Dr. Sylvester Walch

Dr. Sylvester Walch – Transpersonales Selbst

Innere Weisheit und die Sehnsucht nach Befreiung

Für die spirituellen Traditionen und die transpersonale Psychologie sind wir weit mehr als das persönlich-individuelle Selbst, das sich im Laufe des Lebens kontinuierlich herausgebildet hat. Dieses kosmische Selbst geht über den begrenzten Horizont unserer individuellen Persönlichkeit hinaus, es ist transpersonal und verbindet uns mit dem großen Mysterium. Dabei können uns bewusstseinserweiternde Praktiken wie Meditation und Holotropes Atmen unterstützen, den Zugang zu unserer Inneren Weisheit zu finden und zu pflegen.

Der Mensch kann in seiner Entwicklung darauf bauen, geführt zu werden, wenn er auf seine innere Stimme hört. Sie greift tiefer, als wir begreifen können, und sie umfasst mehr, als wir uns vorstellen können. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir das Beste aus unserem Leben machen können, wenn wir diesen »Botschaften des Seins« folgen. Sie sind kreativ, innovativ und transformativ, und wer sich darauf einlässt, fühlt sich lebendiger, wahrhaftiger und mehr im Einklang mit sich und der Welt. Diese innere Führung, die auch als »Selbstführung« bezeichnet werden kann, berücksichtigt nicht nur die vorhandenen Potenziale, sondern bezieht stets auch die äußeren Bedingungen mit ein.

In der Medizin ist es mittlerweile unbestritten, dass »jede Heilung immer und grundsätzlich Selbstheilung ist« (Hüther, 2012, S. 422). Wie effektiv die Selbstheilungskräfte wirken, hängt natürlich immer davon ab, ob der Patient sein Krankheitsgeschehen in einem größeren Sinnzusammenhang versteht, aktiv an seiner Heilung mitwirkt und eine positive Einstellung dem Genesungsprozess gegenüber aufbauen kann. Sobald dem Gehirn, das den komplexen menschlichen Organismus steuert, signalisiert wird, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, aktiviert es die Selbstheilungskräfte (Hüther, 2012).

Genauso wie der Körper Heilungsprozesse aus sich heraus in Gang setzt, streben auch die Seele und der Geist beständig nach Balance, Wachstum und Verwirklichung. Die Anschauung, dass es bei Ärzten, Therapeuten und spirituellen Begleiter*innen nur darum geht, ein vertrauensvolles Milieu aufzubauen, in dem Heilung und Entwicklung stattfinden können, wird in alternativen Heilweisen, besonders aber auch in ganzheitlichen bewusstseinserweiternden Wegen beachtet. 

»Wenn wir dort, wo wir sind, auch wahrhaftig anwesend sind, stiften wir Frieden.«

Aus diesem élan vital (Bergson, 2013), wie wir diese inneren Ordnungskräfte auch nennen können, entspringt auch jene Quelle von Inspiration und Heilung, auf die sich die Methode des Holotropen Atmens grundlegend bezieht. Eine Innere Weisheit, der wir uns immer und in jeder Situation, vor allem aber auch in tiefgreifenden Heilungsprozessen, anvertrauen können. Schon in einer der ersten Sitzungen mit Stanislav Grof, meinem geschätzten Lehrer, wurde mir dies durch ein Schlüsselerlebnis eindrucksvoll nahegebracht. Eine Gruppenteilnehmerin fiel in einen extremen Zustand. Sie zitterte über Stunden hinweg am ganzen Leib, stieß immer wieder furchtbare Schreie aus und wurde wie von Energiewellen geschüttelt. Gegen ein Uhr nachts, als die anderen Gruppenmitglieder längst den Gruppenraum verlassen hatten und ich alleine mit Stan noch neben ihr saß, verebbten allmählich die Bewegungen, ihr Körper entspannte sich mehr und mehr und plötzlich kehrte tiefer Frieden ein. Stan Grof brachte ihr Tee. Sie trank ihn, lächelte und sagte: »Danke, dass ihr bei mir geblieben seid. Ich bin glücklich und voller Liebe!« Es trat ein, was in Weisheitssprüchen immer wieder treffend zum Ausdruck kommt: Wenn wir dort, wo wir sind, auch wahrhaftig anwesend sind, stiften wir Frieden.

