Stefanie Raysz – Leben, Lernen und Arbeiten an einem Ort

Das Leben einer Familie in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof

Wie lebt es sich mit einer Familie in einer Gemeinschaft? Stefanie Raysz zog vor einigen Jahren mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in die Gemeinschaft Schloss Tempelhof und hat dort Pionierarbeit beim Gemeinschaftsaufbau geleistet. Welche Anforderungen das Gemeinschaftsleben an eine Familie stellt und was sie am Heraustreten aus den normalen Strukturen begeistert, teilt sie in diesem Interview.

Tattva Viveka: Stefanie, du lebst in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof. Wie ist es dazu gekommen, dass du dort hingezogen bist?

Stefanie Raysz: Mit 37 Jahren wollte ich mit einer Gruppe zusammen eine Gemeinschaft gründen. Es stellte sich aber heraus, dass dabei unglaublich viele Fragen auftauchen. Wir waren ziemlich unbedarft, unvorbereitet und gemeinschaftsunerfahren und konnten diese Fragen zum Teil gar nicht beantworten. Wir haben uns auch Immobilien angeschaut. Wir sind in uns gegangen, haben uns gefragt, was jeder Einzelne von uns eigentlich will und was wir miteinander wollen. Und im Zuge dessen bin ich über Schloss Tempelhof gestolpert. Schloss Tempelhof war damals gerade in Gründung, und diese Gruppe, die wir dort antrafen, hatte sich schon jahrelang Gedanken zu den Fragen gemacht, die sich uns stellten. Als ich dort hinkam, fand ich einen Haufen neugieriger, motivierter, sich im Aufbruch befindender Menschen. Das war so inspirierend und auch ein bisschen sicherheitsstiftend, weil sie sich Antworten auf unsere Fragen überlegt hatten. Wir merkten schnell, dass sie gut zu uns passen und wir zu ihnen, sodass es dann gar kein langer Prozess mehr war zu sagen, wir probieren es mit dieser Gemeinschaft.

»Wir brauchten tatsächlich eine ganze Weile, uns anzupassen und unseren Platz zu finden, auch für die Kinder.«

Man könnte sagen, wir haben dort Pionierarbeit geleistet. Wir fragten uns: Wie geht man mit einem neuen Ort um? Wie geht man mit einer ganz neuen Gruppe um, die sich eine gemeinsame Vision erarbeiten möchte? Was wollen wir eigentlich miteinander? Was ist mein Beitrag für das Gesamte? Gleichzeitig, mit dem Hintergrundwissen, machte ich mich auf in etwas Neues, mir Unbekanntes, in etwas erst zum Teil Bestehendes. Das heißt, ich musste auch mutig sein, weil so eine Gemeinschaft nie fertig ist. Sie ist immer in einem fluiden Prozess. Sich in einen unfertigen Prozess eines Kollektivs einzuklinken, wenn man selbst in einem eigenen unfertigen Prozess steckt, bedarf einiges an Energieaufwand, Lust und auch Bereitschaft, Pionierarbeit zu leisten. So sind wir dann als Familie mit drei Kindern dort hingezogen. Wir drehten vorher noch einmal eine Schleife, weil uns Infrastruktur fehlte. Es gab damals keine Schule, keinen Kindergarten und keinen Wohnraum. Wir zogen dann erst mal in einen Wohnwagen. Es war alles ein bisschen holperig, wenn man aus einem wohlsituierten, planbaren, organisierten Organismus in etwas so völlig Neues kommt. Ich war damals auf allen Ebenen gefordert. Wir brauchten tatsächlich eine ganze Weile, uns anzupassen und unseren Platz zu finden, auch für die Kinder. Das war nicht ganz einfach für sie, sie waren damals zwischen drei und sieben Jahre alt.

Ansicht Schloss Tempelhof

TV: Wenn du sagst »wir«, dann meinst du deine Familie, richtig?

