Der zentrale Moment von zukunftsfähiger Psychologie und Philosophie, Kultur und Gesellschaft
In der Neuzeit ist der Begriff der Seele sowohl in der Philosophie als auch in der Psychologie verloren gegangen. Hosang tritt für die Wiedereinführung ein, und zwar als dritte Größe zwischen Materie und Geist. Dabei möchte er die Seele nicht als vom Menschen unabhängige Entität verstanden wissen, sondern als ein Integrationsorgan der Psyche mit dem Weltgrund, letztlich sein Bewusstsein, das zu Sehnsucht, Liebe, Freude und Freiheit fähig ist.
»Uns erschüttern geheime Schauer und dunkle Vorahnungen; aber wir sehen keinen Ausweg, und nur wenige Menschen kommen zum Schluss, dass es diesmal um die lange in Vergessenheit geratene Seele des Menschen geht.« (C. G. Jung)
Die Ursprünge von Psychologie und Psychotherapie und ebenso der Philosophie sind untrennbar mit dem Begriff der Seele verbunden. Abgesehen von alltagssprachlichen oder esoterischen Verwendungen verschwand dieser Begriff jedoch nach und nach aus wissenschaftlichen Diskursen. Ziel dieses Beitrags ist es daher, auf der Basis der dezidierten Seelen-Konzepte von R. H. Lotze und C. G. Jung eine metamoderne Neudefinition dieses Begriffs vorzunehmen. Weiterhin soll verdeutlicht werden, dass einige Lücken moderner Wissenschaft und einige Probleme moderner Kultur ohne die Integration eines transdisziplinären Begriffs der Seele nicht lösbar sein werden. Entscheidende Humanqualitäten wie Bewusstsein, Sehnsucht, Liebe, Intensität und Freiheit lassen sich nur als Potenziale der Seele verstehen und entfalten.
Eine kurze Kulturgeschichte der »Seele«
Der Begriff »Seele« war unter anderem Ausgangspunkt des Wissenschaftszweigs »Psychologie«, verschwand jedoch mit zunehmender Differenzierung dieser Wissenschaft mehr und mehr wieder aus ihr. Ein für die Herausbildung dieses Wissenschaftszweigs in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unwichtiger Arzt und Philosoph, Rudolf Hermann Lotze (seinerzeit »the most influential philosopher in Germany, perhaps even the world«, Stanford-Encyclopedia 2005), verfasste ein Werk zur »Physiologie der Seele« (Lotze 1852), in dem er die Bedeutung dieses Begriffs gegen jegliche materialistische wie auch geistige Vereinseitigungen verteidigte. Das Buch beginnt mit einem Kapitel dazu, warum der Begriff der Seele notwendig und nicht durch andere, weniger komplexe Begriffe ersetzbar ist (»Von den Gründen für die Bildung des Begriffs der Seele«). Noch heute erscheint die Argumentation Lotzes äußerst differenziert und wirft einmal mehr die Frage auf, warum dieser Integrationsbegriff weitgehend aus der Wissenschaft verschwunden ist.
Blickt man mit kulturkritischer Offenheit und Skepsis auf diese Entwicklung, so lässt sich die Verdrängung der »Seele« aus der Wissenschaft parallel zum Siegeszug der modernen Industriegesellschaft verorten. Die Tendenz ihrer Verdrängung gibt es jedoch bereits seit Beginn moderner Wissenschaft. Bereits weite Teile der griechischen Philosophie blendeten sie aus. Prägnant zeigt sich das am klassischen Satz von Descartes »Ich denke, also bin ich«, der die entscheidende Trennung von Geist und Materie in den sich hieraus entwickelnden Weltanschauungen symbolisiert.
»Die entscheidende dritte Dimension, die traditionell durch den Begriff der Seele erfasst wurde, wird jeweils vernachlässigt.«
Diese Entwicklung setzte sich in der Renaissance und Aufklärung fort. Spätere Denker sehen entweder den Geist (das Denken) oder das Sein (die Materie) als primäre Dimension; die für beider Zusammenspiel entscheidende dritte Dimension, die traditionell durch den Begriff der Seele erfasst wurde, wird jeweils vernachlässigt.