Unsere innere Weisheit

Für Grof (mündliche Ausführung, 1986) selbst war das Fazit klar: »Beim Holotropen Atmen geht es darum, dass wir dem inneren Prozess – der Inneren Weisheit – vertrauen und ihr nicht mit unseren Konzepten im Wege stehen, also mit den inneren Heilungskräften des Klienten intelligent kooperieren.« Nach dem nächtlichen Erlebnis verstand ich, was er damit meinte. Die Innere Weisheit kann auch als die alles umfassende Tendenz zur Ganzheit oder zur guten Gestalt (Goldstein, 1971), die dem Menschen innewohnt und seine Entfaltung fördert, verstanden werden. Unterschiedliche Schulen nehmen auf diese Triebfeder menschlicher Entwicklung Bezug, wenn sie von Selbstaktualisierung (Rogers, 1979), vom Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (Jung, 1964, 1971; Maslow, 1973) oder vom Prinzip der organismischen Selbstregulation (Goldstein, 1971; Perls, Hefferline & Goodman, 1994; Perls & Petzold, 1980) sprechen.

Es gibt einen Begriff, der immer wieder damit in Zusammenhang gebracht wird und sowohl in der Psychologie als auch in spirituellen Richtungen einen hohen Stellenwert besitzt: das Selbst. Es ist einerseits, geprägt durch die körperlich-seelisch-geistige Entwicklung, sehr persönlich und andererseits hebt es den Menschen über den begrenzten Horizont der individuellen Strukturen hinaus, das größere Ganze repräsentierend. Die verschiedenen Seiten des Selbst, das sich aus mannigfaltigen Strömungen und Einflüssen herausdifferenziert, können zwar unterschiedlich beschrieben werden, aber sie sind nicht voneinander zu trennen. Man kann vielleicht sogar von einem Kontinuum sprechen, an dessen Enden personal-individuelle oder transpersonal-universale Zustände vorzugsweise beleuchtet werden können. 

»Jeden Morgen, wenn wir aufwachen, sind wir anders als den Tag zuvor und dennoch erkennen wir uns als derselbe wieder.«

Nach allgemeiner Überzeugung unterschiedlicher psychologischer Richtungen steht das Selbst einerseits für den Gesamtumfang der Person, also alles, was ich als zu mir gehörig wahrnehme, und andererseits für den wesenhaften Kern, also das, was den Menschen im Innersten zusammenhält. Es ermöglicht dem Menschen, im Laufe seiner Entwicklung, so etwas wie ein »Selbstsein« oder eine »Meinigkeit« zu erleben, mit sich selbst in den Dialog treten zu können und mehr und mehr die Urheberschaft (Autorenschaft) über seine Handlungen und sein Leben zu gewinnen. Es gibt dem Individuum, durch seine beständigen Integrationsleistungen, auch die Sicherheit, bei allen Veränderungen, die es erfährt, gestern, heute und morgen das Gleiche zu sein, also eine unveränderte Subjektivität zu verkörpern. Ich war mit neun Jahren Sylvester, aber auch mit 15, mit 35 und bin es immer noch, jetzt mit über 70 Jahren, obwohl sich inzwischen die Zellen meines Körpers schon einige Male erneuert haben. Jeden Morgen, wenn wir aufwachen, sind wir anders als den Tag zuvor und dennoch erkennen wir uns als derselbe wieder. 