Stefanie: Ja, ganz genau. Mein Mann und unsere drei Kinder, die hinsichtlich schulischer Bildung, Freundschaftsbildung und Sozialisation alle in unterschiedlichen Lebensphasen waren. Es ist etwas anderes, ob ich in der Schule bin oder noch an Mamas Rockzipfel hänge. Es ist unglaublich, wie eine Sechsjährige schon weiß, in welchem Umfeld sie ist. Sie dann rauszunehmen und ihr zu sagen, wir sehen die Freunde jetzt nicht mehr, das ist nicht der gleiche Kindergarten – das war nicht einfach und es liefen ziemlich viele Tränen. Da sieht man, wie viel man aufgeben muss. Ich war als Mama gefordert, jeden Abend ein inneres Standing zu haben, um Ungewissheiten, Unsicherheiten und Angst vor Neuem auszuhalten und Zukunftsbilder, Freude und Neugier größer werden zu lassen als die Angst.

TV: Und woher kam dann der Impuls, aus eurem »wohlsituierten, geplanten Organismus« auszubrechen und das Neue und Unbekannte zu wagen? Gab es da ein Schlüsselerlebnis?

Stefanie: Da gab es mehrere Punkte. Ausschlaggebend war, dass ich mit 37 lange krank war und in diesem Kranksein merkte, dass mein Freundschaftsnetz, das relativ gut und belastbar war, nicht ausreicht für jemanden, der ein Pflegefall wird. Es war richtig schwierig, alles aufrechtzuerhalten, wenn ich als Mama wochenlang ausfiel. Mir wurde klar, dass wir in einer so egozentrierten Welt und in einer solchen Hamsterradsituation leben, dass wir jemanden, selbst wenn er uns ganz nah ist, nicht wirklich integrieren können. Das war der eine Punkt.

Der andere Punkt war, dass ich merkte, wie sich die Familien um mich herum, die fünf bis zehn Jahre älter waren, anfingen zu langweilen. Sie wussten nicht mehr, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollten, als die Kinder langsam aus dem Haus gingen. Sie beschäftigten sich nur noch. Das war mir aus meinem Sinnhaftigkeitsbedürfnis heraus viel zu wenig. Als meine Kleinste ein Jahr alt war, gründete ich einen riesigen, erfolgreichen Verein, der sich für Nachhaltigkeit einsetzte. So war ich in ganz vielen Bereichen in Sachen Nachhaltigkeit unterwegs. Das war aber keine personale Nachhaltigkeit. Es ging immer um Dinge, um Projekte im Außen, aber wenn es um mich, um mein Leben, um ein Miteinander ging, da war ich sehr isoliert. Ich hatte diesen Familien-Nukleus, in den kamen punktuell Freunde hinein und wir machten etwas zusammen, aber mir fehlte dabei die ganzheitliche Lebensbetrachtung, und ich war auch nicht ganzheitlich in einem Lebensrad eingebunden.

»Ökodörfer oder Gemeinschaften versuchen genau diesen Ansatz: Selbstwirksamkeit, aber in einem Gemeinschaffen.«

Damals hörte ich oft dieses eine Lied »One day«. Darin ist eine Zeile, die mich wirklich wochenlang verfolgte. Sie heißt: »One day, baby, we will be old and think about the stories that we could have told.« Also, es geht um die Geschichten, die wir am Ende unseres Lebens hätten erzählen können, und ich wollte partout mein Leben nicht irgendwann beenden müssen mit »ach, hätte ich doch« und »beinahe hätte ich«. Ich wollte Geschichten, die mich stolz machen, die mich erfüllen, die mich mit Sinn erfüllen und die auch dazu beitragen, dass meine Kinder eine Welt vorfinden, in der ein gelingendes Leben stattfinden kann. Solche Geschichten wollte ich in mein Leben integrieren. Das mache ich punktuell, aber nicht in Gänze. Ich wollte mich nicht als teilweise wirksames Wesen erleben, sondern ich wollte mein Leben so leben, dass ich sagen könnte, ich bin rundum zufrieden. Dafür brauchte es ein Heraustreten aus einem Job, der von meiner Ernährungssituation, von meiner Mobilität, von meiner Familienstruktur, von meiner Freundesstruktur isoliert war. Ich wollte all dies integrieren und es in eins bringen. Ökodörfer oder Gemeinschaften versuchen genau diesen Ansatz: Selbstwirksamkeit, aber in einem Gemeinschaffen.