Vermutlich erfolgte diese Vernachlässigung oder Verdrängung des Begriffs der Seele in der vorwiegend materialistisch orientierten Industriegesellschaft und ihren Wissenschaftssystemen deshalb, weil das kulturelle Bewusstsein einer dritten Dimension zwischen Materie und Geist die effektive Entfaltung der Industriekultur behindert hätte. Nur ohne oder mit wenig »Seele« gelang der Siegeszug naturwissenschaftlicher Wissenschaft und Technik und zumindest für die westlichen Industrieländer auch ein allgemeiner materieller Lebensstandard, wie er zuvor kaum vorstellbar war.
»Die wachsenden ökologischen und seelischen Krisen deuten darauf hin, dass es Zeit wird, diese verdrängte Kategorie menschlicher Existenz wieder mit in den Fokus moderner Wissenschaft zu integrieren.«
Doch die trotz aller materiell-technischen Erfolge ebenfalls wachsenden ökologischen und seelischen Krisen deuten darauf hin, dass es Zeit wird, diese verdrängte Kategorie menschlicher Existenz wieder mit in den Fokus moderner Wissenschaft zu integrieren. Denn ihre zwar zunehmende, doch bisher nur populärwissenschaftliche oder esoterische Reaktivierung wird den Ansprüchen zukunftsfähiger Wissenschaft und Kultur nicht gerecht. Die populären oder esoterischen Seelenbegriffe bleiben nicht nur zu unkonkret, sie reaktivieren oft auch jene Tendenzen von magisch-mythischer Wirklichkeitsflucht, deren kritische Auflösung eine entscheidende Leistung moderner Wissenschaft und Kultur war und ist. Bevor im Folgenden versucht wird, den Begriff der Seele metamodern zu rekonstruieren, noch einige Bemerkungen zum Begriff selbst. Da das Wort »Seele« oft zur Projektion einer eigenständigen, von menschlichen Individuen und deren Leben unabhängigen Entität verleitet, wäre für das unten Ausgeführte vielleicht ein weniger festes, sondern fließenderes und fragileres Wort besser. Daher gibt es Denker, die stattdessen vom »seelischen Wesen« (Aurobindo Ghose), vom »antizipierenden Bewusstsein« (Ernst Bloch), vom »überschüssigen Bewusstsein« (Rudolf Bahro), vom »Wärmestrom« (Joseph Beuys) oder von existenziellen Grundwerten des Guten, Wahren und Schönen (Ken Wilber) sprechen. Im Sinne begrifflicher Klarheit verwende ich im Folgenden dennoch meist das Wort »Seele« und bitte darum, es als offenen Begriff zu verstehen, der keine feste Entität, sondern ein besonderes menschliches Potenzial bezeichnet.
Der Seelen-Begriff bei R. H. Lotze und C. G. Jung
Es gibt zwei wissenschaftlich relevante Denkansätze zum Begriff der Seele, die es wert sind, erinnert und in eine künftige Wissenschaft integriert zu werden: Der erste ist der bereits eingangs genannte von R. H. Lotze, der andere der von C. G. Jung. Im Folgenden werden beide kurz rekapituliert und anschließend wird versucht, aus deren Gemeinsamkeiten und Differenzen eine erste Definition des Begriffs »Seele« sowie weiteren Klärungs- und Forschungsbedarf abzuleiten.
Um nachvollziehen zu können, wie ernsthaft Lotze den Begriff der Seele unterstützte, im Folgenden einige Zitate:
»In drei Zügen nun scheint die lebendige Bildung der Sprache den Grund für die Erschaffung jenes Begriffes der Seele gesehen zu haben. Zuerst in der beobachteten Tatsache des Vorstellens, Fühlens und Begehrens, dreier Formen des Geschehens, in denen sich außer dem bloßen Sein und Geschehen noch eine hinzukommende Wahrnehmung dieses Seins und Geschehens, das Phänomen des Bewußtseins im weitesten Sinne, zeigt; dann in der Einheit dieses Bewußtseins, welche nicht gestattet, die geistigen Tätigkeiten an ein Aggregat teilbarer und nur äußerlich verbundener körperlicher Massen zu knüpfen; endlich in dem nicht beobachteten, sondern aus Beobachtungen gefolgerten Umstande, dass alles übrige Seiende sich in allen seinen Verhältnissen nur als wirkende Ursache benimmt, die nach allgemeinen Gesetzen vorherbestimmte Folgen mit Notwendigkeit erzeugt, während das Beseelte allein als handelndes Subjekt Bewegungen und Veränderungen, Taten überhaupt, mit neuem Anfange frei aus sich hervorgehn läßt.« (Lotze, 1852, § 1)
Nachdem Lotze zuerst aus dem allgemeinen Gebrauch des Begriffs seine durch keinen anderen Begriff abgedeckte komplexe Bedeutung vergegenwärtigte, versucht er im zweiten Teil des Buchs zur Physiologie der Seele deren konkrete Funktion zu verstehen. Dabei gelangt er zur Annahme, dass die Seele eine Art Hybrid- oder Integrationsorgan ist, in dem die physisch-emotionalen Aspekte eines Menschen mit dem universellen Weltgrund wechselwirken, woraus sich die menschlichen Fähigkeiten freier Entscheidung und ethischer Intentionen ergeben. Um dies zu verstehen, ist zu ergänzen, dass der universelle Weltgrund für Lotze weder eine physikalisch-materielle Substanz noch eine personelle Gottheit, sondern ein universelles evolutionäres Relationsgefüge mit tendenziellen Entfaltungen der Werte des Guten und Schönen ist.