Entwicklungspsychologisch wird dieses Selbst, das sich von Beginn des Lebens an allmählich herauskristallisiert, durch Interaktionen mit wichtigen Bezugspersonen und der Mitwelt, durch Prozesse der Akkommodation und Assimilation, entscheidend geprägt. Selbstrepräsentationen entstehen aus verarbeiteten Selbsterfahrungen, die in den ersten Jahren besonders durch den Kontakt mit »wichtigen Anderen« (Kernberg, 1980 u. 2001) beeinflusst werden. Wie wir heute wissen (Stern, 1994; Bowlby, 1976), kann das Selbst seine optimale Struktur und volle Leistungsfähigkeit erst dann erreichen, wenn sichere, wohlwollende und liebevolle Bindungserfahrungen in der Kindheit den Boden dafür bereitet haben.

Was prägt unser Selbst?

Das Selbst ist, das sei hier schon erwähnt, jedoch mehr als die Summe seiner internalisierten Erfahrungen, denn schon die frühesten Lebenserfahrungen treffen nicht auf eine Tabula rasa, sondern auf eine innere resonanzfähige Membran, die schon von jeher die auftreffenden Impulse organisiert. Auch in der Hirnforschung (Singer, 2006) spricht man von emergenten Qualitäten eines Selbstorganisationsprozesses, der zu kohärenten Wahrnehmungen und zu koordiniertem Verhalten führt, ähnlich der Chaosforschung (Lucadou, 1995), die von selbst entstehenden Ordnungsprinzipien (dissipativen Strukturen) ausgeht. Der Differenzierungs- und Integrationsprozess, auf dem unsere Individualität aufbaut, beginnt schon lange vor der Geburt. Da der Embryo aber durch die Grenze des Mutterleibes noch einen gewissen Schutz durch die Natur erfährt, ist das Neugeborene, gerade in den ersten Jahren, in denen es noch der Umwelt bedingungslos ausgeliefert ist, äußerst empfänglich und sensibel.

Idealerweise wird ein Kind bedingungslos geliebt und wertgeschätzt, sodass ein stabiles Gefühl für die eigene Person und ihren Wert aufgebaut werden kann (Walach, 2000). Durch frühe Erfahrungen von Gewalt, basale Defizite von Geborgenheit oder chronische Konflikte in der Familie zieht sich das entstehende Selbst zusammen und erzeugt eine vor der bedrohlichen Welt schützende Fassade, eine Scheinpersönlichkeit, hinter die es sich zurückziehen kann. Der innere Boden wird dabei als brüchig und instabil empfunden, sodass man auch in sich selbst keinen Halt finden kann.

Dr. Sylvester Walch

Die klinische Psychotherapie weiß, dass schwere psychische Störungen oft auf ein verletztes Selbst zurückgehen. Wer etwa von seinen Eltern ständig abgewertet wurde, wird vielleicht mit tiefen Ängsten konfrontiert, wenn er Entscheidungen trifft oder seinen eigenen Weg gehen will. Davon betroffene Menschen erfahren sich als vom Leben abgeschnitten, innerlich leer und doch von ständiger Sorge und Angst umgetrieben. Deshalb ist die Fähigkeit, Liebe zu erfahren und zu vermitteln, verkümmert, was den Zustand weiter verschlimmert. 

Die Heilung eines in seinen Grundfesten erschütterten Menschen vollzieht sich, wie wir wissen, nur in kleinen Schritten. Ziel ist das gesunde Selbst. Es sorgt, wie es Karen Horney (1975, S. 176) schön beschreibt, »… für das pulsende innere Leben; … es ist jener Teil in uns, der sich ausdehnen, wachsen und selbst erfüllen will …«. Erst das von pathologischen Belastungen befreite Selbst vermag jene Kräfte zu mobilisieren, die die persönliche Entwicklung vorantreiben und zur kreativen Auseinandersetzung mit den Lebensumständen befähigen. Ein gut integriertes Selbst (Rudolf, 2006) bietet ein solides Fundament für eine stabile, offene, liebevolle und kreative Persönlichkeit, die sich selbst und andere ganzheitlich erlebt, differenziert die Gefühle in sich selbst und bei anderen wahrnimmt, Konflikte konstruktiv löst, existenzielle Krisen nachhaltig bewältigt und sich empathisch, sich selbst und anderen gegenüber, verhält. Diese Menschen sind auch in der Lage, die den jeweiligen Lebensphasen entsprechenden Aufgaben zu erkennen und adäquat zu bewältigen.

