb von fünf bis zehn Minuten muss man mit der Wiederbelebung beginnen, ansonsten sterben die Gehirnzellen ab und die Menschen sterben. Der Herzstillstand ist somit eine kurze Phase der Reversibilität des klinischen Todes. Und er ist der erste Teil des Sterbeprozesses.

In unserer Studie berichteten die Menschen mit einer NTE, dass alles, was sie erlebten, gleichzeitig geschah. Zum Beispiel erlebten sie ihr gesamtes Leben noch einmal und gleichzeitig fühlten sich mit anderen Menschen verbunden. Alles geschieht augenblicklich. Und obwohl der Herzstillstand fünf Minuten andauerte, können die Überlebenden danach eine Woche lang über das sprechen, was in ihrem Bewusstsein vorgegangen ist.

Alles geschieht dabei zur gleichen Zeit und im gleichen Augenblick, das heißt, es ist ein Bewusstsein jenseits von Zeit und Raum. Vergangenheit und Gegenwart sind im selben Moment verfügbar. Dieses Prinzip können wir in Analogie zur Quantenphysik Nicht-Lokalität nennen. Nicht-Lokalität bedeutet, dass die verschiedenen Aspekte jenseits von Zeit und Raum miteinander verbunden sind. Deshalb nenne ich es ein nicht-lokales Bewusstsein. Das nicht-lokale Bewusstsein ist immer und überall. Es wird weder von unserem Gehirn erzeugt, noch ist es auf unser Gehirn oder unseren Körper beschränkt. Unser Gehirn fungiert als Filter, wodurch wir während des Wachbewusstseins nur einen kleinen Teil dieses nicht-lokalen Bewusstseins, wo alles aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügbar ist, empfangen. Es verhält sich wie mit unseren Erinnerungen, denn wir erinnern uns nur an einen Teil dessen, was wir in unserem Leben erlebt haben. Doch wenn Menschen außerkörperliche Erfahrungen machen, reichen ihre Erinnerungen von der frühen Kindheit bis hin zum Moment der Geburt. Manchmal reichen sie sogar bis vor die Geburt.

Aus diesem Verständnis heraus produziert das Gehirn kein Bewusstsein, sondern es ermöglicht es, Bewusstsein zu erfahren. Das Gehirn ist kein Produzent, sondern ein Vermittler. 

Engert: Können Sie den Unterschied zwischen Bewusstsein und Materie näher erläutern und inwiefern würden Sie der Aussage zustimmen, dass das Bewusstsein die Grundlage des materiellen Lebens ist?

Van Lommel: Bewusstsein ist die Grundlage des Universums. Nachdem ich fast vier Jahrzehnte lang das Bewusstsein sowie Nahtoderfahrungen studiert und viel über Quantenphysik, Philosophie, Kognitionswissenschaft und so weiter gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass das Bewusstsein zusammen mit der Information und der Energie ein fundamentaler Bestandteil des Universums ist. Alles geht aus dem Bewusstsein hervor. Unser Körper ist ein Produkt unseres Bewusstseins. Alles, was wir Materie nennen, existiert nicht wahrhaftig. Materie ist nur dieser 0,000001 Anteil. Sie ist Leere, doch diese Leere ist mit Information, Bewusstsein und Energie gefüllt. Meines Erachtens ist das Bewusstsein grundlegend, und es ist die Essenz dessen, was wir sind. Alles entsteht aus dem Bewusstsein.

Engert: Dies führt Konsequenzen für die Wissenschaft mit sich. Was denken Sie über die Methodologie und die Wissenschaftstheorie, also die wissenschaftlichen Methoden, wie man Erkenntnisse gewinnt?

Van Lommel: Ich denke, dass wir das wissenschaftliche Paradigma um die subjektive Erfahrung erweitern müssen. Dieses erweitere wissenschaftliche Paradigma nennen wir post-materialistische Wissenschaft, und es breitet sich weltweit aus. Die materialistischen Wissenschaften werden beibehalten, jedoch um den subjektiven Faktor erweitert.