Anders ausgedrückt: Lotze plädiert dafür, den Begriff der Seele nicht als eine durch moderne Wissenschaft überholte, sondern als zum Verständnis des Menschen unvermeidliche Kategorie konkret zu rekonstruieren. Denn nur dieser und kein anderer Begriff erfasst und erklärt die menschlichen Potenziale von a) Freiheitsfähigkeit, b) Bewusstsein und c) dem die Vielfalt physischer und psychischer Vorgänge integrierenden Ich-Gefühl. Diese besonderen seelischen Potenziale erklärt Lotze damit, dass im menschlichen Individuum nicht nur genetische Anlagen und kulturelle Prägungen zusammenwirken, sondern auch Wechselwirkungen mit dem universellen Relations- und Evolutionsfeld und dessen Tendenzen des Guten und Schönen geschehen. Wie diese Wechselwirkung in der Seele geschieht, dazu Lotze noch einmal selbst zitiert: »… jene Phase des Naturlaufs, in welcher der Keim eines physischen Organismus gestiftet wird, ist eine zurückwirkende Bedingung, welche den substantiellen Grund der Welt ebenso zur Erzeugung einer bestimmten Seele aus sich selbst anregt, wie der physische Eindruck unsere Seele zur Produktion einer bestimmten Empfindung nötigt. So wenig die Empfindung aus nichts, so wenig sie aus dem äußern Reiz entsteht, wie sie vielmehr nur die notwendige Rückwirkung der Seele gegen diesen ist, so wenig erzeugt die Organisation aus sich selbst nach materialistischer Auffassung die Seele, noch entsteht diese aus nichts; sie ist das notwendige Produkt, zu dessen Erzeugung der gemeinsame schöpferische Grund der Welt durch die zurückwirkende Kraft eines Momentes aus jenem Naturlauf genötigt wird, den er selbst geschaffen und dem er die Realisierung aller Zwecke überlassen hat.« (Lotze, 1852, § 150) Diese und weitere Ausführungen Lotzes zu einem modernen Begriff der Seele finden sich nicht nur im bisher zitierten Frühwerk zur »Physiologie der Seele« (1852), sondern ebenso in seinem späteren Werk »Mikrokosmos« (4. Auflage 1884), das eine bis ins 20. Jahrhundert vielfach und in vielen Sprachen aufgelegte Integration von Natur-, Human- und Geisteswissenschaften darstellt.
»Seele ist für mich ein Sammelbegriff für die Gesamtheit der sog. seelischen Vorgänge.«
Einige Jahrzehnte nach Lotze war es der Psychiater und Psychotherapeut Carl Gustav Jung, der erneut die Bedeutung des Begriffs der Seele unterstrich. Dabei war ihm bewusst, dass es sich dabei um keine feste Entität, sondern vielmehr um eine begrifflich erfasste Gesamtheit von psychischen Prozessen und Potenzialen einer bestimmten transzendenten Qualität handelt: »Seele ist für mich ein Sammelbegriff für die Gesamtheit der sog. seelischen Vorgänge.« (Jaffe, 1993, S. 405)
Er kritisierte eine Psychologie ohne Seele und versuchte daher, deren Begriff auch wissenschaftlich wieder fassbar und anwendbar zu machen. Der Schwierigkeit, die nicht physisch-konkret eingrenzbare Seele für eine auf physisch Konkretes fokussierte Wissenschaft zu beschreiben, war er sich wohl bewusst. Seine folgenden Begriffsbestimmungen sind daher in diesem Paradox zu sehen: etwas konkret fassbar zu machen, was an sich weder physisch noch psychisch konkret existiert.