TV: Und wie sieht dein Leben in der Gemeinschaft aus?

Stefanie: Es gab ganz unterschiedliche Phasen. Am Anfang warf ich mich total in das Gemeinschaftsgeschehen rein, arbeitete einmal ein Jahr nur für die Gemeinschaft. Zum Beispiel begleitete ich den Bau des ersten deutschen Earthships, eines Recycling-Hauses, mit. Dort war ich in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Ich half auch viel beim Aufbau der Schule mit und bei alltäglichen Dingen, die hier anstanden, wie der Renovierung von Wohnungen. Peu à peu holte mich dann aber doch wieder der Alltag, das Geldverdienen ein. Auch das Leben in Ökodörfern kostet etwas. Inzwischen arbeite ich für GEN, das Global Ecovillage Network. Ich engagiere mich dort auf Vorstandsebene in Deutschland und Europa und bin in der Projektleitung, im Marketing und in der Öffentlichkeitsarbeit aktiv.

In der Gemeinschaft gibt es verschiedene Formen, wie man sich einbringen kann. Jedes Gemeinschaftsmitglied arbeitet zum Beispiel vier Stunden in der Woche ehrenamtlich-verpflichtend für das Gemeinwohl hier am Platz, weil wir ja alles gemeinsam besitzen oder gemeinsam Eigentümer sind. Der Platz braucht Betreuung und Unterhaltung, seien es Gartenarbeiten oder Putzdienste, Küchen- oder Betreuungsdienste. Jeder Erwachsene und auch die Jugendlichen arbeiten daran mit.

Feste feiern: Auch das gehört zum Gemeinschaftsleben dazu

TV: Wie ist es denn, mit einer Familie in einer Gemeinschaft zu leben? Was sind die Unterschiede oder Herausforderungen, die eher einer Familie begegnen im Gegensatz zu einer alleinstehenden Person oder einer Liebeskonstellation ohne Kinder?

Stefanie: Zum einen ist das Gemeinschaftsleben zeitlich gar nicht so einfach zu managen, weil man in der Begegnung mit anderen Menschen relativ viel Zeit verbringt. Die Arbeit im Haushalt und der finanzielle Erwerb kommen noch dazu. Und zum anderen gibt es die Auseinandersetzung mit sich entwickelnden Kindern, das bleibt ja auch nie gleich. Das heißt, die Anforderungen an Eltern steigen oder verändern sich permanent. Und dann löst sich dieser Kleinstnukleus, den ich vorhin erwähnt habe, langsam auf. Es kommen andere Menschen mit ins Leben, die zum Beispiel mit deinen Kindern interagieren, und da entstehen Bedürfnisse und Wünsche, aber auch Ansprüche. Die Erziehungsmaßnahmen oder die Haltung der Eltern ihren Kindern gegenüber ist in Gemeinschaft unterschiedlich. Es gibt oft Reibungsfläche. Da gilt es, viel im Austausch zu sein.

»Wir verlassen dieses Kleinod Familie hin zu einer Großfamilie.«

Wir verlassen dieses Kleinod Familie hin zu einer Großfamilie. Diese Großfamilie ist aber schon unterschiedlich sozialisiert, das heißt es kommen auch kulturell, sprachlich und ritualmäßig ganz unterschiedliche Menschen zueinander. Wir müssen uns doch relativ viel damit auseinandersetzen, wie wir das Leben eigentlich für uns haben wollen, zum einen in der Kleinfamilie, denn die gibt es ja auch noch, und zum anderen in der Großfamilie. Es gibt unglaublich viele Treffen zwischen Eltern, um die verschiedensten Fragen zu erörtern: Wie gehen wir mit Medien um? Wie gehen wir mit Zucker um? Wann essen wir wie in der Kantine gemeinsam? Ist es zu laut, ist es zu leise? Welches Spielzeug gibt es? Wie verhalten wir uns mit dem Handy?