Es besteht kein Widerspruch, empirische Forschung zu betreiben und subjektive Erfahrungen einzubeziehen, wie wir es bei unserer Studie über Nahtoderfahrungen getan haben. Viele weitere Wissenschaftler wie Psychologen, Psychiater, Neurowissenschaftler sprechen ebenfalls über Bewusstsein, obwohl es keinen objektiven Beweis dafür gibt. Das Messbare sind die sogenannten neuronalen Korrelate, jedoch nicht das Bewusstsein selbst, denn der nicht-lokale Aspekt des Bewusstseins liegt jenseits dessen, was wir hier in der physischen Welt messen können. Wir können die Aktivität des Gehirns messen, aber wir können nicht das Bewusstsein messen.

Engert: Welche Folgen ergeben sich daraus für unser Menschenbild?

Van Lommel: Zunächst betreffen die Folgen die Wissenschaft. Viele Neurowissenschaftler und andere Wissenschaftler stehen diesem neuen Ansatz skeptisch gegenüber, weil sie an dem materialistischen Dogma festhalten. Manche würden ihre Forschungsgelder und ihre Stellung an den Universitäten verlieren, wenn sie sagen würden, dass das nicht-lokale Bewusstsein schon immer existiert hat, dass es ohne Anfang und ohne Ende ist und es nicht von unserem Gehirn abhängig ist. Ich verstehe ihre Zurückhaltung, sich für dieses neue Paradigma in der Wissenschaft zu öffnen.

Dieses Paradigma beeinflusst auch unsere Lebensweise. Wenn man sich bewusst ist, dass alles miteinander verbunden ist, dann weiß man auch, dass alles, was man anderen antut – in positiver und negativer Hinsicht – auf einen selbst wieder zurückfällt. Dies trifft ebenfalls auf die Natur zu. Alles, was wir unserem Planeten, den Pflanzen und den Tieren antun, wird auf uns zurückfallen. Infolgedessen verändert es die Art und Weise, wie wir leben. Die meisten Menschen, die NTE erlebt haben, ernähren sich nun vegetarisch und leben bewusst mit der Natur. Sie sind sich des Wertes der Natur bewusst und wollen den Planeten Erde schonen, um die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder zu sichern, die auf diesem Planeten leben und überleben wollen. Das können wir von ihnen lernen.

Für mich waren die Menschen mit Nahtoderfahrungen die größten und wichtigsten Lehrer, da ich als junger Arzt selbst davon überzeugt war, dass das Bewusstsein ein Teil der Hirnfunktion ist. Ich lernte es in der Schule und später im Medizinstudium. Es dauerte eine Weile, bis ich davon überzeugt war, dass es eine Kontinuität des Bewusstseins jenseits von Zeit und Raum gibt und dass der Tod nur das Ende unseres Körpers ist, aber nicht das Ende unseres Bewusstseins, denn das Bewusstsein ist ewig.

Engert: Was halten Sie von der Idee der Reinkarnation? Ist sie möglich?

Van Lommel: Ja, ich schreibe darüber auch in meinem Buch. Meiner Meinung nach besteht die reale Möglichkeit, dass Reinkarnation existiert. In vielen Religionen, wie dem tibetischen Buddhismus, dem Hinduismus, dem Christentum und auch in verschiedenen indigenen Kulturen ist man davon überzeugt, dass das Bewusstsein nicht verschwindet, sondern eine Kontinuität des Bewusstseins existiert, und man nach dem Tod einen neuen Körper finden kann. Der Psychiater und Reinkarnationsforscher Ian Stevenson hat mehr als 2.000 junge Menschen untersucht, die im Alter von vier oder fünf Jahren spontan von ihrem früheren Leben erzählten. Nachdem er die Informationen überprüft hatte, stellte sich heraus, dass etwa 90 Prozent von dem, was diese Kinder berichtet hatten, stimmte. Spontane Reinkarnationsgeschichten kommen in der Regel nach einem gewaltvollen oder unerwarteten Tod ans Licht, zum Beispiel nach einem Mord oder dem Tod eines Soldaten. Außerdem schrieb er ein Buch über 40 Fälle von biologischen Muttermalen, die aufzeigen, wie diese Kinder in einem früheren Leben starben.

Diese 40 Kinder wiesen Anzeichen von Rissen im Bauch oder Löchern an verschiedenen Stellen ihres Körpers auf, die darauf hindeuteten, wie sie in einem früheren Leben gestorben waren. Ian Stevenson sagte, dass dies zwar keine wissenschaftlichen Beweise waren, aber keinen vernünftigen Zweifel zuließen. Ich denke, es ist ziemlich überzeugend, dass es die Möglichkeit der Reinkarnation gibt.

