Guido Nerger - Hermetik

Die Hermetik als Bindungsglied zwischen Geist und Materie

Ein lebensbejahendes Erkenntnismodell

Autor: Guido Nerger

»In den Tieren bin ich, in den Pflanzen; im Mutterleib, vor der Empfängnis, nach der Geburt, überall.«

Die Hermetik kann als dritter Erkenntnismodus neben Religion und Wissenschaft betrachtet werden. Ihr Merkmal ist die Verbindung von Geist und Materie, ein spiritueller Blick auf das Irdische, in dem sich die göttliche Weisheit ebenso offenbart wie im rein Geistigen. Dies macht die Hermetik zum Potenzial einer spirituell integrierten Ökologie, in der die Erde und die Lebewesen in ihrer göttlichen Schönheit wertgeschätzt werden – ein positiver Blick auf das Diesseits, der unsere Seele aufatmen lässt.

Asclepius: »Die vollkommene Rede«

Irgendwann um das 3. Jahrhundert n. Chr., in einer von Katastrophen zerklüfteten Zeit, in der sich das Römische Reich massiven inneren und äußeren Spannungen ausgesetzt sah, von Kriegen und Aufständen über Pandemien bis hin zu den großen religiösen Ikonoklasmen, die letztlich zum langsamen Untergang des Imperiums und damit zum Niedergang der Antike führten, verfasste eine unbekannte Sympathisantin oder auch ein namenloser Anhänger des Hermes Trismegistos in Ägypten einen griechischen Text über eine Lebens- und Erkenntnisweise, die auch als sogenannter »Weg des Hermes« bekannt wurde. Dieser Originaltext ist uns nur durch eine im 11. Jahrhundert entstandene Abschrift einer wiederum um das 4. Jahrhundert entstandenen lateinischen Übersetzung des griechischen Originals überliefert. Zwischen diesem Original und der lateinischen […] Abschrift liegen also fast 1000 Jahre einer äußerst bewegten Geschichte des östlichen Mittelmeerraums. Das überlieferte Textmaterial ging durch viele Hände und es lässt sich nur schwer bestimmen, was darin Teil einer originären Hermetischen Lehre war und was als Bearbeitung vor allem durch christliche Autoren betrachtet werden muss. Doch griechische Zitate, die sich sowohl bei römisch-christlichen Autoren finden als auch in einer koptischen Übersetzung, die man 1945 in der Nähe des ägyptischen Nag Hammadi fand, belegen, dass die irgendwo in Nordafrika entstandene lateinische Übersetzung mit dem Titel Asclepius auf einem griechischen, in Ägypten verfassten Original mit dem Titel logos teleios beruht: »Die vollkommene Rede«.

Der lateinische Asclepius nun ist eine der umfangreichsten Abfassungen der überlieferten Hermetica, jener spätantiken Sammlung von Texten, die auch unter der modernen Bezeichnung Corpus Hermeticum zusammengefasst wurden. Aufgrund seines Umfangs und seines poetischen Stils sticht der lateinische Asclepius unter den Hermetica besonders heraus und kann daher als ein Schlüsseltext der Hermetik, dieser äußerst geheimnisumwitterten Lehre, betrachtet werden, die über zweitausend Jahre lang mehr oder weniger untergründig eine der vitalsten Quellen abendländischer Diskurse zwischen Philosophie, Religion, Spiritualität, Esoterik, Okkultismus, Wissenschaft und Kunst bilden sollte. So erregt die Hermetik bis heute die Gemüter von Forscherinnen und Forschern, um gleichzeitig die Imagination vieler Leserinnen und Leser anzuregen.

Wer ist Hermes Trismegistos?

