Unser Kloster in der Seniorenresidenz
16 Ordensfrauen des Dominikanerordens entscheiden, ihre letzte Lebensphase gemeinsam in einer Seniorenresidenz zu verbringen, um gemeinsam vom Leben Abschied zu nehmen. Die spirituelle Begleiterin und Gestalttherapeutin Irene Schneider steht ihnen dabei zur Seite. Im folgenden Gespräch teilt sie mit uns die Herausforderungen sowie die lichtvollen Momente, die einem in der letzten Lebensphase begegnen, und erläutert, wieso ein Leben in Liebe und Verbundenheit einem dabei hilft, der eigenen Vergänglichkeit und dem Sterben gelassener entgegenzublicken.
Tattva Viveka: Liebe Frau Schneider, erzählen Sie uns bitte von Ihrer neuen Tätigkeit.
Irene Schneider: Nach meiner Arbeit auf dem Benediktushof war ich auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, als mich eines Tages eine therapeutische Kollegin, die Ordensschwester ist, fragte, ob ich nicht Lust hätte, eine Gemeinschaft von Ordensfrauen, die in eine Seniorenresidenz gezogen sei, in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten. Anfangs waren es dreizehn. Später kamen welche hinzu, drei Schwestern sind in den letzten eineinhalb Jahren auch gestorben. Aktuell ist es eine Gemeinschaft von 16 Schwestern. Diese Ordensfrauen sind zwischen 78 und 95 Jahre alt und haben ihr Kloster verlassen, da keine jungen Schwestern in ihre Nachfolge treten werden. Als ihnen klar wurde, dass es keine Nachfolgerinnen geben wird, gingen sie den gesamten Prozess proaktiv an und entschieden gemeinsam, dass sie nicht in ihrem Kloster bleiben möchten, bis die letzte das Licht ausmacht oder eine nach der anderen in ein Pflegeheim verlegt wird.
Sie wollten sich als Gemeinschaft einen neuen und letzten Ort suchen, wo sie bleiben konnten. So fanden sie eine Seniorenresidenz, die bereit war, eine Gruppe von Ordensfrauen bei sich aufzunehmen. Ich halte dies für sehr mutig, da eine solche Gruppe auch eine eigene Dynamik in der Einrichtung entwickeln könnte. Manche Pflegekräfte hatten bereits die Sorge, dass sie nun missioniert werden. Doch diese Sorge hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil: die Schwestern werden von den Bewohner:innen wie auch den Pflegekräften als große Bereicherung erlebt. Alle Ordensfrauen bewohnen ein Einzelzimmer, ein Doppelzimmer wurde als Gebetsraum eingerichtet und so leben sie jetzt ein wenig klösterlich in der Seniorenresidenz. »Unser Kloster in der Seniorenresidenz« nenne ich es. Ich wurde als Externe angestellt, um die Schwestern in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten und um die Bedingungen zu schaffen, damit sie gut leben sowie gut sterben können. Mein Aufgabenbereich umfasst alltägliche Angelegenheiten: von der Vereinbarung von Arztterminen über das Suchen eines Priesters für die Messe bis hin zur Sterbebegleitung. Ebenso leite ich Gesprächsrunden oder stehe für Einzelgespräche zur Verfügung. Im Krankheits- oder Todesfall bin ich ebenfalls die Ansprechperson. Ich habe die Vorsorgevollmacht für die Schwestern.
TV: Was bedeutet es für Sie, würdevoll zu sterben?