Engert: Wir haben viel über Wissenschaft und Theorie gesprochen. Nun würde ich gerne ein oder zwei der herausragendsten Erfahrungen von Menschen hören, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben. Erzählen Sie uns ein paar Geschichten.

Van Lommel: Eine der bekanntesten Geschichten veröffentlichte ich in meinem Buch

»Endloses Bewusstsein«: Passanten fanden einen bewusstlosen 44-jährigen Mann auf einer Wiese vor, sie begannen sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen und riefen den Krankenwagen. 30 Minuten später kam der Patient in den Wiederbelebungsraum an, wobei er bereits kalt und blau war und im tiefen Koma lag. Da er keinen Blutdruck hatte, intubierte ihn die Krankenschwester, um ihn mit Sauerstoff zu versorgen. Dabei stellte sie fest, dass der Patient ein Gebiss im Mund hatte, das sie herausnahm und auf den Notfallschutz legte.

Daraufhin setzte sie die Wiederbelebung für mehr als eineinhalb Stunden fort. Der 44-jährige Mann zeigte infolgedessen endlich wieder Blutdruck und Herzschlag auf, doch er befand sich noch immer in einem tiefen Koma und wurde für eine weitere Woche auf der Intensivstation künstlich beatmet, bis er nach dem Koma wieder zu Bewusstsein kam. Nach einer weiteren Woche wurde er in die kardiologische Abteilung verlegt und der Patient erkannte sofort die Krankenschwester, die bei seiner Einlieferung dabei war, und er wusste auch, dass sie sein Gebiss aus seinem Mund entfernt hatte.

Er war in der Lage, genau zu beschreiben, wie der Wiederbelebungsraum von oben aussah, obwohl er bereits im Koma in diesen Raum gebracht wurde, von wo aus er – immer noch im Koma – auf die Intensivstation verlegt wurde. Trotz dessen konnte er detailliert beschreiben, was in dem Wiederbelebungsraum geschehen war und wie die Krankenschwester und der Arzt mit seiner Wiederbelebung beschäftigt waren. Ich wurde sehr emotional, als man mir diesen Fall schilderte. Es überraschte die Krankenschwester zutiefst, dass dieser Patient alle Details zu seiner Wiederbelebung wiedergeben konnte, obwohl er währenddessen im tiefen Koma lag. Das beweist: Wenn man eine Nahtoderfahrung durchlebt, besteht die Möglichkeit, das, was außerhalb und oberhalb des Körpers geschieht, wahrzunehmen. Es zeigt auf, dass das Bewusstsein auch ohne den Körper funktioniert. Der Körper des Patienten liegt unten im Koma, doch das Bewusstsein des Patienten nimmt von oben wahr, wie man versucht, ihn wiederzubeleben.

Eine andere Geschichte handelt von einer Frau, die sich in den letzten zwei Wochen vor diesem Ereignis sehr müde fühlte. Am Tag des Ereignisses rannte sie nach Feierabend schnell nach Hause, was sie in der Regel regelmäßig und gerne tat, doch an diesem Tag regnete es. So war sie komplett durchnässt und extrem erschöpft, als sie zu Hause ankam. Sie war so erschöpft, dass sie sich, nachdem sie sich auf einen Stuhl gesetzt hatte, nicht mehr bewegen konnte. Genau in diesem Moment kam ihr Ehemann hinein. Ihr Ehemann war ein Facharzt, der immer lange im Krankenhaus arbeitete und selten zeitig nach Hause kam. Doch an dem Tag war alles anders. Als er das Wohnzimmer betrat, sah er, wie seine Frau ohnmächtig wurde und den Puls verlor. Sofort begann er mit den Wiederbelebungsmaßnahmen und rief einen Krankenwagen. Nach etwa sechs Minuten wurde sie erfolgreich mit einem Schock wiederbelebt. Daraufhin kam sie für drei Wochen zu uns ins Krankenhaus und man führte zahlreiche Untersuchungen an ihr durch, um herauszufinden, was nicht stimmte. In ihrem Fall war die Ursache eine Virusinfektion, und nach einer solchen Erkrankung darf man sechs Wochen lang keinen Sport treiben. Sie berichtete mir, wie sie, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte, ihren Körper von oben sah. Sie sah, wie ihr Ehemann versuchte, sie wiederzubeleben, und wie er die 112 anrief. Daraufhin schwebte sie durch die Decke und verließ ihr Haus. Von oben sah sie ihr Haus und die Stadt Rotterdam. Dann flog sie weiter hinaus, sie sah den Planeten Erde, halb dunkel, halb weiß. Und sie flog weiter zwischen den Sternen und im Universum.