Im Zentrum der Hermetica steht die legendäre Figur des Hermês Trismégistos (»der dreimalgrößte Hermes«), die seit der Spätantike als ein Synonym für ein archaisches (oder gar vorsintflutliches) Wissen über die Mysterien des Universums verwendet wurde, insbesondere für die okkulten oder eben Hermetischen Künste wie Magie, Astrologie, Alchemie und Theurgie. Hermes Trismegistos wurde als eine synkretistische Verschmelzung aus Thoth – dem alten ägyptischen Mondgott, Gott der Gelehrsamkeit und der Schrift, der Wissenschaft und der Magie, der als Schreiber der Götter zum Totengericht in der Unterwelt gehört – und dem griechischen Hermes geboren, diesem so windigen Gott, der als listenreicher Trickster Schrift, Sprache und deren Deutung (hermneía) und überhaupt alle Wissenschaften und Hermetischen Künste stiftet, der als psychopompós die Seelen (psychaí) der Verstorbenen genauso in die Unterwelt (hádēs) geleitet, wie er als Bote (angelos) der olympischen Götter Nachrichten und Träume (óneiroi) in die Welt der Menschen vermittelt und generell als ein menschenfreundlicher Gott die kosmische Verbindung zwischen den Welten der Götter, der Menschen und der Toten herstellt. Als eine synkretistische und quasi-göttliche Gestalt, die all diese Eigenschaften in einer schillernden überkulturellen Fülle verbindet, galt Hermes Trismegistos daher bis in die Renaissance als ein philanthropischer Kulturheld des hellenistischen Ägypten, der in der Zeit der römischen Besetzung die religiösen Überlieferungen des ägyptischen Altertums durch die Hermetica repräsentierte, in denen er als philosophischer Lehrer und Offenbarer auftritt.

Darstellung des ägyptischen Gottes Thoth

Unterweisung im Tempel

Im lateinischen Text Asclepius wird nun von einem Treffen des Hermes Trismegistos mit seinen Schülern Tat, Ammon und Asclepius (nach eben dem die lateinische Übersetzung benannt ist) berichtet. Das Treffen findet abends, vor Sonnenuntergang, in einem ägyptischen Tempel statt, in dem die drei Schüler einer langen Unterweisung durch Hermes lauschen, Fragen stellen und diskutieren. Es ist vor allem der Ort – ein nicht näher zu lokalisierender Tempel irgendwo in Ägypten, vielleicht ein sogenanntes Haus des Lebens, ein Skriptorium im Tempelbezirk einer Gottheit, vielleicht des Thoth, das eine Art Priesterkolleg bildete – beziehungsweise dessen genius loci, welcher der Szenerie eine ägyptische Stimmung verleiht und den Text selbst wie eine Götterstatue, die durch die magische Kunst der Malerei zum Leben erweckt wird, in einen ägyptischen Farbtopf taucht. Denn der Tempel, über den die Abendstimmung hereinbricht, bestimmt den Rhythmus und den Klang der mündlichen Unterweisung. In seinem Inneren ist es schattig und kühl. So, wie die Szenerie eine kontemplative Ruhe verströmt, sind Rhythmus und Klang der Unterweisung zunächst ebenfalls ruhig und kontemplativ. Es ist der heilige Ort, der es den drei Schülern ermöglicht, nach einem langen Tag unter der glühenden Sonne Ägyptens zur Ruhe zu kommen, durchzuatmen und sich in der einsetzenden abendlichen Stille den Worten des Hermes zu öffnen. Das Tempelmotiv, das den Text eröffnet, ist allerdings kein reines Stimmungsornament, sondern spiegelt nach der Hermetischen Logik die topologische Dreieinigkeit der Lehre des Hermes wider: Tempel–Ägypten–Kosmos. Denn in der Mitte des Textes beschreibt Hermes Ägypten als »Abbild des Himmels« und als »Tempel der ganzen Welt« (Ascl. 24).

Wie der namenlose Tempel ist das Land am Nil für Hermes ein heiliger Ort, der von den Göttern in höchster Harmonie und Schönheit entworfen wurde und von unzähligen Heiligtümern durchzogen ist. Diese Heiligtümer geben den Göttern eine Wohnstätte auf der Erde und ermöglichen eine Verbindung zu den Menschen, die im Tempeldienst gepflegt wird. 

»Der Tempel ist daher der Ort der göttlichen Inspiration.«

Der Tempel ist daher der Ort der göttlichen Inspiration. Analog dazu ist auch die Hermetische Lehre, das durch Hermes gesprochene ›Wort‹ (lógos), ein Tempel, da auch sie göttlich inspiriert ist. Diese göttliche Inspiration überträgt Hermes nun auf seine Schüler, indem er sie in seine Lehre einführt und sie auffordert, »die göttlichen Mysterien im verborgenen Inneren [ihres] Herzens mit Schweigen zu bedecken und in Verschwiegenheit zu verbergen.« (Ascl. 32) Denn der heiligste aller Tempel ist der menschliche Körper, der Resonanzraum der Hermetik.

