Hajo Michels

Hajo Michels – Scheinheilig: Entlarve die Schattenseiten der Spiritualität

Raus aus dem spirituellen Burn-out – finde deinen metaspirituellen Weg

Nach Jahrzehnten der spirituellen Suche ist der Autor in vieler Hinsicht ernüchtert. Auch Spiritualität birgt ihre Schattenseiten, und mit entwaffnender Offenheit entlarvt Michels hier einige der wichtigsten Fallstricke. Spirituelles Bypassing, spiritueller Materialismus, falsche Gurus, spirituelles Burn-out sind nur wenige Stichworte. Deshalb plädiert er für die metaspirituelle Revolution, die uns wahrhaftig mit uns selbst verbindet, ehrlich werden und nicht nur egoistisch neoliberal, sondern für alle Lebewesen ein gutes Leben führen lässt.

Längst hat der Neoliberalismus die Spiritualität gekapert, um uns mit seiner Erleuchtungsindustrie, deren Glücksterror und grausamer bis toxischer Positivität in die Selbstoptimierungsfalle zu locken. Vegane Yogafanatiker, bei denen vor allem die körperliche Optimierung im Vordergrund steht, konkurrieren mit McMindfulness Enthusiasten, die mittels Achtsamkeit die Resilienz und damit die Produktivität steigern wollen. Es lebe der spirituelle Materialismus. Das neoliberale Narrativ, »du kannst, wenn du willst« – also die uneingeschränkte Selbstverantwortung – ist längst Teil vieler pseudo-spiritueller Gruppen geworden. Im Gegengewicht dazu hat sich das esoterische bis braune Verschwörungsgedankengut etabliert, das der »herrschenden Klasse« alle Schuld für die persönlichen Probleme zuweist.

Mit »magischem Denken« wird alles Mögliche erklärt und angeblich »manifestiert«. Jedoch hinterlässt es mehrheitlich heuchlerische oder frustrierte und sich in Selbstvorwürfen ergehende Praktizierende, weil man scheinbar doch – oh Wunder! – unfähig ist, alles zu »erschaffen und zu erreichen«.

Die Sinnhaftigkeit unseres Lebens, die uns das in Skandale verwickelte Bodenpersonal der Religionen nicht mehr glaubhaft vermittelt, verkauft uns heute Teile der Coachingszene, die mit Teebeutel-Sprüchen und gefährlichem Halbwissen ein Stück des auf circa 20 bis 30 Milliarden geschätzten Spiritualitätskuchens abhaben möchten. Und wenn es mit der Spiritualität nicht so klappt, wie es soll, gibt es bestimmt jemanden, der einem eine Abkürzung zur Erleuchtung verkauft, oder man greift zur Not zu spirituellen Drogen, die einen ins Nirwana katapultieren.

All diese »Arbeit« an uns selbst und die Fehler bei uns suchend hält uns so auf Trab, dass wir die Dysfunktionalität unserer Gesellschaft nicht wahrnehmen und weiter im Hamsterrad der vermeintlichen Spiritualität umherrennen.

»Das neoliberale Narrativ, »du kannst, wenn du willst« – also die uneingeschränkte Selbstverantwortung – ist längst Teil vieler pseudo-spiritueller Gruppen geworden.«

Viele Fallen und Irrwege lauern auf dem spirituellen Weg. Warum ist es wichtig, sie zu kennen und zu vermeiden?

Weil wirklich wahrhafte Spiritualität nur aus der rechten Motivation erwachsen kann. Das Ziel ist immer Transzendenz und Einswerden in der Erkenntnis des Verbundenseins mit allem. Nur dadurch erwachsen Mitgefühl und die Bereitschaft, sich »ehrlich« zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen.

Jede Art von Spiritualität, die nicht in Aktion tritt, um sich für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen, ist und bleibt nur ein Egotrip. Damit wir als Gesellschaft den anstehenden Katastrophen vielleicht noch einmal entkommen können, brauchen wir wahrhaft spirituelle Menschen, und zwar sehr, sehr viele.

