Spiritualität von unten
Die Autorin legt auf eindrucksvolle Weise den Finger in die Wunde der heutigen Gesellschaft, von der sich auch spirituell orientierte Menschen nicht immer befreien können, die Fixierung auf das persönliche Lebensglück und gleichzeitig die Verdrängung bis zur Verachtung der menschlichen Unvollkommenheit. Diese verfolgt uns dennoch konsequent in der Innen- und Außenwelt. Doch gerade in unserer Verletzbarkeit, unserem Leid und unserem Mensch-Sein liegt das Mysterium unserer Lebendigkeit und das Potenzial der Begegnung, nicht nur mit uns selbst in unserer Ganzheit, sondern auch mit Gott.
Wir leben in einer Zeit, die den Erfolg liebt, die Leistung schätzt und die ihr Augenmerk auf den jungen, gesunden, vitalen Menschen legt. In einer Zeit, die das persönliche Glück ins Lebenszentrum rückt wie eine religiöse Idee, wie ein glattes, kantenloses Modell gelingenden Lebens, wie ein machbares Paradies hier auf Erden. Die Buchläden sind reich gefüllt mit den Glücksratgebern und Anleitungen zur Entfaltung der eigenen Vorstellungen von Selbstverwirklichung. Das Seminargeschäft verheißt uns denkbares, machbares und kontrollierbares Gelingen. Das persönliche Glück des Individuums wird dabei nicht nur an Gesundheit, Wohlstand, Anerkennung und Erfolg geknüpft, sondern auch an eine darin mal latent, mal offen nahegelegte Form der Abgrenzung. Sich nicht mit sogenannten toxischen Menschen, mit negativen Nachrichten oder kritischen Auseinandersetzungen zu befassen, ist bedenklich en vogue. Um viele Menschen machen wir da auch gleich einen Bogen: Gerade jene, die uns mit ihren Problemen, ihrer Not, ihrer Angst oder ihren Ambivalenzen anstecken könnten, sind uns suspekt.
Wer sein Glück erreichen und bewahren will, kann dies innerhalb einer Idee des Hyperindividualismus nur mithilfe erheblicher generalisierter Verdrängungsleistungen tun. Wer beispielsweise angesichts der Massentierhaltung und ihrer Verbrechen noch Supermarktfleisch isst, blendet eine bekannte, schwer zu ertragende Wirklichkeit aus. Wer Billigflüge antritt, um sich kurzfristig die Zeit in fernen Ländern zu versüßen und günstig die Welt zu bereisen, vergisst bewusst die daran geknüpften sozialen und ökologischen Bedingungen. Wir sind vertraut mit der Gewohnheit, uns Vorteile zu verschaffen und nicht immer so genau hinzusehen.
»Niemand hört gern, dass der eigene Luxus der Armut anderer zu verdanken ist, oder dass die eigene Freiheit und Mobilität an zahllosen Unfreiheiten anderer hängt.«
Niemand hört gern, dass der eigene Luxus der Armut anderer zu verdanken ist, oder dass die eigene Freiheit und Mobilität an zahllosen Unfreiheiten anderer hängt. Niemand hört gern, dass das, was wir vermeintlich selbst erschufen oder erwirtschafteten, in vielen Fällen nichts weiter als Privileg oder Zufall ist. Unser vermeintliches Glück, so fühlen wir, ist anfällig und fragil. Gelegentlich reicht schon eine Konfrontation mit einem tragischen Einzelschicksal, um unsere Sorglosigkeit zu erschüttern. Die Konfrontation mit einem Trauernden trifft unser Gefühl von Lebendigkeit empfindlich, die Angst des Nächsten unsere eben noch empfundene Sicherheit. Uns von erschütterndem Wissen und krisengebeutelten Menschen abzugrenzen und diese Wirklichkeiten nicht zu tief in unser Weltverständnis und unser Erleben vordringen zu lassen, ist eine der fragwürdigen Kulturtechniken, der wir nicht selten unseren ruhigen Nachtschlaf verdanken.
»Mithalten zu müssen ist Pflicht. Burn-out, Sinnleere und Unsicherheit werden gern weggelächelt, und Insta-Filter erledigen den Rest.«
Der Wettbewerbsdruck, dem wir unterliegen, ist erheblich. Von sozialen Medien, Werbeplakaten und Film- und Musikindustrie mit Rollenbildern glücklichen Lebens konfrontiert, erleben wir uns rasch als ungenügend. Mithalten zu müssen ist Pflicht. Burn-out, Sinnleere und Unsicherheit werden gern weggelächelt, und Insta-Filter erledigen den Rest. Eine Welt begrüßt uns täglich in den Medien, die machbares Glück verheißt und langes Leben in Aussicht stellt. Eine Welt, die kaum Räume für Scheitern, Krisen und Endlichkeit, für Angst und Verlorenheit zur Verfügung stellt.