Hermetische Nondualität

Im Folgenden erläutert Hermes mit dem Selbstbewusstsein eines initiierten Priesters der alten Götter oder eines philosophos die zentralen Themen der Hermetik: das Wesen der universalen Gottheit (nous) beziehungsweise der göttlichen Quelle (pēgē) des Seins (to ón) und des Lebens (zōē), die Entstehung und die Ordnung des Kosmos (kósmos) und die Stellung des Menschen (anthropos) in der Welt, das heißt in der kosmischen Ordnung. Wie in anderen Hermetica wird dabei besonders deutlich, dass die Hermetische Lehre, die sich in einem speziellen Vokabular ausdrückt, das fest in der Philosophie Platons verankert ist, nicht als ›gnostisch‹ im frühchristlichen Sinne zu verstehen ist: Die Hermetik ist also keine pessimistische, welt-, materie- und körperfeindliche, also antikosmische Weltsicht, die auf einer existenziellen und dualistischen Trennung von Gottheit und Mensch, Körper und Seele oder innen und außen beruht, wie dies in Analogie zum frühen Christentum und besonders zu christlich-›gnostischen‹ Strömungen der Spätantike gerade in modernen Forschungsinterpretationen immer wieder postuliert wird. 

»Die Hermetische Weltsicht ist vielmehr ein durch und durch optimistischer Blick auf die Welt.«

Die Hermetische Weltsicht ist vielmehr ein durch und durch optimistischer Blick auf die Welt. Sie ist dem Kosmos und dem Leben zugewandt und um eine (aus heutiger Perspektive) ›spirituelle‹ Integration des Körpers in der Realisierung der göttlichen Realität bemüht. Die Hermetik ist daher nicht dualistisch, sondern vielmehr »radikal monistisch« und »nondualistisch« (Hanegraaff 2022, 168).

Der Weg des Hermes

Zwar wird der Körper (sōma) auch in der Hermetik (ganz nach platonischem Vorbild) vom Schicksal bestimmt, das heißt vom Einfluss der Planetensphäre (heimarmenē), und daher durch zwölf daimonische Kräfte (daímones) gelenkt, die den Körper im Moment der Verkörperung der Seele (psychē) befallen. Doch aus dieser gegebenen Affinität des Körpers zu den planetarisch-daimonischen Kräften – Unwissenheit (agnōsía), Trauer (lýpē), Unbeherrschtheit (akrasía), Begierde (epithymía), Ungerechtigkeit (adikía), Gier (pleonexía), Betrug (apát), Neid (phthónos), Verrat (dólos), Zorn (orgē), Rücksichtslosigkeit (propeteía), Schlechtigkeit (kakía) – entsteht in der Hermetik eben kein pessimistisches oder fatalistisches Weltbild.

Eine Hermetische Philosophin oder ein Hermetischer Philosoph legt nach dem Vorbild des Hermes ob der daimonischen Kräfte nicht untätig die Hände in den Schoß und beklagt die Welt als einen gottlosen Ort oder ein finsteres Tal des Todes (vgl. Pss. 23,4), das gänzlich vom Licht (phōs) abgeschnitten wäre. Vielmehr beschreibt der Weg des Hermes eine Möglichkeit, den Körper vom Einfluss dieser daimonischen Kräfte zu befreien. Denn der Körper bildet in Analogie zur Welt und zum Kosmos als Vehikel (ochēma) oder Haus […] der Seele die Grundlage und den Ausgangspunkt des Weges des Hermes in der Welt der Materie (hylē). Den zwölf daimonischen Kräften werden daher zehn göttliche Energien zur Seite gestellt: Erkenntnis der Göttlichkeit (gnōsis theou), Freude der Erkenntnis (gnōseōs chara), Selbstbeherrschung (enkrateía), Ausdauer (kartería), Gerechtigkeit (dikaiosýnē), Gemeinschaft (koinonía), Wahrheit (alētheia), Leben (zōē), Licht (phōs) und das Gute (to agathon). Mit Hilfe einer richtigen Lebensweise, beispielsweise durch Meditationen und eine fleischlose Ernährung (vgl. Ascl. 41), lassen sich diese zehn göttlichen Kräfte bewusst kultivieren. Durch diese philosophía erreicht die Hermetikerin oder der Hermetiker letztlich einen Zustand geistiger Realisierung (anamnēsis) oder Erkenntnis (gnōsis) der uneingeschränkten Fülle (plērōma) der göttlichen Realität. Dieser Zustand ist als Selbstvergöttlichung zu verstehen und beschreibt einen Abschnitt auf dem Weg der Seele zurück zur Quelle des Seins und des Lebens.