Wir brauchen eine MetaSpirituelle Revolution!

Warum dieser Artikel?

Ich bin Hajo Michels und seit 35 Jahren bin ich auf dem spirituellen Pfad. 2017 wurde ich durch Ereignisse (ein Skandal in meiner spirituellen Organisation) komplett aus der Bahn geworfen und begann, meinen gesamten spirituellen Weg infrage zu stellen.

Vielleicht kennst du einige dieser Fragen auch von dir selbst? Ich begann, das Thema systematisch zu erforschen. Ich bin übrigens kein Psychologe oder Wissenschaftler, ich bin in der Wirtschaft und dem Beratungsbereich für NGOs, Gesundheits- und Kriminalprävention tätig. Ich verschlang alle Bücher, Forschungsberichte und Artikel, ich schaute alle Videos und hörte alle Podcasts, die sich mit Spiritual Bypassing, Spirituellem Materialismus, Neoliberalismus und Spiritualität sowie sonstigen Fallen auf dem spirituellen Weg befassten. Das meiste war auf Englisch, denn in den USA wird das Thema bereits länger diskutiert. Ich sprach mit allen möglichen Menschen in meinem Umfeld und weißt du was? Jeder, mit dem ich sprach, berichtete von eigenen Erfahrungen und Irrwegen. Außerdem fand ich heraus, dass ich persönlich ALLE diese Irrwege selbst beschritten hatte und in JEDE Falle selbst hineingetappt bin. Ich habe gebypasst und war so spirituell materialistisch, wie man nur sein konnte; mein Ego war spirituell. Ich dachte nur immerzu, ich sei spirituell. Mein Ego hielt mir die gesamte Zeit eine Karotte vor die Nase, der ich hinterherjagte, um mich so auf Trab zu halten, damit ich nicht bemerkte, dass es mich nur in die Irre geführt hatte, um bloß nicht bei mir selbst anzukommen.

Hajo Michels

Nach sechs Jahren fand ich heraus, dass die fünf wichtigsten Hindernisse, warum wir Spiritualität nicht authentisch praktizieren, die folgenden sind:

  1. Wir sehen die neoliberalistischen Mechanismen nicht, welche die Spiritualität gehijackt haben und uns in die Selbstoptimierungsfalle führen.
  2. Wir kennen die spirituellen Bypassing-Fallen nicht, und wie sie dazu führen, dass wir die tatsächlichen Themen und Gefühle umgehen.
  3. Wir wissen nicht, was spiritueller Materialismus ist und wie er dazu führt, Spiritualität nur mit dem Ego zu konsumieren.
  4. Wir sehen die Irrwege nicht, in welche uns das Ego verstrickt, um nur nicht anzukommen.
  5. Wir erkennen unsere Gewohnheit nicht, unerwünschte Teile abzuspalten, integrieren sie nicht und verhindern so, ganz zu werden.

»Jede Art von Spiritualität, die nicht in Aktion tritt, um sich für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen, ist und bleibt nur ein Egotrip.«

Was ist metaspirituell?

Metaspirituell ist Spiritualität jenseits von Konzepten und Religionen, frei von Führern und Gurus: Uns selbst annehmend, wie wir sind, um daraus die Kraft zu schöpfen, sich zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Es bedeutet:

  • Gefühle zu spüren und anzunehmen;
  • Spiritualität zu leben, nicht zu konsumieren oder als Selbstoptimierungsmethode zu missbrauchen;
  • die Schatten wahrzunehmen und zu integrieren, um uns wieder in unserer Ganzheit zu erfahren;
  • sich für das Allgemeinwohl zu engagieren.

Das Ziel:

  • Einfach ich zu sein und mich anzunehmen, wie ich bin.
  • Meine Gefühle wahrzunehmen, anzunehmen, zu integrieren und zu leben.
  • Zufrieden zu sein.
  • Mein Leben zu leben, nicht zu meistern.
  • Wahrheit in mein Leben und das meines Umfeldes zu bringen.
  • Sich aktiv für die Verbesserung der Lebensumstände einzusetzen.