Spirituelle Glücksangebote
Auch die spirituelle Welt ist durchdrungen von diesen Prinzipien. Längst lächeln uns die ewig jungen vitalen Mittzwanzigerinnen von jedem Meditationsgruppenflyer, von Hochglanzyogamagazinen und aus spirituellen Angeboten an. Wie vom Neobiedermeier geküsst, wähnt sich der hiesige Mensch im Jahre 2020 am sichersten, wenn er der persönlichen Glückssuche unerbittlich nachgeht und sich dabei einen Kokon aus Gewohnheiten, Errungenschaften und erworbenen Statusinsignien anlegt.
»Schmerz, Traurigkeit, Angst oder Zweifel gelten in erstaunlich vielen spirituellen Kontexten als Ausdruck unausgereifter spiritueller Persönlichkeit.«
Spiritualität soll entspannen, beruhigen, beleben, gelassener machen, Kräfte stärken, sie soll gesund erhalten und das Glück mehren. Sie soll das Leiden beenden, und wenn nicht dies, dann doch wenigstens das Leiden am Leiden. Schmerz, Traurigkeit, Angst oder Zweifel gelten in erstaunlich vielen spirituellen Kontexten als Ausdruck unausgereifter spiritueller Persönlichkeit, als Symptom mangelnder Bewusstheit oder Verhaftung in weltlichen Niederungen. Auch hier erweist sich der krisenbehaftete Mensch vielfach als Objekt abwertender Urteile.
Wohin also trägt der Mensch seine Wunde? Wohin seinen Schmerz? Die ungeweinten Tränen? Die einsam reflektierten Befürchtungen? Wohin Leiden an dem, was ist, und dem, was schmerzlich fehlt?
Biblische Spuren – der verwundete Mensch
Liest man aufmerksam in biblischen Texten, so stellt man fest, dass es dort einen lebendigen Ausdruck innerer Verwundung und Verwüstung gibt. Die viel zitierten Psalmisten schütten Gott hemmungslos ihr Herz aus, sprechen von erlebter dunkler Nacht, von Einsamkeit, von Anfeindungen, unerfüllter Sehnsucht und von plagender Schuld. Sie beten aus der Untiefe menschlicher Verzweiflung ebenso wie aus der uns vertrauten Not des Alltags, in der wir von Sorge um uns und unsere Liebsten, um unsere Gesundheit, unsere Beziehungen und unseren Besitz erfasst sind. Das Hadern und Ringen eines Hiob hat seinen Weg auch fernab kirchlicher Kontexte in das Bewusstsein der Menschen gefunden, und auch Konfessionslose kennen die starken Bilder der Passionsgeschichte, in denen wir einen leidenden, gequälten und mit sich ringenden Jesus im Ölgarten sehen, der Gott um nicht weniger bittet als darum, den Kelch vorübergehen zu lassen. Mit dem Verzweiflungsruf »Warum hast du mich verlassen« begegnet der, den Christen für die Inkarnation Gottes halten, der Stunde tiefster Verlassenheit und Furcht, und letztlich dem Tod.
Leid gehört zur Lebenswirklichkeit
Drei Dinge sind für mich besonders bemerkenswert, schaue ich mir die vielen Bekundungen leidvoller Lebenswirklichkeit in biblischen Texten an: Zum einen gibt es hier keinen zensierenden Eingriff in die Ausdrucksfähigkeit des Menschen, der sowohl Glück als auch tiefstes Leid erlebt. Der biblische Mensch erlebt sich als vielfach verwundet und mutet sich selbst zu, das Leiden zu durchleben, ebenso wie er Gott zumutet, sich den Schmerz seiner Geschöpfe anzusehen.
»In der Intimität der Gottesbeziehung findet alles Ausdruck, keine Klage ist zu geringoder zu ausufernd, um ihren Weg zu Gott zu finden.«
In der Intimität der Gottesbeziehung findet alles Ausdruck, keine Klage ist zu gering oder zu ausufernd, um ihren Weg zu Gott zu finden. Kein Prophet, keine Prophetin, kein König, kein Jünger, nicht mal der Gottessohn selbst ist sich in diesen überlieferten Texten zu schade, die erfahrene Abgründigkeit zu durchleben, sie anzusehen und im Gebet vor Gott zu tragen.