Diese Hermetische Erlösung (palingenesia) aus dem Kreislauf des Schicksals durch Erkenntnis wird in einem anderen Text des Corpus Hermeticum von Tat, einem der drei Schüler aus dem Asclepius, erreicht und eindrucksvoll beschrieben (CH 13,11): »Unerschütterlich bin ich geworden … durch Gott habe ich eine Vision nicht mit der Sehkraft meiner Augen, sondern durch die geistige Energie, die von den Kräften stammt. Im Himmel bin ich, in der Erde, im Wasser, in der Luft; in den Tieren bin ich, in den Pflanzen; im Mutterleib, vor der Empfängnis, nach der Geburt, überall.« Diese Hermetische palingenesia ist allerdings keine Erlösung im Sinne einer Loslösung vom Körper oder sonst eine spirituelle Weltflucht, sondern vielmehr eine geistige Geburt durch den Körper in die Welt und den Kosmos.

Eine Philosophie der Erde

In der Hermetik bildet demnach alles eine Einheit: Gottheit–Kosmos–Mensch und Kosmos/Welt–Erde–Mensch sind Entsprechungen des Einen (hen) aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Fülle und der kosmischen Vielfalt. So gibt es auch keinen blinden Punkt in der Schöpfung oder eine Umkehrung des Einen und Guten (to agathon) in eine Vorstellung des ›Bösen‹. Auf der Hermetischen Schöpfung liegt kein Schatten. Im Gegenteil. Im Asclepius beschreibt Hermes die Schöpfung wie folgt (Ascl. 2):

Vom Himmel (kommt) alles zur Erde, ins Wasser und in die Luft. Das Feuer ist allein das, was als lebenschaffendes Element nach oben strebt; was nach unten strebt, dient ihm. Aber was aus der Höhe herabkommt, ist zeugend; was nach oben steigt, nährend. Die Erde allein ruht in sich selbst und nimmt alles auf und lässt alle Arten wieder entstehen, die sie empfangen hat. Dies ist also das Ganze, wie du dich entsinnst, das aus allem besteht oder alles ist. Seele und Materie werden von der Natur erfasst und in Bewegung gesetzt und durch die Vielfältigkeit aller Abbilder in eine solche Mannigfaltigkeit gebracht, dass man aus den Unterschieden in der Beschaffenheit erkennt, dass es unendlich viele Erscheinungsformen gibt, die aber dennoch eine Einheit bilden mit dem Ergebnis, dass das Ganze eins und aus einem alles zu sein scheint.

»Alles ist bei seiner Bewegung von ganz unten nach ganz oben miteinander verbunden und bezieht sich aufeinander.«

Laut Hermes ist alles miteinander verbunden (Ascl. 19): »Alles ist bei seiner Bewegung von ganz unten nach ganz oben miteinander verbunden und bezieht sich aufeinander. Mit dem Unsterblichen ist das Sterbliche und das sinnlich Wahrnehmbare mit dem Nicht-Wahrnehmbaren verbunden.« Und weiter (Ascl. 39): »Nichts geschieht nämlich, ohne dass die Ordnung es fügt. In allem ist dieser Kosmos vollkommen. Denn der Kosmos an sich wird von der Ordnung getragen oder beruht ganz auf Ordnung.« Harmonisch ist die Ordnung auch deswegen, weil es im Kosmos und auf der Erde keinen Mangel gibt (Ascl. 27): »Wie nämlich Gott allen Einzelformen und Gattungen, die es im Kosmos gibt, die Güter, das heißt Geist, Seele und Leben, zumisst und unter sie verteilt, so gibt und gewährt auch der Kosmos alles, was die Sterblichen für Güter halten, das heißt den Wechsel der Jahreszeiten, das Werden der Früchte, ihr Wachsen und Reifen und was damit zusammenhängt.« Der Kosmos ist wie die Erde ein unsterbliches Lebewesen, das erfüllt ist von Ewigkeit und Leben. Es gibt nichts tatsächlich Vergängliches (vgl. Ascl. 29), vielmehr bringt der Kosmos durch endlos neue Mischungen und Verwandlungen beständig Leben hervor.