Der Einfluss eines neoliberalistischen Leistungsdenkens in der Spiritualität bringt bei vielen Menschen Gefühle wie: »Ich bin nie genug«, »Ich komme nie an«, »Wenn ich das jetzt noch mache, dann ist es gut« hervor. Und so bleibt man stets im Hamsterrad der Selbstoptimierung gefangen und vergisst vor lauter Sich-selbst-verändern, sich selbst so anzunehmen, wie man ist und sich selbst zu lieben. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade das, was uns glücklich und zufrieden machen soll, zu einem Stressfaktor pervertiert und uns in einen spirituellen Burn-out stürzt.

Spirituelles Burn-out ist ein Zustand, in dem das Streben nach spirituellem Wachstum nicht zu Erleuchtung, sondern zu Erschöpfung und Entfremdung führt. Diese tiefgreifende Erschöpfung entsteht, wenn der spirituelle Pfad von den Fesseln des Egos, Materialismus und der neoliberalen Ideale gekapert wird. Die Betroffenen finden sich gefangen in einer Spirale aus spirituellem Bypassing, Materialismus und der unerbittlichen Suche nach einem »besseren Ich«, ohne jemals anzukommen oder Zufriedenheit zu empfinden.

Die Ursachen des spirituellen Burn-outs sind vielfältig, doch sie wurzeln tief in der Verflechtung von Spiritualität mit neoliberalen Werten und dem Konsumismus. Das Streben nach ständiger Selbstoptimierung und der Missbrauch spiritueller Praktiken als Mittel zur Flucht vor dem inneren Schatten und den ungelösten persönlichen Problemen führen zu einem Zustand, in dem die Seele nicht mehr atmen kann. Die Symptome reichen von chronischer Müdigkeit und Desillusionierung bis hin zu einem Verlust des Sinns für das Spirituelle.

Die Heilung von spirituellem Burn-out erfordert eine Rückkehr zur Authentizität und zur wahren Essenz spiritueller Praxis. Es geht darum, die neoliberalen Fallstricke zu erkennen, die Spiritualität in ein weiteres Rennen um Leistung und Anerkennung verwandelt haben, und sich stattdessen auf eine Praxis zu konzentrieren, die das innere Wachstum und die Heilung fördert.

Spüre ich Druck, ständig glücklich oder positiv zu sein, und ignoriere dabei meine wahren Gefühle oder Schwierigkeiten?

Habe ich das Gefühl, dass meine spirituellen Aktivitäten oder das Streben nach spirituellem Wachstum mich eher erschöpfen, anstatt mir Frieden und Erleichterung zu bringen?

»Metaspirituell ist Spiritualität jenseits von Konzepten und Religionen, frei von Führern und Gurus.«

Symptome scheinheiliger Spiritualität

Gefühle, die wir spirituell umgehen

 »Wir leben in einer Gesellschaft der Positivität, die sich jeder Form von Negativität zu entledigen sucht.« Byung-Chul Han: Palliativgesellschaft: Schmerz heute

 Der Zwang zur Positivität bedient sich heute auch der Spiritualität. Sinn ist es, möglichst resiliente, schmerzunempfindliche Leistungssubjekte zu formen, die immer glücklich sein müssen. Gefühle, die so mittels spirituellem Bypassing umgangen werden, sind: Scham – Schuld – Wut – Angst – Hass – Eifersucht – Trauer – Einsamkeit – Neid.

Welchen Gefühlen versuche ich mitunter auszuweichen?

 

Von der Dunkelheit ins Licht: Der Weg zur Schattenintegration

 »Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte.« Carl Gustav Jung

Die Vermeidung von Schattenarbeit dürfte wohl eines der größten Übel in spirituellen Kreisen sein. Da wird zwar gereinigt, praktiziert, Mantras rezitiert, Affirmationen aufgesagt oder gebeichtet oder gar mit positiver Psychologie den vermeintlichen Fehlern und negativen Seiten zu Leibe gerückt. Aber auf das Naheliegendste kommt man nicht. Schatten wollen immer nur eins, nämlich nicht abgespalten, sondern integriert werden. Sie sind ein Bestandteil unserer Persönlichkeit und ohne sie werden wir nicht ganz.