Der Schmerz jeder Biografie wird gewürdigt
Zum anderen finden wir in den biblischen Texten Ausdruck eines tiefen Vertrauens, dass die als leidvoll erlebten Lebensstationen ihren Platz in einem heiligen Geschehen zwischen Gott und Mensch haben. Selbstverständlich gibt es auch die vielen Gebete, in denen der Mensch nicht viel mehr tut, als Gott zu bitten, den erlebten Schmerz zu beenden. Aber es gibt eben auch das ausgesprochene Vertrauen, auch die schmerzlichen Lebenswirklichkeiten könnten in Gott aufgehoben sein, könnten ihren Sinn und ihre Bedeutung haben. Wenn der Psalmist betet »Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie«, ist der erlittene Kummer mehr als eine Last, die Gott hinfortnehmen möge, denn er wird zu einem kostbaren Aspekt einer einzigartigen Biografie, die von Gott selbst gewürdigt wird. So wie Gott in der jüdischen Denkungsart jedes Haar auf dem Haupt eines Menschen kennt, so kennt er auch jede vergossene Träne und sammelt sie in einem Gefäß, wie ein großes Gedächtnis, in dem kein Kampf, keine Traurigkeit, keine innere Entwicklung jemals verloren geht.
Weil das so wichtig auch für unser Verständnis von Verwundung ist, möchte ich es noch mal hervorheben: Wir begegnen in den heiligen Texten der Juden und Christen einem spirituellen Subjekt, das gar nicht auf die Idee käme, seine Verwundung und Verwundbarkeit vor Gott verbergen oder auflösen zu wollen, und wir begegnen einem Menschen, der die Verletzungen in der eigenen Biografie für so kostbar hält, dass er sie Gott als Bewahrer und Hüter anvertraut.
Das Schmerzliche als Tor zur Verwandlung
Um nun den dritten bemerkenswerten Aspekt anzusprechen, der in biblischen Texten hervortritt, insbesondere wenn man es wagt, beim Lesen eine mystische Perspektive einzunehmen: Gerade die Wunde, gerade das Motiv bodenloser Erschütterung, gerade der Moment maximaler Krise erweist sich in vielen biblischen Geschichten als Ort der Gottesbegegnung und tiefer Verwandlung. Ich möchte fast sagen, dort am tiefsten Grund, auf den der Mensch sinkt, dem seine Hoffnungen abhanden kommen, dort am härtesten Boden der Tatsachen, dort in der untersten Schicht des Verlustes, an dem die Wunschvorstellung, die Sicherheit, der Eigenwille in etwas Größeres hineinsterben müssen, öffnet sich auf nahezu magische Weise eine Tür, hinter der uns etwas erwartet, wohin unsere Sehnsucht in all unserer Verstrickung und Vermeidung gar nicht vorzudringen vermag.
Die Wunde der Trennung
Das stärkste biblische Bild für diesen Vorgang ist zweifelsohne die Passionsgeschichte. Wir finden hier im Ölgarten einen verzweifelten Jesus, der ein Gebet ausspricht, das wir alle sprechen könnten: »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.« Was dieses Gebet offenbart, ist eine tiefe, erschütternde Einsicht, die nämlich, dass mein Wille und der Wille Gottes über Kreuz liegen. Dass es einen Bruch gibt zwischen dem göttlichen vorgesehenen Heilsgeschehen und meinen Vorstellungen davon, was ein gutes Leben sei. Dieser Bruch zwischen meinem Willen und dem Willen Gottes, diese Einsicht darin, dass dies zwei nicht identische Dinge sind, ist auf den Punkt gebracht die Erfahrung von Trennung. Zugespitzt im Gebet am Kreuz »Warum hast du mich verlassen« werden wir hier damit konfrontiert, dass selbst der, den Christen für identisch mit Gott halten, in seinem Menschsein offenbar die bodenlose Trauer der Trennung erfährt.