Irene: Ein würdevolles Sterben bedeutet, dass der Mensch in seinem So-sein respektiert wird. Das klingt erst einmal abstrakt, doch es umschließt all die Facetten des Menschen, seien es seine Wünsche, Stimmungen und Bewegungen von vor und zurück, von innen und außen. Des Weiteren, dass man sich als Begleitperson die Zeit nimmt, um sich gemeinsam die Vergangenheit anzusehen und sich aus dieser erzählen zu lassen, und dass man in die Zukunft blickt, wie auch immer diese Zukunft aussehen mag. Ich möchte den Menschen vermitteln, dass das, was sie auszeichnet, sowie ihre Gefühle, so sein dürfen, wie sie sind. Sie sollen nicht bevormundet werden und auf die Selbstbestimmung soll, soweit es geht, geachtet werden. Es ist essenziell, dass wenn man sich in einer hilflosen Position befindet, keine Grenzüberschreitungen stattfinden, obwohl ab und zu auch Grenzen gesetzt werden müssen. Zum Beispiel: eine schwerkranke Ordensschwester klingelt ständig das Pflegepersonal an, wenn sie allein ist. Sei es aus Angst oder Unsicherheit heraus. Doch es ist nicht möglich, dass sich alles um eine Person dreht, denn die Ressourcen der Pflegekräfte sind begrenzt, und es gibt viele bedürftige Personen in der Einrichtung. Darauf muss auch hingewiesen werden. Dennoch bemühe ich mich darum, so gut es geht, auf die Bedürfnisse und Wünsche einzugehen. Außerdem erachte ich es als wichtig, dass der sterbende Mensch die Richtung vorgibt, also die Themen benennt, und nicht umgekehrt. Wir als Außenstehende wissen nicht, was gebraucht wird. Das weiß der Mensch immer am besten selbst.
TV: Würden Sie sagen, dass religiös gesinnte Menschen, wie die Ordensfrauen es evident sind, einen friedlicheren Umgang mit dem Tod pflegen als säkular geprägte Menschen, also dass sie friedvoller dem Tod entgegenblicken, oder ist der Unterschied nicht signifikant?
Irene: Die Pflegekräfte meldeten mir zurück, dass sie es interessant fänden, dass die Schwestern vom Heimgehen sprechen, wenn sie sich auf das Sterben beziehen. Das ist ein anderes positives Bild, als zu sagen, es kommt nichts mehr nach dem Tod, ich gehe jetzt ins Nichts, ich falle in ein Loch oder in die Dunkelheit. Oder: Ich will jetzt beim Herrn sein. Dieser Ausdruck stammt aus einer veralteten religiösen Sprache, wobei er ebenfalls eine positive Perspektive in sich trägt.
»Die Schwestern sprechen vom Heimgehen, wenn sie sich auf das Sterben beziehen.«
Kürzlich äußerte eine der Ordensfrauen während eines Gesprächskreises, sie sei neugierig auf das, was nun auf sie zukommen werde. Sie spürt eine gewisse Vorfreude und ist neugierig. Meines Erachtens geht es bei dieser Fragestellung nicht um die Religiosität im engeren Sinne, sondern um Spiritualität im weiteren Sinne. Genauer gefragt: Erlebe ich mich in der Verbundenheit oder in der Getrenntheit? Dabei ist es zweitrangig, welche konkrete Form oder welcher Name der Verbundenheit gegeben wird, sei es Gott oder Vater oder All-Eins. Das sind sprachliche und kulturelle Strukturen, die man darüberlegt. Am Ende hängt es viel mehr mit dem Inneren des Menschen zusammen. Doch es lässt sich nicht abstreiten, dass eine jahrzehntelange Religions- oder spirituelle Ausübung einem dabei hilft, solch eine Haltung zu kultivieren, als wenn man sich sein gesamtes Leben lang überhaupt nicht damit befasst hat.
»Wie vertraut man damit ist oder wie man die Menschen begleitet, hängt nicht so stark von der Religion ab, als von der inneren Haltung.«
Einige der Schwestern haben selbst Erfahrungen mit Sterben und Tod sowie der Begleitung dieses Prozesses gemacht. Einige von ihnen arbeiteten im Krankenhaus, manche in Armenvierteln in Argentinien, andere in Südafrika in den Townships mit Aidskranken. Wie vertraut man damit ist oder wie man die Menschen begleitet, hängt nicht so stark von der Religion ab, als von der inneren Haltung. Beim Thema Spiritualität ist das Loslassen essenziell, wie wir es in der Kontemplation oder in der Meditation üben. Man lässt los, doch gleichzeitig ist man sich bewusst, dass man sich in der Verbundenheit befindet. Ich würde sagen, dass ich aus der Einheit komme, in der Einheit bin und in die Einheit zurückgehe. Als einmaliger Mensch bin ich eine Facette aus dieser großen Fülle, die wir Einheit oder Gott oder sonst wie nennen und die sich in mir konkret inkarniert hat. Während meines Lebens lebe ich meine Einmaligkeit, während ich gleichzeitig in dieser Einheit im Sinne von Verbundenheit und Liebe bin. Und am Ende des Lebens kehre ich wieder ganz in diese Einheit, in die Fülle zurück.