»Sie sind authentisch, sich ihrer eigenen Wirksamkeit bewusst und dennoch bescheiden, da sie erkennen, dass sie als Individuum begrenzt und auf andere angewiesen sind.«

Jene, die schon lange daran gearbeitet haben, einengende und selbstdestruktive Lebensmuster aufzulösen, wirken auch lebendig, wahrhaftig, spontan, sind sich ihrer eigenen existenziellen Verletzlichkeit bewusst, stehen für ihre Überzeugungen ein und haben dem Leben gegenüber eine offene Einstellung. Sie sind authentisch, sich ihrer eigenen Wirksamkeit bewusst und dennoch bescheiden, da sie erkennen, dass sie als Individuum begrenzt und auf andere angewiesen sind. Gleichzeitig sind Menschen, die aus einem befreiten persönlichen Selbst heraus leben, nicht nur auf äußere Anforderungen bezogen, sondern fühlen sich stets auch dem verpflichtet, was sie fühlen, spüren und erleben. Im Alltag vertrauen sie ihrer inneren Stimme, dem sogenannten Bauchgefühl, und verfügen über ein stabiles Selbstvertrauen, das das Zutrauen zu anderen Menschen und damit die Verankerung im wirklichen Leben erst ermöglicht. Dieses erkennbare, durch die Persönlichkeit vermittelte und entwicklungspsychologisch geprägte Selbst, das in den klassischen Psychotherapien zu einem wichtigen differenzialdiagnostischen Merkmal geworden ist, kann auch in späteren Phasen des Lebens noch Reifungsprozesse durchschreiten. Der Mensch entwickelt sich ein Leben lang. In ähnlicher Weise gehen auch die Hirnforscher (Schiepek, 2004) inzwischen von einer Neuroplastizität des Gehirns, also einer lebenslangen Lernfähigkeit, aus. 

Ein gut integriertes Selbst hat also eine flexible und plastische Struktur, sodass sich auch der Raum der inneren Erfahrung jederzeit erweitern und vertiefen kann. Es unterstützt uns somit auch darin, für das größere Ganze oder das »Mehr«, wie es Dorothee Sölle (2006) bezeichnet, durchlässiger zu werden. Menschen mit einem wackeligen inneren Boden oder mit Selbstdefiziten können auch im intensiven Kontakt mit dieser unendlichen Wirklichkeitsebene stehen, manchmal aber verzerrt und mit größeren Schwierigkeiten verbunden. So kann dieses überwältigende Erleben zu extremen Labilisierungen und Gefühlsschwankungen führen und sogar dissoziative Tendenzen verstärken. Wenn diese möglichen Komplikationen durch eine heilsame therapeutische Begleitung in die richtigen Bahnen gelenkt werden, erwächst dem leidenden Menschen aus der Begegnung mit dem größeren Ganzen ein erweiterter Sinnhorizont, der die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen positiv beeinflusst.

Das erweiterte individuelle Selbst

Nicht zuletzt ergeben sich dadurch auch Zugänge zu Ressourcen und Potenzialen, wie etwa das Erleben umfassender Verbundenheit, bedingungsloser Liebe und eines Getragenseins vom größeren Ganzen, also die Öffnung für Wirklichkeitsbereiche, die den begrenzten Rahmen der individuellen Persönlichkeit weit übersteigen. Je mehr wir uns öffnen, desto mehr weiten sich die inneren Räume und die Wahrnehmungsperspektiven. Dadurch dehnen sich auch die Koordinaten der Persönlichkeit aus, was wiederum zu einem erweiterten Selbst- und Identitätsgefühl führt. Gerade deshalb versuchen spirituelle Traditionen, wie auch die transpersonale Psychologie, das Selbst in einem noch größeren Zusammenhang zu verstehen. Es ist für sie also nicht, wie die klassische Psychologie nahelegt, allein auf die Persönlichkeit bezogen, sondern auch mit dem Seinsganzen verbunden und zum Überpersönlichen hin offen, zum Überbewussten, wie es der bekannte Psychopathologe Scharfetter (1994) definiert. Dadurch sind wir mit einer universalen Energie (Leibniz, 1998) in Kontakt, die allem innewohnt. 

