Östliche Heilmittel im Westen neu entdeckt
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Während sich in Europa um 1900 die industrielle Pharmakologie entwickelte, wurde der jahrtausendealte Ayurveda in Indien modernisiert. Wie sich heute westliche und östliche Medizin verbinden und der traditionelle Ayurveda mit heutiger Wissenschaftstechnologie neu interpretiert wird, zeigt die Autorin an den bekannten Beispielen der Kurkuma-Wurzel und des indischen Weihrauchs.
Die Natur war schon immer für uns Menschen da. Seit Beginn der menschlichen Geschichte bedienen wir uns aus ihrem heilsamen Garten. Nun, was ist daran revolutionär, könnte man fragen. Blicken wir einmal zurück in die Zeit der Industrialisierung: Zu dieser Zeit werden immer mehr handwerkliche Tätigkeiten durch maschinelle Arbeit ersetzt, die Automatisierung hält Einzug. Die Wissenschaft schreitet fort und bringt neue technologische Erkenntnisse hervor. Die moderne Medizin und ihre Pharmaka sind die neue Revolution. Mit der Entdeckung von Penicillin und der Großproduktion von Aspirin geht es langsam los. Medikamente werden wissenschaftlich entwickelt und produziert. Die moderne Wissenschaft setzt dabei auf einzelne Wirkstoffe, die nun entweder aus Extrakten isoliert oder labortechnisch synthetisiert werden. Diese werden in Tabletten verpresst oder in Flaschen abgefüllt und gehen dann über den Apotheken-Tresen an die breite Bevölkerung. Schon bald heißt es nun »zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker«.
Tradition und Wissenschaft gehen Hand in Hand.
Zeitgleich mit der Vermarktung des Aspirins in Deutschland Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt auf der anderen Seite der Erdkugel in Indien eine andere Revolution. Das jahrtausendealte Ayurveda-System wird von dem vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi in Zusammenarbeit mit Ayurveda-Experten Indiens neu aufgerollt und zu einem wissenschaftlich fundierten Ayurveda-System weiterentwickelt. Tradition und Wissenschaft gehen Hand in Hand. So hat der Ayurveda nie seine philosophischen Wurzeln in der Vedanta-Tradition und den vedischen Wissenschaften verloren, sondern wurde vielmehr durch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt.
Sehnsucht nach Natürlichkeit
Blicken wir zurück nach Europa. Während die moderne Pharmazie immer mehr Wirkstoffe entwickelt, auf den Markt bringt und Forschung betreibt, werden Medikamente lebenswichtig. Die Industrialisierung und die Kriege in Europa lassen den Bedarf an medizinischer Versorgung und schneller Hilfe rasant steigen. Ende des 20. Jahrhunderts, nach den Wirren der Kriegsjahre, beginnen die Menschen langsam wieder zur Ruhe zu kommen, und es ist an der Zeit, sich mehr dem eigenen Selbst und der Natur zu widmen. Eine Rückbesinnung auf die traditionelle Naturheilkunde findet statt, und der Ruf nach mehr als nur weißen Pillen mit schneller Wirkung und etlichen Nebenwirkungen wird laut. Wir erinnern uns zurück an die Druiden und Naturheilfrauen, an die weisen Äbte und Äbtissinnen, die Ärzte und Heiler vergangener Jahrhunderte und an unsere reiche Pflanzenwelt. Die Menschen sehnen sich nach Nachhaltigkeit und Natürlichkeit.
Eine Rückbesinnung auf die traditionelle Naturheilkunde findet statt.
Die Globalisierung bringt allmählich östliche Weisheit und westliche Wissenschaft zusammen. Yoga ist stark im Kommen und läutet eine neue Revolution ein. Jeder will Yoga ausprobieren, und das Interesse an hinduistischen und buddhistischen Lehren wächst. Ein gesunder Lebensstil gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die indisch-ayurvedische Küche mit ihren exotischen Kräutern und Gewürzen wird populär. Auch die westliche Phytotherapie erhält einen Aufschwung. Immer mehr Therapeuten greifen auf phytotherapeutische Fertigarzneimittel, Extrakte und Teemischungen zurück. Die moderne Naturheilkunde wird geboren – entstanden aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und traditionellen Anwendungen.
Kurkuma-Extrakt verbindet Tradition und Wissenschaft
Heute finden wir immer mehr Präparate in den Apotheken, die einen Mix aus moderner westlicher Naturheilkunde und ayurvedischer Heilphilosophie darstellen. Die wohl bekanntesten Vertreter davon sind der indische Weihrauch, die Schlafbeere (Ashwagandha), der indische Spargel (Shatavari), Aloe Vera, Ingwer und der Neem-Baum.