Es geht aber auch um die Entwicklung des Kindergartens: Was wollen wir den Kindern im Kindergarten bieten? Wie soll ein Schulalltag aussehen? Wie gestalten wir den Nachmittagsraum? Dürfen die Kinder in die Schule oder nicht? Es gibt wirklich viele Themen. Daran sieht man schon mal, dass der Zeitkuchen, den jeder zur Verfügung hat, bei Familien viel kleinteiliger aufgeteilt ist und auch nicht so viel Muße übrig bleibt. Ich muss sagen, die Eltern sind hier wirklich gefordert, wenn wir ein verantwortungsvolles oder wirklich teilhabendes Gemeinschaftsmitglied sein und an allen Gemeinschaftsplänen und -veranstaltungen teilnehmen wollen und gleichzeitig die ganzen Facetten einer Familie aufrechterhalten wollen. Im Vergleich zu früher habe ich viel weniger Zeit für mich. Es ist tatsächlich eine Fülle von Aufgaben dazugekommen, wo ich gestalten kann, aber mich auch mit anderen Meinungen oder Haltungen auseinandersetzen muss.

Ladies Night

TV: Und wie gehst du damit um, dass du jetzt weniger Zeit für dich hast? Woher ziehst du dann deine Kraft und deine Ressourcen, um bei diesen Möglichkeiten auch präsent zu sein und mitzuwirken?

Stefanie: Eine ganze Weile habe ich es mit weniger Schlaf und mehr Kaffee versucht. Und ich musste mir tatsächlich neue Wege von persönlicher Resilienz erarbeiten. Ich musste erst einmal erkennen, wo ich mitwirken will, wo ich praktisch nur teilhabend oder passiv Mitwirkende bin, wo es sich für mich noch lohnt hinzugehen oder wo ich auch mal nicht hinzugehen brauche. Tatsächlich ging es auch ganz praktisch darum, wie ich meine Freizeit mit weniger Zeit und auch mit meiner Interessensverschiebung neu gestalte. Ich musste erst einmal lernen, was ich eigentlich selbst wirklich will. Ich habe mir Techniken wie Meditation, Yoga und Tai-Chi erarbeitet und lege mich einfach mal mit einer Entspannungsmusik für zehn Minuten ins Bett. Oder ich gehe hin und wieder früher schlafen. Oder ich nehme die Sauna oder einen Spaziergang in der Natur als einen Ruhemoment wahr. Dabei braucht es auch Achtsamkeit. Wenn ich mir nicht diene und mir nicht guttue, dann bröselt mir meine eigene Stärke weg. Und die steht dann auch nicht mehr der Gemeinschaft zur Verfügung.

TV: Was sind die Stärken von Gemeinschaften?

Stefanie: Gemeinschaften sind auf jeden Fall kein Ort des Paradieses, wo ich hingelange und dann wird das Leben automatisch einfacher. Was ich aber am Gemeinschaftsleben sehr schätze, ist die Möglichkeit, Leben, Lernen und Arbeiten an einem Ort zu verbinden, und das Netz der Beziehungen, in dem wir ja eigentlich drinstecken. Was wir in unserem isolierten Leben, das wir als Individuen führen, vergessen haben, ist die Belastbarkeit, die Aufeinanderbezogenheit. Das liegt auch daran, dass wir die unterschiedlichen Lebensbereiche und die Fragen danach, wie wir unsere Nahrungsmittel herstellen, wie wir gemeinsam leben, welche Rituale wir pflegen, wie wir unsere Wohnumwelten gestalten, welche Mobilitätsformen wir haben, alle in einen Topf werfen und ständig für jeden und alle darauf schauen müssen. Das gibt ein sehr großes Gefühl von Verbundenheit, weil wir so eine gemeinsame Vision haben. Ich kann mich einbringen, also ich kann auch selbstwirksam sein. Wir haben verschiedene Formen, wie wir uns begegnen. Es liegt ein Reiz darin, dass andere mich wirklich sehen und hören und auch die Bereitschaft haben, gesehen und gehört zu werden. Da wird eine tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit angesprochen. Gleichzeitig gibt es aber die Möglichkeit, darin zu agieren, sodass auch mein Autonomiebestreben gefüttert wird. 