»Im Wesenskern des Menschen wirkt also eine Kraft, die weit über die Person hinausgeht.«

Im Wesenskern des Menschen wirkt also eine Kraft, die weit über die Person hinausgeht. Sie stellt die Beziehung zu einer kosmischen Dynamik her, die nach C. G. Jung auch als »Gott in uns« (C. G. Jung, 1971, S. 134f) bezeichnet werden kann: »Dieses Etwas ist uns fremd und doch so nah, ganz uns selber und uns doch unerkennbar, ein virtueller Mittelpunkt von … geheimnisvoller Konstitution, … Ich habe diesen Mittelpunkt als das Selbst bezeichnet … (Es) könnte ebenso wohl als ‚Gott in uns‘ bezeichnet werden. Die Anfänge unseres ganzen seelischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkt zu entspringen, und alle höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen.«

»Unsere Aufgabe ist es, dieses Licht zu bergen oder uns auf die Suche nach diesem Licht zu machen.«

Martin Buber (2014, S. 192) beschreibt in seinen chassidischen Schriften einen Schöpfungsmythos, der davon ausgeht, dass sich der göttliche Funke überall in der Welt tief in das Innerste von allem und allen versenkt hat. Man glaubte, dass das Licht Gottes in Schalen und Gefäßen aufgehoben worden sei, bevor der Kosmos und die Welt geschaffen wurden. Die Energie und die Kraft dieses Lichtes Gottes waren so stark, dass diese Schalen und Gefäße zerbarsten und die Splitter dieser Gefäße und Schalen sich überall verteilten. An jedem dieser Splitter war ein kleiner Funke von diesem Licht Gottes angeheftet. Und diese Funken sind tief in alles hineingesunken, sodass wir diese Funken überall finden können: ob etwa in anderen Menschen, in der Natur oder in Situationen usw. Überall und in allem ist dieser Funke verborgen: ein Licht, das alles durchstrahlt. Und unsere Aufgabe ist es, dieses Licht zu bergen oder uns auf die Suche nach diesem Licht zu machen. Es sei auch tief in unserem Innersten zu finden. Wie man dies persönlich erfahren kann, bringt Meister Eckhart (in: Döll, 1988, S. 153) in unnachahmlicher Kürze auf den Punkt: »Ich will sitzen und will schweigen und will hören, was Gott in mir rede.«

Das höhere Selbst in dir und in mir 

Ein Bewusstsein davon, dass das Göttliche im Menschen repräsentiert ist, hat sich in der Mystik aller großen religiösen Traditionen bewahrt. Im Christentum heißt es: »Das Reich Gottes ist in Dir«, im Buddhismus: »Schau nach innen, Du bist der Buddha«, im Siddha-Yoga: »Gott wohnt in Dir als Du«, im Hinduismus: »Atman (das individuelle Bewusstsein) und Brahman (das universelle Bewusstsein) sind eins«, im Islam: »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn«.