TV: Sie würden sagen, dass man nicht gegen den Tod ankämpfen, sondern ihn akzeptieren sollte?
Irene: Wir haben bereits bei unserer Geburt die todbringende Diagnose erhalten, dass wir sterblich sind. Die konkrete folgt dann irgendwann später. Der Tod kommt sowieso, ob wir ihn akzeptieren oder nicht. Doch natürlich kann man noch etwas tun, anstatt bloß abzuwarten. Von den Pflegekräften erhalte ich immer wieder berührende Rückmeldungen. Gestern sagte mir eine Pflegekraft, dass sie es großartig fände, dass die Schwestern noch aktiv ihr Leben leben und sich nicht in den Sessel setzen, resignieren und auf den Tod warten. Oft ist dies ein Ausdruck von Resignation vor dem Tod, anstatt einer Akzeptanz davon.
»Widerstand und Ergebung, wie Bonhoeffer sagt. Es geht darum, die Balance zu finden.«
Denn auch im letzten Lebensabschnitt befindet man sich weiterhin zwischen den Polen von Tun und Lassen, von Kampf und Kontemplation, Widerstand und Ergebung, wie Bonhoeffer sagt. Es geht darum, die Balance zu finden. Neues tun und sich gleichzeitig nach innen wenden oder loslassen. Eine Schwester, die Parkinson hat, spielt jeden Tag Keyboard, weil sie beweglich bleiben und nicht resignieren möchte. Es ist unser Bestreben, die Balance, die wir in unserem Dasein stets angestrebt haben, auch im letzten Lebensabschnitt zu bewahren. Es geht darum, die Herausforderungen des Alters anzunehmen, wobei das Loslassen gefordert wird: bei einer Schwester habe ich den Eindruck, dass sie sich schwertut, ihr Alter und das Loslassen zu akzeptieren; anzunehmen, dass nun andere die Verantwortung übernehmen und sie sich auch ausruhen darf und keine Verantwortung mehr innehat. Wer bin ich dann noch?
TV: Meinen Sie, dass manche Angst davor haben, sich von anderen abhängig zu machen? Immerhin leben wir in einer Gesellschaft, die stark auf Unabhängigkeit und Autonomie setzt. Man gesteht nur Kindern und Jugendlichen ein, von anderen abhängig zu sein. Danach sollten wir alle so gut wie möglich für uns selbst sorgen.
Irene: Dadurch, dass die Ordensschwestern bereits so lange in einer Gemeinschaft leben, haben sie ein anderes Verständnis von Unabhängigkeit. Sie sind sich bewusst, wie abhängig alle voneinander sind. Gleichzeitig wissen sie um ihre Autonomie, da sie immer ein Stück weit für sich selbst gesorgt haben und auch Führungsaufgaben innehatten. Diese Generation von Frauen lebte entweder in einer Ehe oder im Orden – das muss man sich auch vor Augen führen. Obwohl sie für sich persönlich keine finanzielle Verantwortung tragen mussten, trugen sie durch ihr Einkommen dazu bei, dass der Orden lebt. Von daher haben sie schon immer diese Balance zwischen Autonomie und Hingabe gelebt. Dennoch fällt es den Schwestern nicht leicht, sich einzugestehen, dass sie nun stärker von anderen abhängig sind. Die Einstellung »Ich muss das selber können« verschwindet nicht von einem Tag auf den nächsten. Außerdem fühlen sie sich stark für andere verantwortlich, die Haltung »Ich muss für andere da sein«, ist ebenfalls stark ausgeprägt. Dabei muss man bedenken, dass die Tugenden der Selbstlosigkeit und der tätigen Nächstenliebe Teil des christlichen Selbstverständnisses sind.
TV: Wie kann die spirituelle Praxis, die man wie im Falle der Ordensschwestern ein Leben lang kultiviert hat, als Stütze bis zum Tod dienen oder bricht diese auch irgendwann weg?