In Analogie zu Platon (Tim. 90a) beschreibt Hermes den Menschen auch als ein himmlisches Gewächs (phytón ouránion), dessen Wurzeln vom Himmel aus auf die Erde wachsen und das vom Kosmos und von der Erde gleichermaßen genährt wird (Ascl. 6):

Von all diesen Gattungen haben die beseelten Lebewesen Wurzeln, die von oben nach unten herabkommen, die der unbeseelten aber wachsen aus natürlicher Wurzel von unten nach oben. Manche aber nähren sich von zweifacher Nahrung, manche nur von einfacher. Für Seele und Körper, aus denen die beseelten Lebewesen bestehen, gibt es zwei Arten von Nahrung. Die Seele erhält Nahrung durch die niemals ruhende Bewegung des Kosmos; die Körper wachsen aus Wasser und Erde.

Pavimento di siena, Ermete Trismegisto (Giovanni di Stefano)

Der Mensch ist wie eine Pflanze in die kosmische Ordnung eingepflanzt, in der also alles seinen Platz einnimmt. Der Mensch ist Mensch durch den Kosmos und von der Erde. Ja mehr noch. Wie Hermes verkündet (Ascl. 6),

ist der Mensch ein großes Wunder, ein Lebewesen, das Verehrung und Anerkennung verdient. Denn der Mensch geht in die Natur Gottes über, als ob er selbst Gott wäre … in solcher Weise ist er also an dem glücklicheren Ort der Mitte angesiedelt, dass er die Wesen, die unter ihm stehen, liebt, selbst aber von denen, die über ihm stehen, geliebt wird. Er bebaut die Erde, mischt sich mit den Elementen dank der Schnelligkeit seines Denkens, mit seiner Denkkraft steigt er in die Tiefen des Meeres hinab.

Denn von allen beseelten Lebewesen sind es allein die Menschen, die vom »Geist der Erkenntnis« (gnōsis) durchdrungen sind und daher den »göttlichen Plan« (Ascl. 22) dieser wohldurchdachten Schöpfung und der Ordnung des Kosmos erkennen können, da sie von der Gottheit mit Geist (nous) beschenkt wurden (vgl. Ascl. 22).

Hermetische Ökologie: Erhalt des Kosmos

Auf eine Frage des Asclepius, warum die Menschen dennoch »in die materielle Welt« und in den Körper inkarnieren müssten (Ascl. 7), antwortet Hermes mit einiger Verzögerung (Ascl. 10): »Der Mensch übernimmt die ihm übertragene Aufgabe der gewissenhaften Fürsorge, und er bewirkt, dass sie beide, er selbst und die Welt, sich gegenseitig zur Zierde gereichen, so dass man, wie es scheint, infolge dieser ganzen von Gott geschaffenen Komposition von Ordnung und Schmuck spricht – auf Griechisch richtiger von kósmos.« Dies ist eine der zentralen Aussagen der Hermetik, die man als eine Hermetische Ökologie bezeichnen kann, also als eine Lehre vom Haushalt im Sinne einer Fürsorge um das Haus der Erde beziehungsweise des Kosmos.

»Kosmos und Erde bilden eine lebendige ökologische und geistige Einheit.«

Denn Kosmos und Erde bilden eine lebendige ökologische und geistige Einheit (vgl. Ascl. 31). Alle Ebenen und Elemente, jedes einzelne Lebewesen – ob nun beseelt oder unbeseelt, ob groß oder klein – existieren, um alle anderen Ebenen, Elemente und Lebewesen zu »schmücken«, das heißt das jeweilige Gegenüber im Sein freudig zu stabilisieren und zu unterstützen. Jedes Lebewesen ist eine Welt durch alle anderen Lebewesen. Der Kosmos und die Erde »schmücken« den Menschen also ebenso, wie der Mensch die Erde und den Kosmos »schmückt«. Das Vokabular der Hermetica ist bei der Beschreibung des Verhältnisses von Erde und Mensch dabei dezidiert erotisch. Denn wie im kosmologischen Mythos des ersten Traktats des Corpus Hermeticum berichtet wird, ist die Beziehung zwischen Erde und Mensch eine Liebesgeschichte. Ohne die Fürsorge des Menschen wäre die Erde einsam (vgl. Ascl. 10). Und ohne die Fürsorge der Erde wäre der Mensch auch einfach nur das: allein und leblos.