»Auch die Schattenseiten kommen raus, und zwar ziemlich deutlich.«

Was ein bisschen anstrengender ist: Auch die Schattenseiten kommen raus, und zwar ziemlich deutlich. Und weil ich mit allen und allem verbunden bin, kann ich dem auch nicht ausweichen. Ich kann nicht morgens eine Maske aufsetzen und damit den ganzen Tag agieren und sie abends wieder absetzen und sagen »Puh, keiner hat gemerkt, was da eigentlich alles hinter der Maske an Ängsten, Sorgen und nicht so schönen Seiten ist«. Das funktioniert hier nicht. Aber es wird einem nicht vor die Füße geknallt – wenn es gut geht, auch hier menschelt’s –, sondern ich werde darauf in verschiedenen Settings hingewiesen und kann daran arbeiten, sodass ich das Gefühl habe, ich kann daran wachsen.

Was ich auch eine Stärke finde, ist die unglaubliche Fülle an Menschen und die Vielfalt, die das Leben hier auf allen Ebenen mit sich bringt. Und die Projekte: Es gibt nicht nur eine Gemeinschaft, sondern es ist auch ein Projektdorf. Das heißt zum Beispiel, Jugendliche in eine freie Ausbildung zu führen oder eine Solawi (solidarische Landwirtschaft) zu betreiben oder neue Häuser zu bauen. Es gibt ganz viele Felder, in denen ich agieren kann. Und ich bin dabei immer zu Hause. Ich muss nicht künstlich irgendwohin und ich muss mich nicht künstlich bewerben, ich kann hier sein und sagen, worauf ich Lust habe, oder ich sage, ich kann etwas, und bekomme das sogar bestätigt. Und wenn mal etwas nicht läuft, kann man das in einer andersartigen Fehlerkultur auch ansprechen: An diesem oder jenem fehlt es noch oder in diesem Team brauchen wir noch eine andere Struktur. Wie wollen wir es denn machen? Daraus ergeben sich dann natürlich auch andere Bedingungen, wie wir zum Beispiel wählen oder Gremien zusammenstellen oder Arbeitsgruppen bilden und wie wir Projekte strukturieren.

TV: Was ist das GEN?

Stefanie: GEN gibt es schon seit 30 Jahren. Das ist das Global Ecovillage Network, das Netzwerk der Gemeinschaften, auf Deutsch würden wir auch Ökodörfer sagen. GEN verbindet all diese Menschen und Dörfer oder intentionale Siedlungen, die ganzheitlich leben und diese Verbundenheit und Autonomie, von der ich sprach, praktisch in ihrem Leben gemeinsam gestalten wollen. Davon gibt es viele in Deutschland und auch in Europa. Es ist ein global agierendes, lebendiges Netzwerk. Es dient im Wesentlichen dem Austausch der Mitglieder untereinander. Manchmal braucht es so eine »Bubble«, in der sich Menschen treffen können, die sich mit Mut, aber auch mit Unsicherheit, Sorgen und Ängsten aufmachen. Daraus hat sich in den letzten Jahren auch viel Neues entwickelt, wie Ausbildungen, Kongresse sowie Fortbildungs- und Berufsmöglichkeiten.

»Dass wir eine neue Welt brauchen, steht inzwischen außer Frage. «

Ich bin bei GEN Mitglied im Lenkungskreis. Wir sind soziokratisch aufgestellt, also in einer Kreishierarchie, in der es nicht um Macht geht, sondern um die Weisheit des Kollektivs. Das setzt sich auch auf der europäischen Ebene fort. Da sind wir mehrere Hundert Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften kann man auch besuchen. Die Festivals, die wir veranstalten, sind für Interessierte offen und jederzeit buchbar. Wir agieren an unterschiedlichsten Stellen. Wir beraten zum Beispiel Gemeinschaften, die sich gründen, oder Gemeinschaftssuchende, die ein andersartiges Leben ausprobieren wollen. Wir arbeiten mit der öffentlichen Hand zusammen, also beispielsweise mit Verwaltungen hinsichtlich der Entwicklung von Dorfstrukturen oder in der Regionalentwicklung. Wir kooperieren mit Universitäten, nicht nur in Richtung Forschung, sondern auch in dem Bereich Stadt-Land-Kooperationen, Utopie-Bildung oder Reallaborschöpfung. Und so sind wir mit Städten und auch mit Regierungen im Austausch. Wir arbeiten in Brüssel mit Ecolise zusammen. Das ist ein Netzwerk von Ökodörfern, Permakultur und Transitiontowns, die eher auf Regierungsebene hinsichtlich Fördergeldern für die Entwicklung solcher Programme arbeiten.