Und damit möchte ich gleich über die menschliche Wunde, über einige der Verwundungen sprechen, mit denen wir heute ebenso leben müssen wie seinerzeit der Nazarener. Die Erfahrung der Trennung ist eine frühe: Das Baby, das den Schoß der Mutter verlässt, das Kind, das von angeborener Intersubjektivität, von einer Wir-Wahrnehmung in eine Ich-Identität hineinwächst, das Kind, das mit fortschreitendem Alter einen Vertrauensverlust in die vormals als verlässlich erlebte Verbundenheit erfährt, fällt in ein ernüchterndes bis erschütterndes Trennungsgefühl. Dieses Trennungsgefühl ist identitätsstiftend im Sinne eines Ich-Erlebens und bleibt doch eine Wunde, die der Heranwachsende nicht vergisst. Das Trennungsgefühl begleitet uns fortan alle, und viele Erfahrungen, die wir im Leben machen, reaktivieren diese existenzielle Erschütterung. Unsere Freundschaften wie unsere Liebesbeziehungen und auch unsere spirituellen Beziehungen zum Priester, zum Lehrer, zum Guru, zu Gott selbst sind immer wieder durchdrungen von diesem Wechsel zwischen Individuation und Symbiose. Und was für eine Liebesbeziehung gilt, gilt auch für die Beziehung zu Gott: Wir winden uns unter der als schmerzvoll erlebten Trennung und versuchen Mal um Mal, sie zu überwinden oder sogar zu vermeiden. Der Partner, der sich von uns trennt oder sich innerhalb der Beziehung distanziert, löst für viele von uns dramatischste Gefühle aus: Das geht vom Empfinden, »nicht mehr ganz zu sein«, bis hin zu einem Gefühl, ohne den anderen gar nicht leben zu können. Dass wir ohne den anderen nicht leben könnten, stimmt freilich nie – es ist aber eine Erfahrung, die nahtlos an die frühkindliche Trennungsdramatik anknüpft und dementsprechend überwältigend sein kann.
Sehnsucht nach Ungetrenntheit
Auch unsere religiösen und spirituellen Ambitionen spielen sich – meist unbewusst – auf diesem Terrain ab: Der Wunsch nach erlebter Einheit mit dem Göttlichen ist konfessionsübergreifend so groß, dass Schulen oder Menschen, die uns die Erfahrung von »unio«, von Einheit in Aussicht stellen, sich vielerorts vor Meditationswilligen kaum retten können. Aber auch schon im Kleineren wünschen wir uns die beseligenden Gipfelerlebnisse von Verbundenheit und Einheit, wir erwarten in Gottesdiensten ebenso wie in Meditationskreisen oder in spirituellen Wandergruppen das tröstliche, das erhebende, das alle Widersprüche auslöschende Gefühl von Ungetrenntheit. Wie Erwachsene, die sich zurück in den Mutterschoß wünschen, jagen wir der Erfahrung von Gott-und-ich-sind-eins hinterher, nur um eines Tages sagen zu können: Nein, ich hoffe nicht auf später, ich bin in Gott im Hier und Jetzt, paradise is now, und alle Trennung war nur Illusion.
Um noch mal das biblische Bild zu bemühen: Das letzte Wort Jesu »Es ist vollbracht« ist aus biblischer Perspektive nicht denkbar ohne die tief erlebte und durchlittene Trennung, ohne das »Warum hast du mich verlassen«. Die erlebte Trennung könnte nicht weniger illusorisch sein. Sie ist so wirklich wie jeder Tropfen Schweiß und Blut auf Jesu Stirn, so wirklich wie jede Träne, die wir angesichts der existenziellen Einsamkeit jedes Menschen geweint haben. Erst die radikale Anerkennung der Getrenntheit fördert etwas zutage, was wir Verwandlung nennen könnten. Und wie sehr es um Verwandlung geht, das zeigen die folgenden Bilder der Auferstehung, die wir alle aus dem Ostergeschehen kennen. Da ist davon die Rede – und viele Künstler haben das über die Jahrhunderte wunderbar umgesetzt, wie etwa Matthias Grünewald im Isenheimer Altar –, dass die Wunden Jesu leuchten. Wie können wir dieses Bild auf uns übertragen? Es würde wohl bedeuten, dass unabhängig davon, wie spirituell entwickelt, wie bewusst, wie heilig, wie erwacht wir auch sind, unsere Wunden nicht verschwinden werden. Wohl werden sie leuchten, sie werden verwandelt sein, aber sie werden zu uns gehören, weil sie eine Wirklichkeit menschlichen Lebens sind und weil Gott selbst, der sich in den zahllosen Manifestationen der Schöpfung ausgießt, sich dieser Trennung aussetzt.