Als sie zurückflog, blickte sie durch das Dach ihres Hauses hindurch und beobachtete ihre beiden kleinen Kinder, die im Bett lagen. Sie war also in der Lage, durch Gebäude hindurchzusehen. Und das war der Moment, an dem sie beschloss, dass sie zurückgehen muss. Jedoch konnte sie sich genau daran erinnern, dass, als sie wieder zu Bewusstsein kam, sie es schrecklich fand, wieder in ihrem Körper zu sein. Nach dieser Erfahrung veränderte sie sich sehr, und es dauerte acht Jahre, bis sie in der Lage war, darüber mit anderen außer ihrem Ehemann zu sprechen. Doch auch ihr Ehemann veränderte sich immens, denn zuvor war er ein altmodischer Facharzt. Jedoch konnte er nicht begreifen, warum er die Eingebung hatte, ausgerechnet in diesem Moment nach Hause zu gehen, in dem seine Frau hätte sterben sollen. Diese Erfahrung bewirkte, dass sich beide sehr veränderten. In den letzten 30 Jahren habe ich mehr als 10.000 E-Mails aus der ganzen Welt erhalten, die von solchen Geschichten berichten. Alle Geschichten haben gemeinsam, dass sie beeindruckend und emotional berührend sind. Am häufigsten las ich, dass die Betroffenen sehr lange über das Erlebte nicht sprechen konnten und ihnen auch keiner wirklich zuhörte.

Engert: Es ist beeindruckend, zu hören, was Menschen erlebten und wie es nachhaltig ihre persönliche Struktur prägte. Diese authentischen Berichte sprechen über das, was die Menschen während einer Nahtoderfahrung erlebten, beispielsweise wie sie durch die Decke schwebten. Besteht die Möglichkeit, diese Berichte wissenschaftlich zu überprüfen?

Van Lommel: Ja, das wurde schon oft getan. Wir nennen dies die Bestätigung der radikalen Aspekte dieser anthropologischen Erfahrungen. Im Jahr 2016 wurde von der IANDS, der International Assoziation for Near-Death Studies (DT.: Internationaler Verband für Nahtodforschung), ein Buch von niederländischen Autoren veröffentlicht, das den Titel »The Self Does Not Die« trägt. Es untersucht in 128 Fällen die Erlebnisse und Wahrnehmungen, die Menschen während einer außerkörperlichen Erfahrung gemacht haben. Diese Schilderungen wurden mit denen der Ärzte, der Krankenschwestern und der Familienmitglieder, die ebenfalls anwesend waren, verglichen, um zu ermitteln, was tatsächlich passiert ist. Auf diese Weise sammelten sie Hinweise, um belegen zu können, dass sie sich in dem Moment, in dem sie aufgrund eines Herzstillstands, einer Operation, einer Vollnarkose oder eines Komas bewusstlos waren, wirklich außerhalb ihres Körpers befanden. In den mehr als 100 untersuchten Fällen fand man heraus, dass etwa 98 Prozent des Erzählten tatsächlich während des Herzstillstands, der Narkose oder des Komas eingetreten ist. Das beweist, dass es wahr ist.

Dr. Pim van Lommel

Das Interview führte Ronald Engert.

Pim van Lommel, M.D., geb. 1943, 1971 Abschluss seines Studiums an der Universität Utrecht und Spezialisierung auf Kardiologie 1976. Von 1977-2003 Tätigkeit als Kardiologe, und aktuell forscht er hauptberuflich über die Beziehung zwischen Geist und Gehirn. Seit 1986 verfasste er über 20 Artikel (die meisten davon auf Niederländisch), ein Buch und viele Kapitel über NTE. Er war Mitbegründer der niederländischen IANDS und erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seinen Beitrag zur Erforschung von Nahtoderfahrungen.

pimvanlommel.nl/de/

© Abbildungen: Adobe Photostock

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