Als die drei wichtigsten Funktionen der Seele beziehungsweise der mit diesem Begriff erfassten seelischen Vorgänge für menschliche Existenz sah er:
a) Sie ermöglicht das, was wir Bewusstsein nennen, was neurobiologisch nach wie vor nicht nachweisbar, doch in menschlicher Introspektive zweifellos und wirksam existent ist. Jung bezeichnet die Seele als »das lebendige Ding, das wir deutlich oder undeutlich als Grund für unser Bewusstsein verspüren oder als die Atmosphäre unseres Bewusstseins« (Jung, 1971, S. 20).
b) Die Seele verbindet unsere begrenzte physische und psychische Existenz mit etwas Größerem, mit dem grenzenlosen Seinshintergrund, egal ob dieser religiös als Gottheit oder physikalisch als universelles Nullpunktfeld verstanden wird (Jacobi, 1971, S. 49).
c)Der Begriff der Seele ermöglicht eine theoretische, aber auch innerpsychisch-praktische Differenzierung zwischen zwei Persönlichkeitskernen: »Jung unterscheidet zwischen Person Nr. 1 und Person Nr. 2. Person Nr. 1 steht für den äußeren Menschen, der einem Beruf nachgeht, vielleicht eine Familie hat und seinen Stand in der Gesellschaft zu finden versucht. Person Nr. 2 ist die innere Person, die nach innen schaut, von innen heraus, inwendig lebt. Es ist die Person, die mit ihrer Tiefe, mit der Seele in Berührung ist.« (Grün/Müller, 2008, S. 24)
Es gibt keine Hinweise darauf, dass C. G. Jung die seinerzeit bereits weitgehend aus der Wissenschaftslandschaft verschwundenen Ausführungen Lotzes über die Seele zur Kenntnis nahm. Jungs Denkansätze zum Begriff der Seele sind daher als davon unabhängige Wiederentdeckungen zu verstehen. Aus dem Fakt, dass Lotze und Jung so unabhängig voneinander in vieler Hinsicht identische Bestimmungen des Begriffs der Seele entwickelten, lässt sich daher auf einen gewissen Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt ihres Begriffs der Seele schließen. Im Folgenden wird versucht, an die Denkansätze von Lotze und Jung anschließend einen metamodernen Begriff der Seele zu umreißen. Der Begriff des Metamodernen bezieht sich dabei auf eine weltweit wachsende kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektive, welche die wachsenden Krisen der Moderne beziehungsweise der Postmoderne als Ausgangspunkt einer neuen Epoche, der Metamoderne, sieht. Mehr zu meinem Verständnis dieser Metamoderne siehe unter cocre.eu.
Im folgenden Abschnitt werden zuerst einige Lücken des heutigen Weltverständnisses moderner Wissenschaft vorgestellt, die durch einen neuen Begriff der Seele geschlossen werden könnten. Danach und abschließend wird eine entsprechende Definition eines metamodernen Begriffs der Seele entworfen.
Lücken im modernen Weltverständnis
Psychologie und Neurobiologie
Vermutlich kennt jeder Mensch, der – egal in welcher Kultur – in einigermaßen sicheren Umständen lebt, Gefühle oder Intentionen wie Sehnsucht, universelle Liebe, Herzenswärme, Sinnsuche oder tiefe Freude. Diese Gefühle und Intentionen sind allein aus physischen Bedürfnissen oder kulturellen Einflüssen nicht erklärbar. Auch die Wahrnehmung von Bewusstsein oder Bewusstheit, die andere psychische Vorgänge im Menschen mehr oder weniger deutlich reflexiv begleiten kann, ist nach wie vor nicht aus psychologischen oder neurobiologischen Prozessen erklärbar. Ebenso wenig lassen sich die in der Introspektive zweifellos vorhandenen Fähigkeiten der Entscheidungs-, Handlungs- und Willensfreiheit ohne die Annahme eines besonderen seelischen Potenzials im Menschen verstehen.