Die Wunde der Endlichkeit
Es ist vielen spirituellen Wegbereiter*innen und natürlich der Psychologie zu verdanken, dass wir heute genügend Wissen besitzen, um unsere zahllosen Ängste auf ihren Kern herunterzuschälen. Nicht selten begegnet uns in diesem Tun die Angst vor der eigenen Endlichkeit als Motor zahlreicher Vermeidungsstrategien. In gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen wir nicht ausreichend einüben, uns mit unserem eigenen Ableben auseinanderzusetzen, und in denen wir nicht früh genug darin geschult werden, die Halbwertszeit von Ideen, Erfolgen, Besitztümern, Beziehungen und physischer Konstitution im Blick zu behalten, bleiben wir auch als Erwachsene infantil in unserer Bedürfnisstruktur und wenig resilient im Umgang mit Krisen.
Es zeigt sich auf dem sensiblen Gebiet der Trauerarbeit, wie unvorbereitet uns der Tod geliebter Menschen als Lebensrealität trifft, und was für die Trauer um Verstorbene gilt, gilt auch für die Trauer um Projekte, um Selbstbilder, um verlorenen Glauben oder verlassene Heimat: Wir müssen sie erlernen.
Auf der Flucht vor der Endlichkeit halten wir auf bizarre Weise an ideellen und materiellen Dingen fest, die uns, noch während wir ihnen das Höchstmaß an Genuss abringen, wie Sand durch die Finger rieseln. Dass wir es nicht mehr gewöhnt sind, in religiösen und spirituellen Kontexten den Tod und die Endlichkeit zu meditieren, ist ein bedauernswerter Kulturverlust. Gerade hier könnten sich Widerstandskraft und Kreativität entfalten, wenn Menschen die Kostbarkeit des Augenblicks begriffen, der nicht wiederkehrenden Möglichkeiten und der geschenkten geteilten Zeit. Es ist kein Widerspruch, dass man dem Leben erst dann in seiner ganzen Tiefe begegnet, wenn man den Tod ins Leben ruft. Im tiefen Rot der Wunde der Endlichkeit begegnet uns das Leben, das im Vollbewusstsein seiner Flüchtigkeit darauf drängt, wild, frei und schöpferisch die Welt zu gestalten.
Die Wunde der Schuld
Vielen Menschen, die eine schmerzliche Geschichte mit dem institutionalisierten Christentum hinter sich haben, sind die zahlreichen Motive der Schuld in der christlichen Heilsgeschichte zuwider. Verständlicherweise rufen die starken wiederkehrenden Wortbilder von Sünde und Erlösung in vielen Suchenden Aversionen wach, die kaum noch aufzulösen sind. Ich möchte in restloser Anerkennung des großen Leids, das Kirche auch und gerade mit diesem Topos angerichtet hat, dennoch einen wertvollen Aspekt daran in unsere Perspektive hinüberretten.
Um der Komplexität heutigen menschlichen Lebens Rechnung zu tragen, muss man sagen, dass wir alle in Kontexten leben, in denen wir zum einen »schuldlos schuldig werden« und in denen wir zum anderen bewusst Entscheidungen treffen können, die anderen Menschen oder der Schöpfung schaden. Für letzteres, also die »Sünde«, hat sich das Christentum immer schon interessiert und dabei auch immer weiter reflektiert, was diesen Namen verdient und wie mit diesem Phänomen umzugehen sei. Heute hören wir manche Stimme sagen, dass Sünde eben das sei, was dem Leben schade, was lebensfeindlich ein bewusster Widerspruch zu dem in uns liegenden Wissen sei, dass jeder Kreatur höchste Achtung gebühre.
Niemand, der schon einmal tiefes Unrecht erlitten hat, würde die Wirklichkeit der Schuld leugnen. Niemand, der bei Verstand ist, könnte heute leugnen, dass wir uns auf vielfache Weisen schuldig machen, durch Umweltausbeutung, durch Kriege, durch sexuelle Gewalt oder Diskriminierung. Und doch ist Schuld aufgrund der religiösen Instrumentalisierung dieses Begriffs kein Wort, das wir gern in den Mund nehmen. In spirituellen Milieus fernab der Kirchen finden wir oft eine Begriffsverschiebung, wenn vornehmlich von »Verantwortung«, nicht aber von Schuld gesprochen wird. Sich aber dem Umstand zu stellen, dass man sich am anderen schuldig macht, dass man andere ihrer Chancen, ihres Rufs, ihrer materiellen Sicherheit, ihrer physischen oder seelischen Gesundheit berauben kann, ist nicht nur eine große Last und quälende Wirklichkeit, mit der wir leben müssen, sondern auch eine offene Tür zu erlebter Verbundenheit, nach der wir uns alle sehnen.