Irene: Ich habe das Gefühl, dass es lebenslang eine große Ressource ist. Im Falle der Schwestern richtet sich die spirituelle Praxis sowohl an andere als auch an sich selbst. Einerseits erfüllen sie noch ihren Auftrag, für andere zu beten. Dies tun sie, wenn sie zum Beispiel im Rahmen des Fürbittbuches konkrete Anliegen von Menschen sowie die Welt ins Gebet nehmen und beispielsweise um Frieden bitten. Auf der anderen Seite tun sie dies auch für sich selbst. In diesem Falle beten die Schwestern den Rosenkranz. Das Rosenkranzgebet ist, wenn man es rein traditionell betrachtet, ein Wiederholungsgebet. Man könnte es auch Mantra nennen. Mantrisches Beten ist eine große Ressource, da sie einen mit dem Größeren verbindet, das in ihrer Sprache Gott, Gottvater oder Herr heißt, und dies schafft Vertrauen.
»Der Dominikanerorden ist der Predigerorden, wobei nicht nur durch das Wort, sondern insbesondere durch die Tat verkündet wird.«
Bei einer spirituellen Praxis spielen Vertrauen und das Üben von Vertrauen eine herausragende Rolle. Man lässt los im Vertrauen, dass etwas Neues kommen wird. Dieses Vertrauen beweisen sie, indem sie diesen letzten Schritt gewagt haben und nun gemeinsam in dieser Seniorenresidenz leben. Sie sagen selbst, dass es nicht einfach war, doch ihnen hätte gleichzeitig nichts Besseres passieren können. Durch diese Entscheidung, in die Seniorenresidenz zu gehen, wird auch ihr Auftrag noch einmal lebendig. Der Dominikanerorden ist der Predigerorden, wobei nicht nur durch das Wort, sondern insbesondere durch die Tat verkündet wird. Dadurch sehen sie für sich noch einmal ihren Auftrag als bestätigt. Wir sind hier und verkünden selbst in unserer letzten Lebensphase noch. Ohne es absichtlich zu tun, sondern aus ihrem selbstverständlichen Sein und Wirken heraus.
Um zu der Frage der spirituellen Praxis zurückzukommen: Loslassen bedeutet ebenfalls im Augenblick sein, den Augenblick gestalten und annehmen. Was ich außerdem stark bei den Schwestern erlebe, ist die Haltung der Dankbarkeit. Sie sind sich stark ihrer Gaben und Geschenke bewusst, die ihnen das Leben gemacht hat. Wenn ich solch eine Haltung ein Leben lang übe, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie mir am Ende weiterhin zur Verfügung steht, als wenn ich sie nie geübt habe.
TV: Ja, auf jeden Fall. In der Bhagavad Gita steht geschrieben, dass man nach dem Tod dahin geht, woran man sich in der Sekunde des Todes erinnert. Darauf kann man hinarbeiten, denn man wird sich an das erinnern, was einem im Leben am wichtigsten war, beziehungsweise womit man sich am meisten beschäftigt hat. In dem Moment des Sterbens kann man dies jedoch nicht willentlich steuern, in dem Sinne »Ach ich denke jetzt an den lieben Gott und dann gehe ich zum lieben Gott«, sondern das muss zuvor geübt werden.
Irene: Das glaube ich auch. Deswegen ist es wichtig, sich mit dem Tod und Sterben auseinanderzusetzen. Zweifelsfrei gibt es eine Phase, in welcher der Mensch stärker darauf zugeht, doch das Sterben und Loslassen geschieht immer wieder in unserem Leben. Die Konfrontation damit ist ebenfalls kontinuierlich. Bei den Benediktinern heißt es, den Tod beständig vor Augen zu halten. Gleichzeitig habe ich in meiner Erfahrung beim Tod meines Mannes gemerkt, dass der Satz »Lebe jeden Tag so, als ob es dein letzter wäre« für mich nicht praktikabel ist, da er eine Spannung mit sich führt, die ich nicht aushalten kann. Zumindest habe ich gemerkt, dass ich so nicht leben kann. Ich brauche eine Zukunftsperspektive. Im Endeffekt war ich erleichtert, als der Tod tatsächlich eingetreten war. Ich habe mich nicht gefreut, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, doch es ist irgendwann eine kaum noch auszuhaltende Spannung, denn man weiß, dass es geschehen wird und es danach kein Zurück mehr gibt.