Ein Klassiker ist mittlerweile die Gelbwurz, auch Kurkuma oder Curcuma longa, wie er in der Botanik genannt wird. In der ayurvedischen Tradition kennt man ihn als »Goldene Milch« zusammen mit schwarzem Pfeffer, Kardamom und Honig in Milch angerührt oder als Gewürz in der Küche sowie als Bestandteil arzneilicher Pulver (Churna), die regelmäßig verabreicht werden. Er hat den Ruf, die Gelenke beweglicher und die Sehnen geschmeidiger zu machen. Durch seinen bitteren und scharfen Geschmack wird er bei Verdauungsschwäche eingesetzt und zur Unterstützung der Leber-Galle-Funktion angewendet (Stärkung von Agni, dem Feuer der Verdauung). Auch als Heilmittel bei Allergien und Heuschnupfen kennt man die Gelbwurz. Sie heilt Entzündungen aller Art (eine Störung des Pitta-Dosha) und verschiedene Hauterkrankungen. Durch ihren bitteren und scharfen Geschmack baut sie Giftstoffe (Ama) ab und hilft, Kapha-Dosha zu reduzieren. Die Kurkuma-Wurzel ist ein kleiner Alleskönner, denn auch auf Vata-Dosha hat sie eine besänftigende Wirkung, insbesondere im Magen-Darm-Trakt: Blähungen und Krämpfe werden gemildert, und das Nervensystem profitiert von ihrer vegetativ beruhigenden Wirkung. Die Kurkuma-Wurzel enthält ätherisches Öl mit verschiedenen Monoterpen-Komponenten wie Phellandren, Cineol und Borneol. Des Weiteren finden wir in der »Wunder-Wurzel« eine ölige Substanz mit Sesquiterpenen, darunter Tumerol, Zingiberen und verschiedene Curcuminoide, die als natürliche Antioxidantien fungieren.
Hier kommt nun die pharmazeutische Forschung ins Spiel. Viele dieser öligen Substanzen, insbesondere die langkettigen Curcuminoide, sind über den Magen-Darm-Trakt nur schwer bio-verfügbar, der Darm kann sie schlecht aufnehmen. Deswegen wird der Kurkuma-Extrakt in sogenannte Mizellen »verpackt«. Mithilfe eines Emulgators (Polysorbat 80) formen sich die Mizellen (Liposomen), die wie eine Kugel aussehen und in ihrem Inneren die fettlöslichen (lipophilen) Curmcuminoide tragen, während sie im äußeren Teil der Kugel wasserlöslich (hydrophil) sind. Auf diese Weise können sie die Darmschleimhaut ohne Schwierigkeiten passieren und in den Blutkreislauf gelangen. Von dort aus erreichen sie leicht die Leber und die peripheren Gewebe und können dort ihre wundersam anregende und entzündungshemmende Wirkung entfalten. Mit dieser Technologie (man spricht auch von einer liposomalen Formulierung) ist es möglich, viele der wirksamen Bestandteile der gelben Wurzel aufzunehmen und eine hohe Wirksamkeit zu erzielen. Alleine der Geschmack geht dabei etwas unter. Deswegen ist die »Goldene Milch« nach wie vor ein leckerer Zaubertrank, denn im Ayurveda spielt der Geschmackssinn bei der Therapie eine entscheidende Rolle.
Weihrauch hilft als Fertigarznei
Eine weitere beliebte ayurvedische Heilpflanze ist der indische Weihrauch (botanisch Boswellia serrata oder Shallaki in Sanskrit). Beheimatet ist er in den trockenen und hügeligen Gebieten Indiens nahe des Himalaya-Gebirges, in Assam und Westbengalen. Der Weihrauch wurde wegen seiner heilsamen Wirkung bereits in den alten ayurvedischen Schriften wie der Charaka-Samhita (1. Jahrhundert v. Chr.) oder der Bhava Prakasha Nighantu (15./16. Jahrhundert n. Chr.) beschrieben. Genutzt wird das Harz des indischen Weihrauchbaumes. Nachdem die Rinde angeritzt wurde, tritt das kautschukartige Oleoresin aus, das dann gesammelt und für medizinische Zwecke weiterverarbeitet wird.