Manch einer, der erlebte Verbundenheit ersehnt, erwartet hier vor allem ein beseligendes Sentiment, ein wärmendes Gefühl der Nähe und des Gleichklangs. Dass Verbundenheit uns aber auch dort als Erfahrung treffen könnte, wo wir das Leiden des anderen fühlen und erfahren, dass wir darin nicht unbeteiligt sind, das kommt uns nicht in den Sinn. Gerade in diesen Tagen der Corona-Krise kommt mir in den Sinn, wie sehr Menschen in dieser Zeit Verbundenheit erleben beim Gedanken daran, dass der andere sie anstecken könnte oder dass sie über unsichtbare Infektionswege den anderen anstecken könnten, für den es womöglich lebensgefährlich ist. Diese beinahe schockhaft auftretende Erkenntnis, dass man so sehr noch mit dem Fremden, den man gar nicht zu Gesicht bekommt, verbunden ist, ist mit Sicherheit nicht das, was sich Menschen wünschen, wenn sie sagen, sie würden gern einmal erlebte Verbundenheit ganz spürbar wahrnehmen. Und doch ist es so: In dieser als angstvoll und bedrohlich erlebten Situation zeigt sich die Menschheit als ein großer vernetzter Organismus, dessen kranke Zelle in der Ferne alle anderen Zellen betrifft.
»Wir sind verletzlich, wir sind aufeinander angewiesen.«
Hinter dieser – schmerzlichen und jähen – Erfahrung von Verbundenheit, ebenso wie hinter einer als angenehm erlebten Verbundenheit, etwa bei Solidarität und Hilfsbereitschaft, steht dieselbe Wahrheit: Wir sind verletzlich, wir sind aufeinander angewiesen, unsere Geschicke sind miteinander vermischt, wir sind fähig dazu, uns am anderen schuldig zu machen, indem wir ihm etwas nehmen, worauf er genau wie wir Anspruch hat.
Eine spirituelle Praxis lädt uns unweigerlich dazu ein, uns für diesen fragilen Zusammenhang zu sensibilisieren. Und sich der eigenen Wunde der Schuld zu stellen, zu prüfen, was ich am anderen tue und unterlasse und wie oft ich unter meinen Möglichkeiten bleibe, Leben zu hüten und zu pflegen, heißt eben auch, feinfühliger zu werden für meine eigenen Schöpfungen, für die Würde des anderen und für die große menschliche Fähigkeit zur Vergebung, auf die wir alle ausnahmslos angewiesen sind.
Verletzbarkeit gestalten
Ich sprach anfangs von biblischen Spuren. Hier begegnet Gott selbst uns als verletzbarer Mensch in höchst verletzlichen Zusammenhängen. Gott selbst zeigt sich in der Inkarnation als endlich, als verwundbar, als ein Mensch mit inneren Kämpfen, Reifungsprozessen und Widersprüchen, als ein Mensch, der Trennung und Verlassenheit erleidet und der sich von seiner göttlichen Natur über verschiedene Grenzen ziehen lassen muss, um dem sich an ihm vollziehenden Heilsgeschehen zu entsprechen.
Nimmt man Jesus als Blaupause eines Menschen, der sich inneren Prozessen stellt und der sich immer wieder entgrenzen und verwandeln lässt, dann bekommen die vielen, oft fremdartigen Bilder in biblischen Geschichten eine ganz persönliche und aktuelle Bedeutung. Die Versuchung in der Wüste, die Verklärung auf dem Berg Tabor, die Stillung des Sturms auf dem See, überall begegnet uns der Christus-Archetyp als Wegweiser zu ureigenen Selbstwerdungsprozessen.
Darauf stoßen uns nicht nur die biblischen Bilder – auch und gerade Bilder, die sich in der Kunst, der Tradition und Volksfrömmigkeit entwickelt haben, tragen oftmals eine tiefe mystische Dimension in sich, die uns heute noch viel zu erzählen hat. Daher möchte ich gern mit einem Bild schließen, das aus der Westkirche weitgehend verschwunden ist: der Abstieg Christi in die Unterwelt, oder auch volkstümlich die Höllenfahrt Christi.