Nichtsdestotrotz muss man es aushalten, denn man weiß nicht, wann es passiert. Es ist wieder einmal ein Balanceakt: Einerseits sich bewusst zu sein, dass der Tod in jedem Moment eintreten kann, andererseits nicht immer nur zu sagen: Ich habe nur den heutigen Tag. Das habe ich deutlich für mich gewonnen. Um das Gleichgewicht zu halten, ist wie immer das Vertrauen essenziell.
TV: Die Themen Vergebung und Reue beschäftigen viele Menschen kurz vor dem Sterben. Wie gehen die Schwestern damit um? Haben Sie Gewissensbisse oder fühlen sie sich tendenziell im Reinen mit sich?
Irene: Diese beiden Themen sind in der Begleitung bisher nicht explizit angesprochen worden. Das könnte damit zusammenhängen, dass die Schwestern im Laufe ihres Lebens regelmäßig gebeichtet haben, was ebenfalls eine spirituelle Praxis ist. Die Beichte wird nicht am Lebensende abgelegt, sondern immer wieder im Leben.
Auf diese Weise kann man sich das, was einen belastet, bewusst machen und kann infolgedessen in einem Beichtgespräch losgelassen werden. Aus meinem Leben kenne ich es – obwohl ich keine Praktizierende mehr von diesen Traditionen bin – dass durch das bewusste Innehalten und Bearbeiten viele Themen losgelassen und vergeben werden können. Das ist meines Erachtens ein grundmenschliches Thema, das sich einerseits verstärkt, wenn man erkennt, dass einem nicht mehr viel Zeit zur Verfügung steht. Andererseits muss die Verarbeitung dieses Gefühls oder dieser Einsicht früher oder später sowieso geschehen – ob in Anbetracht des Todes oder nicht. Die beiden Schwestern, die ich bisher bei ihrem Übergang begleitet habe, hatte ich kurz zuvor noch gefragt, ob es noch etwas gäbe, was sie sagen möchten. Beide antworteten mir, dass alles rund sei und es nichts mehr zu sagen gäbe.
TV: Das, was sie zuvor über die Beichte gesagt haben, fand ich überaus interessant. Gegenwärtig verbinden viele Menschen mit der Beichte eine veraltete Praxis, in der man für sein Fehlverhalten verurteilt wird und danach Sühne tun muss. Ich habe es bisher nicht als eine Praxis gesehen, die dem Herzen des Menschen Erleichterung bringen kann, nachdem man sich etwas »aus dem Herzen« gesprochen hat. Sich mitzuteilen, ohne verurteilt oder bewertet zu werden, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das die Beichte, wenn sie mitfühlend angewendet wird, auch erfüllen kann.
Irene: Dieses urteilende Verständnis der Beichte ist ein Fehlverständnis, denn ursprünglich ging es darum, sich sein Leben von Grund auf anzusehen und sich neu auszurichten – frei von Ballast, Schuld und Verstrickungen. Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens, empfiehlt, sich am Ende des Tages wertfrei zu fragen, was geschehen ist, wofür man dankbar ist, wofür man um Heilung bittet, was man bereut und das daraufhin Gott vorzulegen, um ihn um Heilung und Vergebung zu bitten. Damit gibt man vor sich selbst zu, dass man nicht perfekt, sondern fehlerhaft ist. Dies gesteht man sich aber nicht ein, um sich kleinzumachen – was das Problem in der katholischen Tradition gewesen ist – sondern um die Tatsache zu akzeptieren, dass man ein Mensch mit Licht und Schatten ist. An sich ist es eine barmherzige Praxis, in der man sich eingestehen darf, dass man weder vollkommen noch perfekt ist und es auch nicht sein braucht.