Das Harz enthält 50–60 Prozent Triterpensäuren, vor allem Boswelliasäure, sowie 7,5–9 Prozent ätherisches Öl und 10–25 Prozent Schleimstoffe. Weitere Komponenten sind Gummi, Bassorin und Bitterstoffe. Für die medizinische Wirksamkeit des Weihrauchs sind vor allem die Boswelliasäure und ihre Abkömmlinge verantwortlich. Sie wirken entzündungshemmend und schmerzlindernd, vor allem durch Hemmung der körpereigenen Synthese von Entzündungsmediatoren. Solche körpereigenen Stoffe sind zum Beispiel die Leukotriene, die Entzündungsgeschehen vermitteln und so beispielsweise bei einem Asthmaanfall die Verengung der Bronchien auslösen. Aber nicht nur das. Das heilige Harz ist mit seiner Boswelliasäure auch antimikrobiell wirksam und hat, nachgewiesenermaßen, einen schützenden und heilenden Effekt auf Ulcera im Magen-Darm-Trakt. Außerdem wurde in Studien für die Boswelliasäure und den Weihrauch-Extrakt eine zelltötende Wirkung auf Tumorzellen nachgewiesen.
Als Fertigarzneimittel kommen Weihrauch-Extrakte zur innerlichen Einnahme in Kapselform und das Olibanumöl zur Pflege des Mundraumes infrage. So kann mit ein bis drei Tropfen Olibanumöl in einer Tasse Kamillentee Aphthen und Rachenentzündungen entgegengewirkt werden. Weihrauch-Extrakte zur innerlichen Einnahme kommen beispielsweise bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, Leaky-Gut-Syndrom, Asthma bronchiale, Autoimmunerkrankungen und Tumorleiden zum Einsatz.
Im Ayurveda wird der Weihrauch traditionell bei Entzündungskrankheiten eingesetzt. Die Hauptanwendungsbereiche in der ayurvedischen Medizin sind das Nervensystem, Entzündungen des Bewegungsapparates, der Atemwege, der Schilddrüse, des Verdauungssystems, des Urogenitaltraktes und der Haut. Durch seine Pitta-Dosha-reduzierenden Eigenschaften kühlt er bei Entzündungen von innen und kann bei Durchfall, Bronchitis, Asthma, Fieber und Blutungen genutzt werden. Auch äußerlich findet er Verwendung bei Hauterkrankungen und zur Raumdesinfektion als Räuchermittel.
Zu guter Letzt ist noch die Verwendung im spirituellen Kontext zu erwähnen. Seit Jahrtausenden wird er in religiösen Kreisen zu Gebet, Meditation und im Gottesdienst verwendet. Er war eines der drei Geschenke der Drei Heiligen Könige an das Jesuskind und wird 17-mal in der Bibel erwähnt. Bereits damals war Weihrauch sehr kostbar und wohlbekannt für seine antientzündlichen Eigenschaften sowie als Parfüm in Gebrauch. Der Geruch von Weihrauch verbessert die kognitiven Eigenschaften, kann negative Gefühle wie Ängste und Stress lindern und den Hormonhaushalt harmonisieren. Man kann ihn als Räucherwerk verwenden oder als ätherisches Öl vernebeln. Kurz gesagt, der Duft nach Weihrauch vertreibt »böse Geister« und vertieft die Meditation. Er reinigt Körper und Geist und lässt die Seele aufatmen.
Ayurvedische Heilpflanzen im westlichen medizinischen Gebrauch sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Kulturen aus Ost und West sich gegenseitig bereichern und erweitern können.
Ayurvedische Heilpflanzen im westlichen medizinischen Gebrauch sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Kulturen aus Ost und West sich gegenseitig bereichern und erweitern können. Die Natur ist und bleibt dabei die beste Hausapotheke, die man sich wünschen kann. Hin und wieder erweitern wir ihre heilsame Kraft durch pharmazeutische Entwicklungen und tragen so Sorge für eine optimale Wirksamkeit und Verträglichkeit. Es bleibt spannend, welche revolutionären Entdeckungen und Entwicklungen das 21. Jahrhundert für uns bereithält und wie die Ayurveda-Tradition weitergetragen wird. Denn wie Thomas Morus einst sagte: »Tradition ist nicht das Anbeten der Asche, sondern das Weiterreichen des Feuers.«
Zur Autorin
Cordula Elisabeth Linke ist seit sechs Jahren als Apothekerin, Yoga-Lehrerin und Ayurveda-Kundige in Berlin tätig. Seit 2019 ist sie Heilpraktikerin und freut sich auf einen neuen beruflichen Start mit Ayurveda, Reflexzonen-Therapie und westlicher Phytotherapie. Kontakt: info@cordulalinke.de
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