Die Darstellung Jesu, der zwischen Grablegung und Auferstehung das Totenreich bereist, war ganz sicher auch eine fromme Verlegenheitsgeste: Man versuchte schlicht und ergreifend zu erklären, was Jesus denn zwischen seinem Tod und der Auferstehung getan habe, und damit wollte man gleichzeitig die Frage beantworten, wie denn nun all jene, die vor Jesu Geburt gelebt hatten, in den Genuss der Erlösung kämen. Das kraftvolle Bild, das in der Ostkirche bis heute eine der zentralen Ikonen ist, zeigt Jesus, der nach seinem Tod ins Reich der Toten hinabsteigt und von dort all jene, die redlich lebten, aus der Umarmung der Dunkelheit ins Licht befreit. Ungeachtet der fühlbaren Hilflosigkeit, mit der diese Darstellung eine Leerstelle in der schwer verständlichen Geschichte von Kreuzigung, Tod, Erlösungswerk und Auferstehung zu bebildern versucht, ist die mystische Symbolkraft dieser Szene kaum zu leugnen:
Der fantasievoll gemalte, monströse Schlund, in dem zahllose Seelen gefangen sind, deren Stimmen sicher chaotisch durcheinanderplappern, dieser Schlund, der von einigen emsigen Dämonen oben und unten mit Gewalt verschlossen gehalten werden will, er ist unseren eigenen Untiefen nicht unähnlich. In uns sind zahlreiche verschiedene Stimmen versammelt, unsere Teilselbste, von denen manche im Widerstreit liegen, unsere großen Gefühle, von denen wir uns viele nicht gern bewusst machen: die Traurigkeit, die Wut, die Angst. Auch das, was der Wüstenvater Evagrius Ponticus die »Dämonen« nennt, die unsere Leidenschaften wie Gier, Habsucht, Kummer oder Hochmut wecken, könnten hier wohl angesiedelt sein. Was die dort vereinten Kräfte letztlich »höllisch« macht, ist ihre fehlende Aussicht auf Veränderung, ihre fehlende Perspektive auf Verwandlung. Sie sind verschlossen, im Dunkeln, und von dort wirken sie womöglich auf uns ein, ohne dass wir es wissen, sie dirigieren unser Handeln, unsere Erwartungen und unsere Gemütslage und belasten unseren Körper und unsere Beziehungen.
In diesem Bild steigt Christus nun hinab und setzt sich eben dieser in sich verkrümmten Unterwelt aus. Er öffnet den Schlund, der verschlossen war, er bricht den Widerstand der dämonischen Kräfte, die diesen Schlund verschlossen halten wollen, und er tritt dieser dunklen Welt offenen Auges und mit ausgestreckter Hand entgegen. Als Verwundeter, der er selbst ist, mit sichtbaren Wundmalen, den Zeichen seiner eigenen Gebrochenheit, wird er für die chaotische Welt unter sich ganz Auge, das schaut, ganz Hand, die Hilfe spendet und befreit. Die befreiten Figuren können in die Oberwelt treten, sie können ihren neuen Platz finden, mitten im Licht.
Nichts anderes tut der Mensch, der sich seiner Wunde stellt und seiner Verletzbarkeit gestaltend begegnet. Er läuft nicht vor der schmerzlichen Erfahrung, dem nagenden Gefühl oder der ambivalenten Gemütslage davon, flüchtet sich nicht in Leugnung oder Verdrängung. Er bereist auch nicht die Hölle, um es sich dort gemütlich einzurichten und sich in die zahllosen Dramen verstricken zu lassen, bis er zerrissen und handlungsunfähig ist. Sondern er begegnet im Bewusstsein, dass auch er die Christus-Natur ist, offenen Auges, mit Mut und Klarheit der Wunde und ihren zahllosen Folgen. Der Verschlossenheit, die aus Verletzung erwachsen ist. Der Bitterkeit, die aus Enttäuschung erwachsen ist. Dem Misstrauen, das aus Verrat erwachsen ist. Er begegnet der Frustration, der Aggression, der Kompensation, der Depression, jenen hilflosen Bewältigungsversuchen der Seele, die sich rasch erschöpfen. Etwas anzuschauen, etwas radikal zu erlauben, etwas mutig zu bereisen und sich selbst mehr und mehr als Raum zu begreifen, in dem Trauer, Zorn oder Angst atmen dürfen, ohne dass wir daran Schaden nehmen, das ist buchstäblich rettend und erlösend. Wer der von Egozentrik und Verstrickung befreiten Traurigkeit oder dem befreiten Zorn begegnet, staunt darüber, wie sehr sie Ausdruck tiefer Liebe und grenzenlosen Mitgefühls sind. Wer aber befreit sie?