Außerdem wendet man sich an einen Menschen, also an einen Priester, der das wertfrei aufnimmt und zuhört. Vieles ist in der katholischen Tradition nicht ideal gelaufen, doch bei aller Kritik vergessen wir oftmals, wie wertvoll diese Ansätze sind und wie sehr es unserer Gesellschaft aktuell daran ermangelt. Bei aller Offenheit für andere Religionen bin ich christlich geprägt und immer wieder darüber erstaunt, wie schwer es ist, andere Religionen wirklich zu erfassen, und zwar nicht nur kognitiv, sondern von ihrer Tradition her. Was mich dabei an der christlichen Praxis fasziniert, ist, dass die mannigfaltigen Facetten des Menschseins als bedeutend erachtet werden und ihren Wert haben.
»Schuld oder Reue sind letzten Endes nicht entscheidend. Entscheidend ist die Liebe, das Sein in der Liebe.«
Außerdem regt sie einen an, das Menschliche in sich nicht zu verdrängen, sondern lebensförderlich einzusetzen. Dies gilt jedoch eher für das christliche Grundverständnis als für die kirchliche Praxis, die oft das Gegenteil predigt. In diesem Zusammenhang können wir an den aggressiven Jesus, der im Tempel wütet, denken. Diese Passage zeigt auf, dass diese Seite des Menschseins ebenfalls sein darf und aus einer Haltung des Mitgefühls, der Barmherzigkeit angesehen oder gelebt werden darf, und das spielt für mich bei dem Thema Reue, Vergebung oder Schuld mit hinein. Sie gehören auch zum Menschsein dazu, sie dürfen sein, doch sie haben nicht das letzte Wort. Schuld oder Reue sind letzten Endes nicht entscheidend. Entscheidend ist die Liebe, das Sein in der Liebe oder das Sein in der Verbundenheit, aus der mich nichts hinauswerfen kann. Selbst die Schuld oder der Tod können mich nicht aus dieser Verbundenheit hinauswerfen. Das ist ein zutiefst christlicher Gedanke.
Wenn ich mich in dieser Haltung übe oder mich in meiner Meditationspraxis daran erinnere, hoffe ich für mich, dass dies mir auch mehr oder weniger gelingen wird, wenn es um meinen Abschied, mein Sterben geht. Wenn ich über das Sein in der Verbundenheit spreche, werde ich leidenschaftlich. Ich bin verbunden, ob ich nun fünf Stunden am Tag während eines Retreats meditiere oder eine halbe Stunde, es ändert nichts daran. Diese Übung brauche ich, um mich daran zu erinnern, dass ich verbunden bin, jedoch nicht, um diese herzustellen – wie wir oft denken. Das können wir sowieso nicht. Die christliche Idee selbst besagt, dass Jesus uns erlöst hat, was bedeutet, dass uns nichts trennen kann, abschneiden kann von der Verbundenheit. Paulus schreibt, dass uns nichts von der Liebe Gottes trennen kann, die in uns ist: weder Gewalten der Unterwelt noch irgendetwas anderes. Weil Jesus in dieser Verbundenheit, in diesem Einssein – wie es im Johannesevangelium heißt – gelebt hat und daraus gelebt hat und uns damit sagt, dass wir genauso in dieser Verbundenheit leben. Indem ich mir meine Verbundenheit konstant bewusst mache, erfahre ich sie auch. Ich erfahre sie während Gipfelerlebnissen in einer Meditation, in Momenten der Zeitlosigkeit, in der Natur oder in der Begegnung mit Menschen. Ich muss diese Verbundenheit nicht herstellen. Sie ist da, doch ich kann mich selbst daraus entfernen. In diesem Zusammenhang ließe sich von Sünde sprechen. Sünde bedeutet, sich absondern, in die Trennung gehen. Ich glaube, dass es auch beim Sterben darum geht. Ich komme aus der Verbundenheit oder Einheit und ich gehe wieder darauf zu. Es ist möglich, dies bewusst zuzulassen oder sich zu fragen, was einen daran hindert, in dieser Verbundenheit, in diesem Vertrauen, zu leben.