In uns selber können wir also diese Ursprungsquelle unserer Identität entdecken, ohne sie jedoch mit unseren herkömmlichen Begriffen und Konzepten zureichend erfassen zu können. Erfahrbar ist sie jedoch an den Erscheinungsweisen ihrer unmittelbaren Präsenz, sei es als Erleben eines inneren Lichts, als Gewahrsein einer umfassenden Verbundenheit oder als überströmende Gnadenfülle. Es ist die vibrierende Energie, die den Menschen in außergewöhnlichen Augenblicken durchrieselt, der Glanz in den Augen, die elektrisierende Berührung und das Licht hinter dem Herzen. Es ist wie ein inneres Lächeln voller Güte und Liebe, das durch alles hindurchscheint. Das universale Selbst leuchtet unaufhörlich in allen Lebewesen, in der Natur und im Kosmos, in unterschiedlichen Formen und Farben. Diese Strahlung kann sich ausbreiten oder verdichten. Jeder erlebt es anders, und es ist trotzdem wie aus einem Stoff. Wer es in sich erlebt, erkennt es plötzlich nicht mehr nur als eigenen Kern, sondern auch in jedem Menschen, überall wo man hinsieht. Einmal erlebte ich mich in der Meditation wie von einem blau leuchtenden Lichtkegel eingehüllt, der sich dann zu einer winzigen Perle zusammenzog. Danach sah ich die Weltkugel von außen und alle Menschen durch ein lilafarbenes Band verbunden. 

Das universale Selbst ist innerhalb und jenseits der Mannigfaltigkeit des Lebens, alles durchpulsend. Es scheint weder geboren, noch scheint es sterblich, es umfasst Vergängliches und Ewiges, Endliches und Unendliches. Für Muktananda (1987, S. 41), der sich auf die Upanischaden stützt, wohnt es für immer im Herzen aller Menschen, »[…] kleiner als das Kleinste und größer als das Größte«. Das höhere Selbst aktualisiert sich im zeitlosen Licht, das in jedem Teilchen existiert, im Om, das in jeder Zelle vibriert, im Heiligen Geist, der alles durchdringt. Das Selbst, als Zentrum des Individuums, ist untrennbar mit der kosmischen Ordnung verknüpft. Das Universale ist, wie in einem Hologramm, in uns eingefaltet, sodass unser tiefstes Inneres stets mit dem Grenzenlosen und Formlosen verbunden ist. Das personale Selbst ist in ihm aufgehoben, in einem doppelten Sinne, sowohl eingebettet als auch überschritten. Über sein Innerstes kommuniziert das Individuum mit der Totalität des All-Einen. An dieser Schnittstelle sind die Weisheiten und Schlüssel des Lebens zu finden. Diese Innere Weisheit ist immer für uns da, kräftigend, inspirierend und heilend, in guten und in schlechten Tagen. Sie weiß mehr, als wir wissen können, und sie greift tiefer, als wir begreifen können. Wer beispielsweise eine schwierige Aufgabe vor sich hat, in einer Krise steckt oder eine existenzielle Frage zu beantworten hat, kann mit dieser Quelle bewusst in Verbindung treten, um Hilfe zu erlangen. 

Für den Benediktinermönch und spirituellen Lehrer David Steindl-Rast (2010) ist das universale Selbst ein unerschöpflicher Wesensgrund, der in jedem von uns und in allem existiert. Er sieht in dieser kulturübergreifenden religiösen Grunderfahrung die Wurzel jeglicher spirituellen Praxis. 

Gerade in der Meditation geht es darum, sich von den persönlichen Anteilen des Selbst zeitweilig zu enthalten, um tief in die Leere und Fülle des größeren Ganzen eintauchen zu können. Dabei zeigt sich, dass das abgegrenzte Selbst nicht eigenständig existiert, sondern nur als ein vorübergehender Fokus erscheint, der, im Sinne einer Reduktion der Komplexität, vorübergehend die Verbundenheit mit dem All-Einen ausblendet. Das Selbstgefühl, das Abgrenzung, Individualität und Autonomie ermöglicht, ist dann eine Illusion, die in erweiterten Bewusstseinszuständen durchschaut werden kann, wenn es, im Sinne einer unabhängigen Identität, als absolut betrachtet wird. Wenn man also die, für den Alltag durchaus nützlichen, Selbst-Konstrukte hinter sich lässt, weitet sich der Raum der Erfahrung hin zum größeren Ganzen, in das auch das persönliche Selbst eingewoben erscheint. 