Wenn wir den Christus in diesem Bild anschauen, schauen wir uns selbst an. Wir sind die, die in unsere Abgründe hinabsteigen und das Heilige darin befreien müssen. Damit treten wir heraus aus der bloßen Zumutung von Verletzbarkeit, von Beschädigung, hinein in das mündige Gestalten von Verletzbarkeit. Und dann erleben wir, dass Vulnerabilität nicht bloß bedeutet, empfindlich zu sein, Risiken ausgesetzt zu sein, sondern dass sie eben auch bedeutet, empfänglich zu sein, berührbar und verbunden, überhaupt im eigentlichen Sinne begegnungsfähig.
Wie in vielen spirituellen Prozessen begegnet uns auch hier ein Paradoxon: Je tiefer wir in die Wirklichkeit unserer Wunde hinabsteigen, desto heiler mögen wir uns fühlen, denn das, wozu wir hinabsteigen, steigt befreit hinauf, während unsere mutiger werdenden Schritte neue Lebenstiefe ausmessen, die uns zuvor verborgen war. Auf dem mystischen Weg üben wir, uns mit dieser Christusnatur in uns vertraut zu machen, wir üben, ihr mehr Raum zu geben, während das, was wir egoische Struktur nennen, kleiner werden und in den Hintergrund treten darf.
Gott als Weltgewebe
Wer einen mündigen Umgang mit der Wunde praktiziert, sei es durch Kontemplation, Gebet, durch radikale Akzeptanz, Körperarbeit, Kunst – die Wege sind zahlreich –, dem öffnet sich nicht nur ein neues Selbstbild. Auch das Gottesbild verwandelt sich. Denn wie viel Zeit haben wir damit in unserem Leben schon verbracht, Gott um das Schöne zu bitten und um die Abwendung des Schmerzlichen? Wie oft haben wir ihn im Erfüllenden vermutet, nicht aber in Zerrissenheit?
»Gib, dass mein Partner zurückkommt.« »Mach, dass ich gesund werde.« »Lass nicht zu, dass ich meine Arbeit verliere, dass ich einsam bin, dass ich Angst haben muss.« Wie viele dieser Gebete steigen täglich zum Himmel?
Wir haben sehr konkrete Vorstellungen davon, was gelingendes Leben sei. Wir haben den Glauben tief verinnerlicht, dass uns Wohlstand zustünde, Gesundheit, Glück und positive Gefühle. Wir hängen unser Glück an ein Gefühl der Unversehrtheit und Sicherheit. Verkrümmt in unserer Angst, sprechen wir zu einem Gott, den wir nur denken können als Verhinderer des Übels, als Abwender des Leidens, letztlich als Garant von Unversehrtheit. Was ist das für ein Gottesbild, das wir damit pflegen? Und wie möchten wir leben, umschlossen von einer Haut, die nichts ritzen kann?
Wir sind radikal verletzbar in allem, was uns ausmacht. Unser Körper altert und krankt. Wir beginnen viele Dinge, die wir nie klären, verstehen, heilen oder vollenden können, selbst wenn wir uns darum bemühen. Wir haben Heimweh nach der großen Alleinheit und erleben zahllose Weisen der Trennung. Das ist die radikale Verletzbarkeit, die uns vom Leben gegeben ist. Was tun wir, wenn wir Gott bitten, uns diese Verletzbarkeit zu ersparen? Wir bitten Gott darum, uns die Tiefe zu ersparen. Die Tiefe der Traurigkeit, der Wut, der Zweifel, der Auseinandersetzungen und der Suche. Letztlich bitten wir ihn darum, uns das Leben selbst zu ersparen, das sich durch uns entfaltet.
Stellen wir uns der Wunde und unserer Verletzbarkeit, öffnen wir den Raum für einen unbekannten Gott, den wir noch nicht oder nicht oft genug zu denken wagten, für einen Gott, der uns nicht nur im Frieden, in der Fülle und im Glück begegnet, sondern auch in der Krise, im Scheitern, im Kampf, auf der Suche und im Zweifel. Dass Gott ein Werdender ist, in der Ferne, aber auch ganz nah, in mir, als Du, als ich, als Weltgewebe und Lebenswirklichkeit, in der wir uns bewegen, das können wir lernen, ahnen, erfahren und schmecken, wenn wir nur die Wunde, die schmerzende und leuchtende Wunde, offen halten und sie nicht als Makel, sondern als Würde begreifen.

Zur Autorin:
Giannina Wedde ist Buchautorin, Liedermacherin, Wegbegleiterin und Seminarleiterin und unterstützt Sinnsucher*innen auf ihrem spirituellen Weg. Verwurzelt in der christlichen Mystik und im Dialog mit den großen spirituellen Traditionen zeigt sie Wege zu einer modernen Alltagsmystik auf.
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