Hermes und seine Schüler lassen daher keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie froh darüber sind, am Leben zu sein, lebendig in einer lebendigen Welt zu sein. Von dieser Einstellung zum Leben und zur Welt ist die Hermetik durchdrungen. Daher ist es nur folgerichtig, dass Hermes die zentrale Aufgabe der Menschen darin bestimmt, den Kosmos und die Welt und jedes einzelne Lebewesen der göttlichen Ordnung entsprechend zu erhalten und zu schützen und zum Fortbestehen und zur Weiterentwicklung der Schöpfung beizutragen (Ascl. 11): »Denn da die Welt Gottes Werk ist, verbindet derjenige, der ihre Schönheit mit Sorgfalt bewahrt und vermehrt, seine Mühe mit dem Willen Gottes, indem er die schöne Gestalt, die jener in seinem göttlichen Vorhaben geformt hat, unter täglichem Einsatz seines Körpers durch seine Arbeit und Sorge in Ordnung erhält.« Dies ist der Sinn des Lebens. Lebendig zu sein im Sinne der göttlichen Harmonie aller Lebewesen im Kosmos. Wer nach Hermes entsprechend der Ordnung lebt, wird nach dem Tod nicht in einem neuen Körper wiedergeboren. Wer hingegen wider die göttliche Ordnung handelt, das heißt »schlecht und unfromm« gelebt hat, dem »wird die Rückkehr in den Himmel verweigert, und der wird für eine unwürdige und scheußliche Wanderung in andere Körper festgesetzt.« (Ascl. 12)

Wie die zitierten Passagen zeigen, ist die Hermetik also eine durch und durch planetarisch-kosmische oder ökologische Philosophie. Eine Philosophie der Erde. Zugespitzt kann man sagen, dass es nicht allein der göttliche Geist ist, der sich in der Hermetik offenbart, sondern die Erde selbst, die – durch Hermes – spricht. Denn die Erde ist in der Logik der Hermetik vom Geist in der Art durchdrungen, wie der Geist von der Erde durchdrungen ist.

Melancholie im Tempel

Diese ökologische Körper- und Weltfreundlichkeit der Hermetik ist, historisch betrachtet, besonders bemerkenswert, da die Hermetica in einer Zeit aufkommender Körperfeindlichkeit entstehen, die sich im frühen Christentum in einer militanten Weltverachtung verhärtet. Gerade die vielen christlich-›gnostischen‹ Strömungen der Spätantike begannen, eine neue Weltsicht zu propagieren, in der alle Formen von Materie – Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Sexualität und insbesondere Weiblichkeit – als dämonisch gebrandmarkt wurden. Da aus dieser ›gnostischen‹ Sicht Kosmos, Erde und Menschen gleichsam von einer bösartigen Gottheit (dem sogenannten dēmiourgós) geschaffen seien und sich die gute Gottheit […] außerhalb des Kosmos verberge (daher lat. Deus absconditus), müssten der Kosmos und alle seine Erscheinungsformen verachtet und überwunden werden, um den Weg zurück zum guten Gott zu finden. Nach ›gnostischer‹ Überzeugung schuf der dēmiourgós Kosmos und Körper einzig und allein als ein vielstufiges Gefängnis, um die Seelen darin bis in alle Ewigkeit einzukerkern. So wurden eine (demiurgische) ›Natur‹ und ein (insbesondere ›weiblicher‹) Körper als das unheimliche und böse Gegenüber des guten Göttlichen erschaffen und dogmatisch kodifiziert, um fortan als ›das Andere‹ und ›Fremde‹ verachtet und ausgebeutet zu werden. Es ist offensichtlich, wie fern diese Weltverachtung der Hermetik ist.

Doch diese antikosmischen Dogmen, die ein historisches Spiegelbild der vielen Krisen des 3. Jahrhunderts liefern, gehen auch an der Hermetik nicht spurlos vorbei: Aller optimistischen Weltzugewandtheit der Hermetischen Lehre zum Trotz, breitet sich im Verlauf der Unterweisung durch Hermes im Asclepius eine immer stärker werdende Melancholie in der abendlichen Stimmung des Tempels aus. Es ist diese Melancholie, die in anderen Hermetica fehlt, die den Asclepius so besonders und historisch nahbar macht. Denn die drei Schüler spüren im Verlauf der Unterweisung, dass etwas Grundsätzliches in der Welt nicht stimmt. Nicht mehr stimmt.