Der leere Raum

Der persische Mystiker Rumi (1996, S. 36) fasst es in folgende Worte: »Hinter den Gedanken liegt ein Feld. Möchtest du mich dort treffen?« Er verweist auf das vom Vorstellen und Denken unberührte Sein, das sich nur durch Gewährenlassen entbirgt. Es ist eine Leere, die frei von allem ist und damit wieder alles umfasst. »Die Leere ist in Wahrheit nichts anderes als die Abwesenheit der Persönlichkeit und ihrer verschiedenen Entstellungen. Der Geist ist dann leer, vollkommen frei von der Persönlichkeit. Es ist so, als ob der innere Raum gereinigt wäre, ausgeleert, von der Persönlichkeit und ihren geistigen oder physischen Mustern. Man fühlt sich frei, frisch, leicht und unbehindert. Man sieht den Geist, wie er ist: als reine Leere.« (Almaas 2003, S. 172) Das universale Selbst erweist sich als offen, transzendent, verbunden und von einer liebevollen Energie umströmt. Es ist weder zeit- noch ortsgebunden, weder physisch, seelisch noch geistig, statisch noch dynamisch, hier oder da, überall oder nirgends, weder das eine noch das andere, es enthält alles und nichts. Es ist gleichermaßen Leere und Fülle, Sein und Werden, Leben und Sterben, Individualität und Universalität, Lebenskraft und Energie, Melodie und Stille, Weg und Ziel, Endlichkeit und Unendlichkeit.

Um im unmittelbaren Gewahrsein alles so erscheinen zu lassen, wie es ist, und die endlichen Dinge aus dieser transzendenten Perspektive in ihrer Transparenz und Verbundenheit wahrnehmen zu können, müssen wir offener und durchlässiger werden. Toshihiko Izutsu (1984, S. 32), ein Philosoph und Kenner des Zen-Buddhismus, sieht dies als eine von begrenzenden Wahrnehmungsrastern befreite Realitätserfahrung, in der »… alle Dinge … vollständig frei sind. Sie sind füreinander offen, unendlich durchscheinend …« In diesem Zustand erleben wir vielleicht auch, dass sich die Mannigfaltigkeit des Existierens zu einem Rhythmus, zu einer Schwingung und zu einem Gleichklang fügt. Alles darf so sein, wie es ist, und wir fühlen uns vollkommen in der Ordnung, eingebettet in das Ganze, tief verbunden mit dem Leben und der Mitwelt. 

Dr. Sylvester Walch

In der Herzensmitte unseres Wesens realisiert sich der evolutionäre Drang des Universums nach Vervollkommnung. In den Erscheinungen des Weltlichen verwirklicht sich ein übergeordneter Plan. Allem Organischen wohnt eine Zielstrebigkeit inne, die zur fortschreitenden Ganzheit, zur Verwirklichung latenter Möglichkeiten drängt. Die transzendente Dynamik manifestiert sich entlang der persönlichen Strukturen. Es ist diese Innere Instanz, die unser Leben formt und fördert. Obwohl sie sich immer wieder in Erinnerung bringt, geduldig Gelegenheiten abwartend, braucht sie für ihre Wirksamkeit auch unsere Entscheidung, unsere Einwilligung, unsere Hingabe und die Klarheit unserer Absicht. 

Wir haben die Freiheit der Wahl, wenn auch nur in einem engen Rahmen, wie uns die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung nahelegen (Geyer, 2004). In der Evolution regiert weder der pure Zufall noch ein blinder Determinismus. Der Wille und die Motivation können diesen Spielraum für die Selbstwerdung nützen. Deshalb legen spirituelle Traditionen so großen Wert auf die regelmäßige spirituelle Praxis. Dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, sich für diese größere Wirklichkeit zu öffnen, die inneren Erfassungskapazitäten zu erweitern und den Kontakt zu diesem Inneren Licht im Alltag zu verankern.