Soziologie, Geschichte und Kultur
Die Geschichte von Gesellschaften und sozialen Systemen lässt sich weitgehend aus dem Zusammenspiel von Umweltbedingungen, Wirtschaftspotenzialen, Machtinteressen und -konkurrenzen erklären. Es gab und gibt jedoch darüber hinaus immer wieder von einzelnen oder wenigen Menschen ausgehende soziale, kulturelle oder ethische Innovationen, die neue soziale Entfaltungsräume von Solidarität, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie ermöglichten – ob die Entstehung ethischer Religionen, die Befreiungsbewegungen von Völkern und Sklaven, die Gleichberechtigung von Schwarzen und von Frauen.
Weitere konkrete geschichtliche Beispiele für solche sozialen Innovationen siehe zum Beispiel in den Werken des Mitbegründers der Soziologie, Ferdinand Tönnies, oder im auch weitgehend aus der heutigen Soziologie verdrängten Buch von Pitirim Sorokin, dem ersten Direktor des Harvard-Instituts für Soziologie, mit dem Titel: »The Ways and the Power of Love. Types, Factors and Techniques of Moral Transformation« (Sorokin 2002).
Ästhetik
Die Stücke Shakespeares, die Bilder Botticellis oder van Goghs, die Toccaten Bachs, die Sinfonien Beethovens, die Lieder von Schubert und viele andere die Jahrhunderte überdauernde Kunstwerke zeichnen sich zwar jeweils auch durch meisterhafte künstlerische Technik aus; und doch entsteht die wirkliche Schönheit und Impressivität dieser Werke erst durch die sich darin ausdrückende Seele des Künstlers, die vom Betrachter erspürt werden kann.
Medizin und Gesundheit
Der Begriff »seelische Krisen« ist mittlerweile ein weithin anerkannter Sammelbegriff für eine Vielzahl von Erkrankungen, die vorwiegend durch soziale, berufliche oder persönliche Umstände verursacht werden. Angebote für »seelische Gesundheit« bezeichnen dementsprechend eine Vielzahl von Maßnahmen, die auf die Wiederherstellung der Work-Life-Balance, der Stressbewältigung oder der persönlichen Resilienz abzielen. Darüber hinaus gibt es jedoch persönliche Erlebnisse oder auch Lebensprobleme, die über diese allgemeinen psychischen Disbalancen hinausgehen und auf das Vorhandensein oder die Störung eines grundlegenderen menschlichen Potenzials deuten: Nahtoderfahrungen, das Broken-Heart-Syndrom oder Peak-States (peakstates.com). Diese Situationen, seelischen Krisen und Gesundheitspotenziale sind mit Begriffen und Methoden der gegenwärtigen Medizin nicht erfassbar (Hofmann/Heise 2016).
Ein metamoderner Begriff der Seele
Ausgehend von den im zweiten Abschnitt zusammengefassten Denkansätzen Lotzes und Jungs und den im letzten Abschnitt rekapitulierten Leerstellen modernen Wissens lassen sich einige Grundaspekte eines metamodernen Begriffs der Seele umreißen:
Die »Seele« ist ein besonderes Potenzial der menschlichen Psyche, das über genetische, familiäre und kulturelle Dispositionen und Prägungen einer menschlichen Person hinausgeht. Dieses Potenzial erwächst aus der innerpsychischen Wechselwirkung mit einem universellen Informations- und Energiefeld, das traditionell beispielsweise als Gott, Brahma oder Tao und modern als Universum, Dunkle Energie, Lebensfeld oder Nullpunktfeld bezeichnet wird (Taggart 2008).
»Die »Seele« ist ein besonderes Potenzial der menschlichen Psyche, das über genetische, familiäre und kulturelle Dispositionen und Prägungen einer menschlichen Person hinausgeht.«
Welche neurobiologischen und psychischen Strukturen diese alles konkrete personale und kulturelle Dasein transzendierende Wechselwirkung mit dem universellen Informations- und Energiefeld auf welche Art und Weise realisieren, ist bisher von moderner Wissenschaft nicht erforscht. Traditionelle Philosophien lokalisieren diese Wechselwirkung entweder in einer besonderen Resonanzstruktur im Herzen oder in der Zirbeldrüse. Die Art und Weise dieser Wechselwirkung wird dabei entweder mehr als tiefgreifendes und über konkrete psychische Zustände hinausgehendes und innerlich weitendes Gefühl von Liebe oder mehr als nicht rational-räsonierendes, sondern zweckfrei reflektierendes Bewusstsein oder Gewahrsein bezeichnet. Neben Liebe und Bewusstsein werden innerlich weitende statt begrenzende Empfindungen und Gefühle wie Sehnsucht, Freiheit und Leichtigkeit beschrieben.