Welche Schatten versuche ich abzuspalten? Welche Persönlichkeitsanteile will ich nicht wahrhaben?

 

Spirituelle Konfliktvermeidung – Die Illusion der Harmonie

 »Die größte Offenbarung ist die Stille, die folgt, nachdem wir unseren inneren Konflikten ins Auge geblickt haben.« Laozi

 Eine typische Strategie des Spiritual Bypassing ist die Konfliktvermeidung, sei es durch Beschönigung oder Negierung des Problems. Mit Selbstleugnung oder mit Ausweichtaktik wird um jeden Preis versucht, eine offene Konfrontation zu vermeiden. Man versucht sich, den Schmerz zu ersparen, und versagt sich damit leider den Entwicklungsschritt. Das Ego tarnt diese Manöver als fortgeschrittene spirituelle Entwicklung, da man angeblich gar keine Konflikte mehr hat.

Welche Themen vermeide ich? Gehe ich Konflikte offensiv an?

 

Über das Verstecken hinter dem Spirituellen: Einblicke ins »Spiritual Whitewashing«

 »Die tiefste Heilung geschieht, wenn wir den Mut haben, uns jenseits des »Spiritual Whitewashings« zu begegnen.«

 »Spiritual Whitewashing« ist die Angewohnheit, Lebensereignisse mit pseudo-spirituellen, tatsächlich aber rationalen Erklärungen zu beschönigen, beziehungsweise so zu deuten, dass es keiner weiteren Handlung bedarf und wir uns einer tieferen Auseinandersetzung mit der Situation und den damit einhergehenden schmerzhaften Gefühlen entziehen.

Denke ich auch mitunter »ist Karma«, »Gott will es so« oder »wird mich spirituell weiterbringen« oder Ähnliches?

 

Selbstbespiegelung

»Egal, wo der Schuh drückt, wir sollen eine Lösung in uns selbst finden. Ich habe meine Zweifel, dass sich die Probleme der Welt dort lösen lassen.« Thorsten Padberg, Psychologe

In unserer atomisierten Gesellschaft ist die Gefahr groß, dass wir uns nur noch um uns selbst kümmern und den Rest der Gesellschaft vergessen. Ist es doch genau das, was der Neoliberalismus von uns möchte. Jeder soll sich nur um sich kümmern, und Gemeinsamkeiten sollen nicht mehr erkannt werden. So ist die Chance geringer, dass es zu Aufständen kommt. Hauptsache, die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt und rennen im Hamsterrad der Selbstbespiegelung und -optimierung immer weiter der Karotte, dem vermeintlichen Glück, dem optimalen Aussehen beziehungsweise Bankkonto oder der Erleuchtung hinterher. Und wenn ich schon nichts an den Verhältnissen ändern kann, dann richte ich es mir gemütlich in meiner spirituellen Blase ein.

Wie selbstkritisch betrachte ich mich im Verhältnis zur Gesellschaft?

Hajo Michels

Grausamer Optimismus

»Ein Verhältnis von grausamem Optimismus besteht, wenn etwas, das man sich wünscht, tatsächlich ein Hindernis für das eigene Gedeihen ist.« Lauren Berlant

Dieser von der Kulturtheoretikerin Lauren Berlant von der University of Chicago geprägte Begriff beschreibt das neoliberale Heilsversprechen von bestimmten spirituellen Richtungen, welche diese nicht einlösen können. So zum Beispiel: »Wenn du achtsam bist, hast du keinen Stress mehr.« Diese Aussage verkennt aber, dass das System, in dem wir leben, dysfunktional ist und den Stress verursacht. Der Einzelne, dem in neoliberalistischer Manier die »Verantwortung« für ein gesellschaftliches Problem zugeschoben wird, ist nicht in der Lage, dieses Dilemma aufzulösen, und erfährt in Folge eher mehr als weniger Stress. Denn jetzt kommt noch hinzu, dass er es nicht schafft, den Stress komplett abzubauen, und er selbst daran schuld ist.