Also es ist ein riesiges Netzwerk, sehr bunt und zum Teil sehr alternativ. Aber es geht in dem Netzwerk vor allem darum, zu schauen, wo wir Inseln und Lernorte schaffen können, die ein Heraustreten aus Normalstrukturen ermöglichen, um uns überhaupt eine Alternative zum bisherigen Leben gestalten zu lassen. Ich kann ja nur Neues denken, wenn ich einen neuen Impuls kriege. Wenn ich nicht aus dem Normalen heraustreten kann, wo alles praktisch schon vorgedacht ist und das Gestern sich auch morgen wiederholen wird, dann kriege ich gar keine Unruhe in meinem Hirn hin, um diese Unruhe mit Neugier und mit neuem Input zu füllen. Ich glaube, diese Ökodörfer sind gute Inkubatoren, um Unruhe zu stiften und sich und anderes infrage zu stellen, weil wir die ganze Zeit experimentieren. Wir haben ja auch nicht gelernt, wie eine neue Welt funktioniert. Nur, dass wir eine neue Welt brauchen, steht inzwischen außer Frage. Wie aber funktioniert sie, wenn ich sie nicht jeden Tag sehe und mein Morgen immer auf der Vergangenheit aufbauen muss? Wenn wir nichts ändern, dann reproduzieren wir ja nur innerhalb des Paradigmas von gestern. Und so braucht es Inseln, Menschen und Anknüpfungspunkte, die einfach mal was ausprobieren. Ob es gut ist oder nicht, sehen wir ja dann. Aber eigentlich geht es darum, Möglichkeiten zu schaffen. Und das tun wir in den Ökodörfern.

Zusammenkommen in Gemeinschaft

Das Präfix »Öko« in Ökodorf kommt nicht ausschließlich von Ökologie, sondern es kommt vom griechischen »Oikos«, was Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft bedeutet. Es kommt eigentlich aus dem Gedanken der Familie, aber aus der Ganzheitlichkeit. Das darf man nicht vergessen. Wir haben auch in den Ökodörfern noch Luft nach oben, wie wir uns ökologisch aufgestellt haben.

Zu den Zielen von GEN gehört es auch, Ermutigung zu geben, Experimentier- und Austauschräume zu schaffen, in denen man versucht, sein Leben wieder ganzheitlich zu betrachten und es in die eigene Hand zu nehmen. Ökodörfer sind Orte, wo real gelebt wird, was gedacht wird. Das heißt, es werden nicht nur Seminare gegeben, sondern die Dinge werden auch praktisch nach dem Motto »Walk your talk« umgesetzt. Ökodörfer sind Reallabore oder Zukunftswerkstätten. Sie sind Kontaktpunkte für Menschen, die dieses Leben ausprobieren wollen, und dienen als Inkubator oder als Schneeballsystem. Ökodörfer kümmern sich nicht darum, was systemrelevant ist, sondern was lebensrelevant ist. Und das sind grundsätzlich andere Haltungen, weg von der Ich-Zentriertheit hin zu einer »Listening Society«, in der der Mensch gesehen und auch wieder gehört wird.

Das Interview führten Stefanie Aue und Alice Deubzer.

Zur Interviewten:

Stefanie Raysz ist Master of Business Administration (MBA) und Pädagogin. Mutter von drei Kindern. Sie ist in Projektmanagement/PR und Öffentlichkeitsarbeit/Marketing- und Vertriebsleitung für verschiedene KMU und NGO tätig, Vorstandstätigkeit bei GEN (Global Ecovillage Network, Deutschland/Europe). Raysz lebt seit 2014 im Ökodorf/in der Zukunftswerkstatt Schloss Tempelhof. Beruflicher und privater Fokus: alternative Lebensformen, freie Schule, soziotechnische Innovationen und Technikphilosophie, Dorf- und Regionalentwicklung.

Bildnachweis: © Schloss Tempelhof

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