Dies sind wiederkehrende existenzielle Fragen, die wir uns jeden Tag stellen können, da sie uns auch im Alltag begegnen. Häufig ist man sich abstrakt bewusst, dass man verbunden ist, fühlt es jedoch nicht aufgrund all der Konflikte und Widerstände, mit denen man sich konfrontiert sieht. Doch gerade diese Reibungen führen einen dazu, sich zu fragen, wieso man nicht im Vertrauen oder nicht in der Verbundenheit ist. Was hindert einen daran, sich verbunden zu fühlen? Das ist anscheinend eine Frage, die uns lebenslänglich beschäftigen wird. Die Antworten, die man für sich während des Lebens darauf gefunden hat, werden sich womöglich auch in dem Moment spiegeln, in dem man kurz davor ist, hinüberzugehen. Als Mensch mache ich in der Regel bereits früh Erfahrungen der Unverbundenheit, des Ungeliebtseins, und diese Erfahrungen lösen Ängste aus, die ausdrücken, dass ich mich in meiner Existenz bedroht fühle. Das ist eine Wirklichkeit, die es uns schwer macht, uns als verbunden zu empfinden. Zwar ist dies Teil unseres Menschseins, doch wir können die Hindernisse hinterfragen und abbauen.
In meinen Kursen zur Ich-Selbst-Verkörperung lade ich die Menschen dazu ein, die zwei Seiten unseres Menschseins, die Verbundenheit und Einmaligkeit darzustellen und zu verkörpern. Es ist irre, zu spüren, wie die Menschen plötzlich diese spürbare Verbundenheit fühlen. Ich leite die Übungen an und die Menschen spüren die Verbundenheit. Das ist faszinierend, – auch wenn sie merken, dass ein trennender Schleier dazwischen ist, der die Verbindung zwischen dem eigenen menschlichen einmaligen Teil und dem universellen Teil verhindert. Nach solchen Verbundenheitserfahrungen kann man erörtern, wohin diese Hindernisse gehören. Man kann beispielsweise erkennen, dass die Erfahrung, dass ich Leistung bringen muss, um geliebt zu werden, zu meinem Vater gehört, ich es aber bislang auf Gott projiziert habe. Diese existenziellen Erfahrungen in unserem Menschsein, die Erfahrungen von Anspruch, von Liebe verdienen müssen, von überfordernder Einsamkeit, übertragen wir auf Gott und denken infolgedessen, dass wir nicht in der Verbundenheit leben. Zu erkennen, dass dies nicht stimmt, ist die innere Arbeit der Reifung oder des Wachstums, die bis ans Lebensende reicht. Eine Schwester zum Beispiel war ihr Leben lang immer sehr angepasst und nun entdeckt sie in ihrer Hilflosigkeit – sie ist wirklich ans Bett gebunden – ihren nach außen gerichteten Willen, also ihren »Ich will«. Ich bin der Meinung, dass dies berechtigt ist, da es darum geht, eine Facette ihrer selbst zu leben. Auch dies gehört zum Leben.
Diese Schwester schrieb im Jahr 1977 ihre Abschlussarbeit am Ende ihres Studiums in Rom über das Verständnis von Gehorsam bei der heiligen Katharina von Siena, die Dominikanerin war, und sie bat mich darum, ihr diese Arbeit vorzulesen, die sie, nachdem sie diese verfasst hatte, nie wieder gelesen hat. Inzwischen lese ich ihr jeden Tag ein paar Seiten vor, und es fasziniert mich, dass ihre eigene Arbeit neu zu ihr spricht, denn es geht um Gehorsam und um Hingabe an das, was das Leben von einem will. Das hört sie jetzt in ihrer Sterbephase, in der noch einmal eine größere Hingabe an das Leben von ihr gefordert wird. Es ist erstaunlich, wie sie aufblüht, weil sie mit diesem Teil ihres Lebens in Berührung kommt. Es scheint so, als ob sich die persönlichen Qualitäten des Lebens zum Ende hin intensivieren würden, als ob dieses Leben zum Ende hin rund werden wollen würde. Am Ende geht es um eine größere Perspektive, die über den Schmerz oder die Krankheit oder den Verfall hinausgeht. Denn das Sterben geht mit einer Verwandlung einher.
TV: Doch nicht nur die Schwestern verabschieden sich langsam aus dem Leben, sondern auch der Orden liegt im Sterben, da es keine Nachfolgerinnen gibt. Wie stehen die Schwestern dazu?