Tappe ich in die Falle des »Grausamen Optimismus«? Welchen Heilsversprechen jage ich nach?

»Spirituelles Burn-out ist ein Zustand, in dem das Streben nach spirituellem Wachstum nicht zu Erleuchtung, sondern zu Erschöpfung und Entfremdung führt.«

 

Zwangs-Dankbarkeit

»Sich zu zwingen, in Zeiten von Stress dankbar zu sein, ist nicht nur ineffektiv. Es ist auch emotional schädlich.« Ashley Abramson

 Dankbarkeit ist das neue Trendgefühl, das alles richten soll. »Sei dankbar und alles wird gut« lautet das Motto der toxisch positiven Mitmenschen. Du hast gerade deinen Job verloren? »Sei doch dankbar, dass du ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hast.« Sie erzeugen damit einen Zwang, der uns vermitteln soll, dass dein aktuelles Gefühl nicht OK sei, sei also »gefälligst« dankbar. Dankbarkeit kann so dazu eingesetzt werden, sich selbst und andere nur noch mehr unter Druck zu setzen.

Wie gehe ich mit dem Thema Dankbarkeit um?

 

Spiritualität als Therapieersatz

»Die tiefsten Wunden können wir nicht allein mit Gebeten und Meditation heilen; sie erfordern oft die sorgfältige und kompetente Hand eines Therapeuten.«

 Hier geht es um den Glauben einiger Menschen, dass mit der spirituellen Entwicklung die psychische Entwicklung automatisch mitwächst und reift. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Mitunter, zum Beispiel bei Traumata, ist neben der spirituellen Entwicklung auch psychologische Arbeit notwendig, um als Gesamtperson reifen und wachsen zu können.

Versuche ich mittels Spiritualität, psychologische Probleme zu lösen?

 

Helfersyndrom und Gutmenschentum

»Die Anerkennung und das Gefühl, gebraucht zu werden, sind oft zentrale Motive hinter der übermäßigen Hilfsbereitschaft bei Menschen mit Helfersyndrom.« Dr. Doris Wolf

 Indem man sich vermehrt um die Bedürfnisse von anderen kümmert, kann man wunderbar von sich selbst ablenken und sich dabei auch noch gut und edel fühlen. Beides dient dem Ego, damit es sich nicht verändern und entwickeln muss, und vermeidet dadurch mögliche schmerzhafte Auseinandersetzungen mit sich selbst.

Neige ich zu Helfersyndrom oder Gutmenschentum?

 

Mangel an »guten« Gefühlen mit Aktionismus beantworten

»Statt sich selbst auch einmal zu erlauben, nicht gut gelaunt zu sein‹, wird der Zustand sofort als nicht wünschenswert und behandlungsbedürftig eingestuft.«

In unserer auf Glück und positiven Gefühlen getrimmten Gesellschaft hat sich in bestimmten spirituellen Kreisen die Unart etabliert, jedes »ungute« Gefühl direkt zu bearbeiten. Statt sich selbst zu erlauben, »nicht gut gelaunt zu sein«, wird der Zustand sofort als nicht wünschenswert und behandlungsbedürftig eingestuft. Je nach persönlicher spiritueller Ausrichtung wird ihm sodann sofort mit positiven Affirmationen, Mantras, Fantasiereisen, Meditation oder was auch immer zu Leibe gerückt und seine Vernichtung in Angriff genommen, um möglichst schnell zum gewünschten Normalzustand zurückzugelangen. Und der hat gefälligst ein gutes Gefühl zu sein.

Neige ich zu Aktionismus? Wenn ja, in welchen Themenbereichen?