Die Vorausschau des Hermes

So hat das Treffen im Tempel von Anfang an auch den Charakter einer erzwungenen Weltflucht. Denn so, wie sich die letzten ägyptischen Priesterinnen und Priester in das Isis-Heiligtum auf der Insel Philae im ägyptischen Niltal vor dem gewaltsamen Ansturm des Christentums zurückzogen, so scheinen sich die drei Schüler des Hermes gleichermaßen in den Tempel und in die Lehre zu flüchten. Doch auch dort erwartet sie zunächst keine Ermunterung. Im Gegenteil. Auf dem Höhepunkt der Unterweisung bricht Asclepius in Tränen aus (vgl. Ascl. 25), als Hermes seinen Schülern eröffnet, dass alle wahre Weisheit auf der Erde im Niedergang begriffen ist.

Da die Menschen in Ägypten insbesondere […] durch die Christen an der Ausübung ihrer Götterdienste gehindert wurden und die alte ägyptische Religion der Erde und des Kosmos fast vollständig zerstört ist, kommt es letztlich zur ultimativen Katastrophe: Die Götter haben Ägypten verlassen (vgl. Ascl. 24). Auch wenn sich Hermes nicht explizit auf das Christentum bezieht, scheinen es doch genau jene antikosmischen Dogmen zu sein, die die Götter veranlassten, Ägypten, die Erde und letztlich die Menschen zu verlassen. Im Angesicht dieser kosmischen Katastrophe, der sich die drei Schüler nun gegenübersehen, ermahnt Hermes sie zu Besonnenheit, indem er ihnen mit »moralischer Dringlichkeit« (Hanegraaff 2022, 61) den zukünftigen Verlauf der Welt vorausschauend aufzeigt: Durch den Verlust der »Liebe zur Philosophie« (Ascl. 12) wird es den zukünftigen Menschen nicht nur unmöglich sein, zur Erkenntnis der göttlichen Realität zu gelangen. Es wird sogar zu einer vollständigen Umkehrung der Betrachtung der Erde, des Kosmos und somit des Lebens selbst kommen (Ascl. 25):

Nil und Nildelta, Quelle Airbus Space, CNES 2002

Und dann wird den Menschen in tiefem Abscheu der Kosmos nicht mehr bewunderungswürdig und anbetenswert erscheinen. Dieses gesamte Gut, das vollkommenste, das es je gegeben hat, gibt und geben wird, soweit man sehen kann, wird gefährdet und den Menschen eine Last sein, und deswegen wird dieser ganze Kosmos verachtet und nicht geliebt werden, dieses unnachahmliche Werk Gottes, diese ruhmreiche Schöpfung, dieses Gut, das in der bunten Vielfalt der Abbilder gestaltet ist  das Dunkel wird dem Licht vorgezogen werden und der Tod wird für sinnvoller als das Leben gehalten werden … Jede göttliche Stimme wird in notwendig gewordenem Schweigen verstummen; die Früchte der Erde werden verderben, und die Erde wird unfruchtbar sein, selbst die Luft wird in trauriger Reglosigkeit matt und fahl werden.

Es braucht nicht sonderlich viel Vorstellungskraft, diese vorausschauenden Worte des Hermes, die vor fast zweitausend Jahren irgendwo in Ägypten niedergeschrieben wurden, auf unsere eigene Zeit zu übertragen.

Literatur:

Alle angepassten Übersetzungen aus: Carsten Colpe, Jens Holzhausen, Das Corpus Hermeticum Bd. 1: Die griechischen Traktate und der lateinische »Asclepius«, übersetzt v. Jens Holzhausen, Stuttgart-Bad Cannstadt 1997.

Hanegraaff (2022): Wouter J. Hanegraaff, Hermetic Spirituality and the Historical Imagination: Altered States of Knowledge in Late Antiquity, Cambridge 2022.

 

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Zum Autor:

Guido Nerger studierte an der Freien Universität Berlin Altertumswissenschaften, Religionswissenschaft und Philosophie. Er promoviert gegenwärtig zu Hermetik und Hermetismus in der europäischen Moderne und lebt in Berlin.

Bildnachweis: © Adobe Photostock

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