Irene: Sie sehen, dass sie etwas geschaffen haben, das in seiner bisherigen Form zu Ende geht, – was traurig ist, – doch sie sind sich sicher, dass dies in verwandelter Form weitergehen wird. Sie haben ihren Auftrag erfüllt, und die Essenz wird weiter leben, nämlich die Essenz der göttlichen Verbundenheit. Dessen sind sie sich bewusst. Eine Ordensschwester sagte vor einiger Zeit zu mir, dass es um die Essenz geht. Dass es darum geht, diese Wirklichkeit der Verbundenheit, der Liebe am Leben zu halten, damit diese in unserem Leben wirkt.
TV: Es ist schön und wert zu würdigen, dass sie als Gemeinschaft durch diese letzte Lebensphase gemeinsam gehen möchten. Man hätte auch sagen können, da es wenige Frauen sind, geht jede in ein anderes Altersheim und die Gemeinschaft wird aufgelöst.
Irene: Ja, das ist beinahe auch so gekommen. Einige pflegebedürftige Schwestern wurden bereits in ein anderes Altersheim verlegt, doch auch diese wurden nun dazugeholt, damit sie wieder in ihrer Gemeinschaft leben können, und damit geht es ihnen gut. Auf diese Weise können sie beispielsweise weiterhin gemeinsam beten. Da sie alle schon so alt sind, leben sie auch schon sehr lange zusammen. Es ist eine wahre Lebensgemeinschaft. Manche sind vor 60 Jahren gemeinsam in den Orden eingetreten und feiern jetzt ihr 60-jähriges Professjubiläum. Sie teilen dieselbe Tradition und dieselbe Geschichte. Gemeinsam gaben sie im Laufe ihres Lebens eine Reihe von Orten auf, in denen sie gearbeitet haben, und nahmen Abschied, wie zum Beispiel von einem Krankenhaus im Rhein-Main-Gebiet, einer Schule am Ammersee und von dem letzten Kloster, das sie verkauft haben. Sie bewältigten eine Reihe von Abschieden und sind sich dessen bewusst. Doch auch wir verabschieden uns immer wieder. Die Kinder gehen aus dem Haus, die Berufstätigkeit neigt sich dem Ende zu. Dies erleben die Ordensschwestern ebenfalls, jedoch stärker als Gemeinschaft statt als Individuen. Meines Erachtens ist das ein großes Thema in unserer Gesellschaft: Wie kann im Alter noch einmal Gemeinschaft gestiftet oder neu geschaffen werden? Denn unabhängig des Alters bleibt das Bedürfnis bestehen, Leben zu teilen.
Sei es, zusammen ins Theater zu gehen, miteinander zu reden oder zu meditieren. Das geht wie gesagt mit der Frage einher, wie im Alter noch Leben miteinander geteilt werden kann, und ich glaube, dass die Themen Alter und Sterben hierfür aus der Tabuisierung herausgeholt werden müssen. Es muss darüber gesprochen werden: Wir sind im Alter und nicht: Oh Gott, wir sind alt. Das Leben in dieser letzten Phase möchte gleichermaßen gewürdigt werden und es kann wieder aufblühen. Auch das ist ein essenzieller Teil des Lebensendes, habe ich den Eindruck: das Lachen, die leichten Worte, das Feiern und Genießen der Schwestern sowie das Freisein von großer Verantwortung. Wenn man die Oberflächlichkeiten loslässt, geschieht eine »Verwesentlichung« und das Wesentliche besteht fort.
TV: Liebe Frau Schneider, vielen Dank für die Lebensweisheit, die sie mit uns geteilt und weitergegeben haben, sowie für dieses ungewöhnlich positive Gespräch über ein Thema, über das zu oft geschwiegen wird. Vielen Dank dafür!
Irene Schneider, Dipl. theol., Gestalttherapeutin (IGW), Spirituelle Begleiterin; Trainerin für Achtsamkeit in Organisationen (MLI), freiberuflich tätig als Seminarleiterin zu Themen der Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität sowie in der Einzelbegleitung; teilzeitangestellt als Begleiterin für Ordensfrauen in der letzten Lebensphase.
»Ich sehe es als meine Aufgabe und es macht mir große Freude, Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigene Lebendigkeit und Einmaligkeit, Kraft und Tiefe zu leben.«
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