 

Glücklichsein um jeden Preis

»Glück ist nicht nur zu einem nützlichen ideologischen Instrument geworden, um einige der grausameren Aspekte der Marktwirtschaft zu rechtfertigen, ihre Auswüchse zu entschuldigen und ihre Verrücktheiten zu verschleiern.« Barbara Ehrenreich

»Wenn du nicht glücklich bist, stimmt mit dir etwas nicht« ist ein weitverbreiteter Glaubenssatz in bestimmten spirituellen Kreisen. Durch diesen Glücksterror fühlen sich Menschen bemüßigt, sich entweder auf die Suche nach ihrem Glück zu begeben oder nach außen hin so zu tun, als ob sie glücklich wären, um bloß nicht aufzufallen. Studien beweisen jedoch, dass gerade der Versuch, glücklich zu sein, eher dazu führt, dass man es nicht ist.

Welche Bedeutung hat glücklich sein in meinem Leben? Ist es das oberste Ziel?

 

Psychische Probleme

»Insbesondere bei Menschen mit Traumata und Depressionen kann Meditation – zum Beispiel aufgrund von Flashbacks oder einer noch intensiveren, überwältigenden Wahrnehmung der inneren Vorgänge – zu einer Verschlechterung ihrer mentalen Gesundheit führen.« Jason Linder

Meditation ist nicht für jeden Menschen gut. Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, alten Traumata oder Depressionen können unter Umständen ihren Zustand verschlimmern. Durch exzessive spirituelle Praktiken können zudem auch psychische Probleme entstehen oder an die Oberfläche kommen.

Habe ich psychische Probleme, die sich durch spirituelle Praktiken verschlimmern könnten?

 

Spiritualität als Kontrollmittel

»Die Illusion, mittels spiritueller Praktiken Kontrolle und damit Sicherheit zu erreichen, zeugt von wenig Vertrauen ins Leben; es gibt keine Sicherheit.«

Das missbräuchliche Nutzen spiritueller Praktiken wie ständiges Tarot-Kartenziehen, Horoskope erstellen oder Mantras rezitieren dient oft dazu, aktuelle Gefühle zu verdrängen und Kontrolle über eine Situation oder das Leben zu gewinnen.

Nutze ich spirituelle Handlungen als Kontrollinstrument?

 

Ablehnung seiner selbst / Selbstverleugnung

»Glaube nicht alles, was du über dich denkst.« Byron Katie

Spiritualität kann manchmal fehlinterpretiert oder missbraucht werden, um das eigene Selbstwertgefühl zu untergraben. Einige Menschen könnten ihre eigenen Fehler überbetonen, indem sie diese als Zeichen mangelnder Spiritualität oder Unvollkommenheit interpretieren. Sie orientieren sich an Heiligen und empfinden sich im Vergleich zu diesen als schlechte Menschen. Andere könnten strenge religiöse oder spirituelle Lehren verwenden, um sich selbst oder ihre Wünsche als unwürdig oder sündhaft zu betrachten.

Ist in meinem Leben Spiritualität etwas, das mich aufrichtet oder eher etwas, wodurch ich mich schlecht fühle?

 

Positives Denken / Toxische Positivität

»Es vergiftet unser Leben, wenn wir uns ausschließlich auf das Gute fokussieren.« Michaela Brohm-Badry

Positives Denken ist der Versuch, die Schattenaspekte des Lebens mittels positiver Gedanken zu übertünchen und um somit die negativen Aspekte des Lebens, das Leiden, nicht spüren zu müssen. In der Steigerung hilft die toxische Positivität den AnwenderInnen, sich irgendwie über Wasser zu halten und dadurch nicht an ihre wirklichen Probleme und Schmerzen herangehen und diese lösen zu müssen.

Gibt es Bereiche in meinem Leben, in denen mein positives Denken in toxische Positivität übergeht?

 

Die verborgene Falle: Wie spirituelle Arroganz unser Wachstum hemmt

»Spirituelle Arroganz ist die gefährlichste und überheblichste aller Arten von Stolz.« Samuel Richardson

»Spirituelle Arroganz« hat unterschiedliche Ausprägungen. Zum einen äußert sie sich im Überlegenheitsgefühl, da man im Besitz der »wahren Lehre und des richtigen Glaubens« ist. Zum anderen, wenn man mit pseudo-spirituellen Ausreden sich vom Mitgefühl für andere Wesen abschneidet.