Darüber hinausgehende Erklärungsversuche dafür, warum im Menschen die Seele oder die eben umrissenen seelischen Potenziale existieren, finden sich insbesondere bei Philosophen des frühen 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere bei J. G. Herder, J. G. Fichte, G. W. F. Hegel, Max Scheler, Aurobindo Ghose und Teilhard de Chardin. Aus einer Zusammenfassung ihrer Gedanken ergibt sich folgende These: Die universelle Evolution brachte tendenziell immer komplexer vernetzte und immer komplexer wahrnehmungsfähige Entitäten und Lebewesen hervor. Erst durch den Menschen, der sich von seinen evolutionären Vorfahren neben komplexeren Hirnstrukturen insbesondere durch Potenziale der Liebe (das heißt auch der »Seele«, siehe oben) unterscheide wird sich diese universelle Evolution tendenziell ihrer selbst bewusst und ermöglicht dadurch ganz neue evolutionäre Entwicklungen. Solange dieses evolutionäre Bewusstseinspotenzial jedoch kulturell nur teilweise verwirklicht wird, führt es zu diversen Seltsamkeiten und »Verirrungen« kultureller Evolution. Als besonders auffällige Verirrungen seelischen Halbbewusstseins zu nennen sind Ideen und Politiken des »Übermenschen« oder andere sogenannte »Atman-Projekte«, in denen Menschen und Kulturen ihre weitgehend unbewusste Sehnsucht nach universeller Verbundenheit und freier Kreativität auf verschiedene emotional begrenzte Dinge projizieren. Materielle Besitz- und/oder Konsumsucht, Sexsucht, Macht- oder Statussucht oder Drogensucht sind einige dieser seelischen Sinnsurrogate, die jedoch die eigentliche seelische Sehnsucht nicht erfüllen können und daher letztlich meist innerlich verzweifelte oder umso verzweifelter entsprechende Sinnsurrogate suchende Individuen hervorbringen.

Trotz bisher vorwiegend dafür ungünstiger Kulturen gelang es jedoch geschichtlich bisher immer wieder einzelnen menschlichen Individuen, ein weitgehend freies seelisches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Obwohl deren Ausdrucksformen je nach umgebender Kultur etwas differierten, waren und sind diesen Menschen allen verblüffend identische Potenziale und Qualitäten gemeinsam: Ihre »2. Innere Person« (siehe oben bei C. G. Jung) ist stark entwickelt und befähigt sie dazu, ihr Fühlen, Denken und Handeln nicht primär an begrenzten oder egozentrischen Bedürfnissen und Interessen, sondern an universellen Werten des Guten, Wahren und Schönen auszurichten. Im Unterschied zu sogenannten »Erlösten« tendieren sie jedoch nicht dazu, die sowohl materiell und emotional als auch in ihrem evolutionären Zustand immer auch begrenzte natürliche und kulturelle Wirklichkeit zu verdammen oder zu verlassen. Sie erkennen die doppelte oder grundlegend duale Psyche jedes Menschen – die jeweils sowohl 1. als auch 2. Person ist. Daraus erwächst einerseits Verständnis und Mitgefühl für die »Fehler« und »Schwächen« der Menschen und andererseits ein trotz aller erlebten und erlittenen Enttäuschungen und Evolutionswiderstände ungebrochenes sensibles Engagement für kulturelle, soziale, ökologische und wirtschaftliche Innovationen im Sinne der universellen evolutionären Grundwerte des Guten, Wahren und Schönen.
Weiterer Forschungsbedarf
Der obige Text versteht sich als ein erster Versuch, einen metamodernen, das heißt einerseits kritischen und differenzierten, andererseits jedoch nicht skeptisch-verdrängten, sondern die seelischen Qualitäten wie Sehnsucht, Liebe, Freude und Freiheit bejahenden Begriff der Seele zu entwickeln. Im Verlauf der Textfassung ergaben sich weitere spannende Forschungsfragen für ein neues, komplexes Selbstverständnis der Seele, die hier vorerst nur kurz umrissen werden können:
Wie funktioniert das innerpsychische Wechselspiel von 1. Person (Ich-Ego bzw. äußeres Ich) und 2. Person (Ich-Seele bzw. inneres Ich)?