Versuche ich, andere von meiner spirituellen Position als der richtigen zu überzeugen?

 

Die Maske der Spiritualität: Wie man die spirituelle Persona erkennt

»Die spirituelle Persona ist eine Maske, die das wahre Selbst verbirgt.«

Unter »Spiritueller Persona« versteht man die Ausbildung und Zurschaustellung eines Persönlichkeitsanteils oder einer Gesamtpersona, die Spiritualität nur aufführt oder spielt, wie ein Schauspieler nur eine Rolle spielt. Es handelt sich nicht um echte gelebte Spiritualität, sondern nur um eine eingeübte und zur Schau gestellte Form der Spiritualität. Dabei werden einige Charaktereigenschaften oder Handlungen besonders häufig »vorgetäuscht«, da sie hohes spirituelles Ansehen mit sich bringen. Hat man diese angenommen oder verkörpert, so gilt man etwas in seinen Kreisen. Beispiele sind:

Großzügigkeit – Toleranz – Mitgefühl – Geduld – Vertrauen – Urteilsfreiheit – Dankbarkeit – Vergebung – Meditation – Gebete – rituelle Handlungen und viele mehr.

Welche Charaktereigenschaft ist meine Lieblingsrolle?

»Eine typische Strategie des Spiritual Bypassing ist die Konfliktvermeidung, sei es durch Beschönigung oder Negierung des Problems.«

 

Falsche Sicht und die Nebel der Erkenntnis

»Ein Teich, der von Schlamm getrübt ist, klärt sich mit der Zeit; so kann Meditation falsche Sicht klären.«

»Falsche Sicht« ist, wenn man einen bestimmten Sachverhalt der eigenen Religion komplett missversteht. Zum einen kann das passieren, wenn man einen einzelnen Gedanken aus dem Kontext herausnimmt und er dadurch eine vollkommen falsche Bedeutung erfährt. Oder aber, wenn man ein bestimmtes spirituelles Konzept nur intellektuell »versteht«, aber nicht wirklich erfahren hat.

  • a) Die »Alles ist Illusion«-Falle

Mitunter verrennen sich spirituell Praktizierende in die Falle, dass alles nur Illusion oder Maya ist. Auch wenn das auf der absoluten Ebene wahr ist, so müssen wir uns doch auf der relativen Ebene, in der wir leben, mit der Realität auseinandersetzen.

  •  b) Neo-Advaita-Ausrede

Einige Deutungen im Neo-Advaita erklären, man müsse nichts mehr tun, da alles bereits vorbestimmt sei. Oder das Narrativ: »Wir sind alle schon erleuchtet und müssen nichts mehr tun.«

  •  c) Nihilismus-Ansatz

Dabei werden jegliche Wirklichkeit, Erkenntnis und Erfahrung oder jegliches Konzept als nicht existent abgetan und man sonnt sich in seiner nihilistischen Überzeugung, welche einen vermeintlich über die anderen, noch an etwas Glaubenden, erhebt.

  •  d) Neo-Liberale Spiritualität

propagiert ein kapitalistisches Weltbild, in dem wir selbst für die Umstände, in denen wir leben, verantwortlich gemacht werden. Als Erlösung wird uns dann Spiritualität angeboten, mittels der wir die Umstände besser ertragen können, ohne sie jedoch zu verändern. Der Fehler oder die Probleme werden bei einem selbst und nicht im System gesucht.

Gibt es Bereiche, in denen ich eine falsche Sicht vertrete beziehungsweise eine der oben genannten Ausprägungen habe?

 

Spirituelle Mystifizierung als ein Spiegel der inneren Suche nach tieferem Sinn und Verständnis

»Mystifizierung ist der Schleier, hinter dem wir unsere Ängste verbergen.«

Wer kennt sie nicht, die Zeitgenossen, die bei jeder Erwähnung eines Missgeschicks nach der »Ursache« forschen oder schlechtes Karma, was immer das sein mag, wittern? Jede Krankheit wird sofort pathologisiert und es wird eine mystische Ursache hineininterpretiert. Auch hier wird das meist gemacht, um den Schmerz nicht spüren zu müssen und sofort wieder Macht über die Situation zu erlangen. Es wird ein Etikett draufgeklebt, in eine Schublade gesteckt und die Welt ist wieder in Ordnung. Ich muss mich nicht dem Schmerz stellen oder eine andere Person in ihrem Schmerz sehen, was mich zwingen würde, darauf zu reagieren und vielleicht sogar meinen eigenen Schmerz anzuschauen und zu spüren.

Welche Themen in meinem Leben oder im Umfeld mystifiziere ich, um sie zu umgehen?

 

Spirituelle Wokeness

»In ihrem Streben nach moralischer Reinheit kann die spirituelle Wokeness zur Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen neigen.«

»Spirituelle Wokeness« geht über die bloße politische Korrektheit hinaus und nimmt pseudo-religiöse Züge an. Denn diejenigen, die sie praktizieren, wägen sich alleine im Besitz der Wahrheit und der moralischen Autorität, Sachverhalte und Menschen zu be- und verurteilen. Es ist eine Bewegung, die nach Klarheit in einer immer komplexeren Welt sucht, in der Grauzonen verschwinden und klare Linien wie schwarz-weiß, Freund-Feind, Täter-Opfer gezogen werden. Eine Bewegung, die keine Gnade kennt, wenn es um politische oder spirituelle »Wahrheit« geht.

Habe ich zu allem eine Meinung? Und zwar die richtige?

 

Selbstoptimierungswahn

»Wahre Spiritualität ist nicht das Streben nach einer idealen Version von uns selbst, sondern die Annahme unserer unvollkommenen Ganzheit.«

Auch die Spiritualität wurde vom neoliberalistischen, kapitalistischen Gedankengut der Optimierung um jeden Preis gekapert. Teile der Yogaindustrie haben sich schon früh vor den Karren der Selbstoptimierung spannen lassen. Mittlerweile werden MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) oder Meditation von einzelnen Anbietern als DIE Techniken vermarktet, um Mitarbeiter stressresistenter, leistungsoptimierter und -effizienter zu machen. Aber was ist die Botschaft hinter all dieser Selbstoptimierung? »So wie du bist, bist du nicht in Ordnung. Du musst besser werden!« Dem Individuum wird alle Verantwortung seines persönlichen Erlebens zugeschoben und so verhindert, dass man erkennt, dass das System für viele Probleme verantwortlich ist.

Neige ich dazu, Spiritualität zur Selbstoptimierung zu nutzen? Erkenne ich die Selbstoptimierung als Systemfehler?

 

Anhaftung an spirituellen Errungenschaften

»Je mehr wir uns an unsere spirituellen Praktiken klammern, desto weiter entfernen wir uns von der wahren Erleuchtung.«

Im Buddhismus wird gelehrt, dass Anhaftung und als Gegenpol Abneigung Ursachen für Leid sind. Wie ironisch ist es da, dass gerade in spirituellen Kreisen Anhaftung kultiviert wird. Indem man immer mehr Mantras rezitieren, mehr spirituelle Praktiken absolvieren »muss«, immer intensivere Erfahrungen gesucht und längere Samadhi-Erlebnisse angesammelt werden, wird der spirituelle Pfad ad absurdum geführt.

Gibt es spirituelle Erfahrungen, die ich wiederholen oder steigern möchte oder auf die ich besonders stolz bin?

 

Anm. d. Red.: Dieser Text ist eine gekürzte Fassung von Hajo Michels Broschüre zum Kongress »Scheinheilig – entlarve die Schattenseiten der Spiritualität«. In der Broschüre sind noch viele weitere Symptome aufgeführt. Link zur Broschüre: integer-sein.de/scheinheilig

Hajo Michels

Zum Autor

Hajo Michels ist Kongressveranstalter, Community-Gründer von integer-sein.de und Host des Podcasts »Integrität ist meine Superpower!«. Er bietet inspirierende Kurse und Challenges sowie Mentoring rund um gelebte Integrität und persönliche Weiterentwicklung an.

Bildnachweise: © Adobe Stock

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