Inwiefern brauchen die freie und bewusste Entwicklung und Bewusstwerdung einer Ich-Seele eine entsprechende Resonanz mit anderen Ich-Seelen?
Wie gelingt die Kommunikation bewusster Seelen miteinander so, dass alle Beteiligten ihre 1. und 2. Person unterscheiden und in diesem komplexen Wechselspiel eine nachhaltige Entwicklung ihrer Kreativität, Gesundheit und Lebensfreude erfahren können?
Wie vollzieht sich ein seelisches Wesen oder die innere Herausbildung und Selbstbewusstwerdung einer Ich-Seele? Wie viel »liebevolle« seelische Resonanz brauchen menschliche Individuen in welchen Lebensphasen, um ihr seelisches Potenzial nicht abzuspalten oder zu verdrängen? Inwiefern können dabei selbst negative Umstände als Wachstumsherausforderdung integriert werden?
Wie äußert und erlebt sich eine relativ entwickelte individuelle Seele? Wie ist dabei das Verhältnis von reflexivem Bewusstsein und Gefühlsenergien der Freude, Liebe, Leichtigkeit, Souveränität, Freiheit, Intensität und Sehnsucht? Wirken solche »seelischen Energien« unmittelbar entwicklungsfördernd auf andere Menschen?
Sind die derzeitigen Seelen-Begriffe und -Vorstellungen zu sehr von der Ego-orientierten Moderne geprägt? Wie lassen sich »ich-freie« Seelenbegriffe finden, welche die seelische Individualität bewahren, doch zugleich intensivere und wirkungsvollere ko-kreative Seelen-Synergien ermöglichen?

Prof. Dr. Maik Hosang ist Philosoph, Sozialökologe und Waldgärtner. Er lehrt Studierenden Ästhetik und Kreativität, erforscht menschliche Transformationspotenziale und gesellschaftliche Transformationsprozesse, gestaltet philosophische Erlebniswelten und schreibt Bücher wie »Die Kunst des Liebens im Tun«, »Der integrale Mensch« und »Die emotionale Matrix«. Mehr zu seinen Forschungen auf cocre.eu.
Artikel zum Thema
- Ronald Engert – Erfahrung, Erkenntnis, Erleuchtung. Wie wir zu Wissen kommen und was wir wissen können
- Dr. Sylvester Walch – Transpersonales Selbst. Innere Weisheit und die Sehnsucht nach Befreiung
- Prof. Dr. Thomas Metzinger – Der Elefant und die Blinden. Bewusstseinsforschung eines spirituell informierten Philosophen, Teil 1
- Ilknur Özen – Philosophie des Herzens (Video-Beitrag)
- Dr. Christina Kessler – Wildes Denken (Video-Beitrag)
Literaturverzeichnis
Eibl-Eibesfeld, I. (2004): Die Biologie des menschlichen Verhaltens: Grundriss der Humanethologie. BuchVertrieb Blank, Vierkirchen.
Grün, A./Müller, W. (2008): Was ist die Seele. Kösel, München.
Jacobi, J. (Hg.) (1991): C. G. Jung, Mensch und Seele. Walter, Olten.
Jaffé, A. (Hg.) (1993): Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Walter, Olten.
Jung, C. G. (1971): Bewusstes und Unbewusstes. Fischer, Frankfurt a. M.
Hofmann, L./Heise, P. (2016): Spiritualität und spirituelle Krisen, Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis. Schattauer, Stuttgart.
Lotze, R. H. (1852): Physiologie der Seele. Weidmann’sche Buchhandlung, Leipzig.
Maturana, U./Verden-Zöller, G. (2008): The Origin of Humanness in the Biology of Love. Imprint Academic, Charlottesville.
Schmieke, M. (2015): Das Lebensfeld. SYNERGIA-Verlag, Roßdorf.
Sorokin, P. (2002): The Ways and the Power of Love. Types, Factors and Techniques of Moral Transformation. Templeton Foundation Pr, West Conshohocken.
Taggart, L. M. (2008): The Field: The Quest for the Secret Force of the Universe. Harper Perennial, San Francisco.
Eine frühere Version des Textes wurde veröffentlicht in der »Zeitschrift für Bewusstseinswissenschaften«, Heft 1/2016.
Ein metamoderner Begriff der Seele hat auch vielseitige Folgen für unser Verständnis von Inspiration und Ko-Kreativität. Mehr dazu siehe hier: https://bit.ly/SeelenSex
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