Der Weg der Befreiung des Selbst umfasst sowohl heilende als auch öffnende Prozesse. Es führt zu einer Persönlichkeit, die sich selbst gut kennt und möglichst frei von Vorurteilen anderen begegnet. Da die Gefühle differenziert wahrgenommen und reguliert werden können, können die eigenen Bedürfnisse erkannt, die Konflikte konstruktiv bewältigt und die Lebensziele verwirklicht werden. Gleichzeitig erweitert sich die Identität auf die transzendente Dimension des Menschseins hin. Der Mensch erkennt in diesem Kontinuum sein wahres Wesen, oder wer er wirklich ist. Er ist bezogen, auf sich selbst, auf andere und auf das größere Ganze. Geführt, getragen und eingebettet in das Universelle sowie auf seine innere Stabilität vertrauend, können sich seine Persönlichkeit und sein Leben individuell entfalten, die ihr gestellten Aufgaben erfüllend und dem Ganzen dienend. Das bedeutet aber nicht, dass wir stets das universale Selbst im Zentrum unserer Aufmerksamkeit haben müssen, denn es leuchtet, unabhängig davon, ob wir es wahrnehmen oder nicht. 

Der Weg des Suchenden

Unterschiedliche Psychotherapierichtungen, spirituelle Schulen und auch die Hirnforschung gehen also davon aus, dass im Menschen ein grundlegender Impuls zur äußeren wie inneren Entwicklung angelegt ist. Interessanterweise sind es oft Nebensächlichkeiten oder zufällige Begegnungen, die den letzten Ausschlag dazu geben, welchen Weg suchende Menschen dann einschlagen. So wurde mir ein Platz in einer Selbsterfahrungsgruppe bei Stanislav Grof dadurch unerwarteterweise ermöglicht, dass ich mit einer mir unbekannten Frau, die kurzfristig ihre Teilnahme an diesem Seminar absagen musste, am Mittagstisch zusammensaß. Was nach dem früher schon erwähnten eindrucksvollen Erlebnis des zufälligen Besuches des Vortrags von Stanislav Grof in Salzburg auf den Weg gebracht wurde, fand durch diese Begegnung ihre Konkretisierung. Neben diesen synchronistischen Manifestationen impliziter Motive spielen selbstverständlich auch bewusste Intentionen und Entscheidungen eine wichtige Rolle, wann und wie sich jemand für einen Weg zur Ganzheit entscheidet.

Wenn sich Menschen für Psychotherapie, Selbsterforschungsgruppen oder spirituelle Wege interessieren und berichten, welche Anliegen sie damit verbinden, lassen sich dabei drei Aspekte unterscheiden. Ein wichtiges Motiv ist der Wunsch nach Heilung. Viele Menschen haben sehr belastende Erfahrungen in ihrem Leben zu durchleiden gehabt. Verbal orientierte und biografisch angelegte Psychotherapie haben in der Regel nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Die Sehnsucht nach tiefer gehenden, körperbetonten und umfassenderen Verfahren ebnete häufig den Weg, sich auf veränderte Bewusstseinszustände einzulassen.

Sich selbst besser kennenzulernen und herauszufinden, was in meinem Inneren vor sich geht, weshalb ich so und nicht anders bin, wodurch meine Gefühle und meine Handlungen beeinflusst werden, ist genauso von hoher Bedeutung. Aber auch junge Menschen, deren Identität sich allmählich herausbildet, haben ein großes Interesse daran, mehr von sich selbst zu erfahren. Sie spüren in ihrem tiefsten Inneren, dass unser Bewusstsein und unsere Seele weiter und tiefer sind und von mehr, als wir selbst von uns wahrnehmen können, getragen ist. Erst wenn uns Einblicke in unser gesamtes Wesen zugänglich werden, ist es möglich, gesundes Selbstvertrauen zu gewinnen, die eigene Persönlichkeit selbstbestimmt zu entfalten und unsere geistigen Ressourcen zu nützen.

Ein weiteres wichtiges Anliegen, weshalb sich Menschen auf veränderte Bewusstseinszustände einlassen, ist, einen Weg der Befreiung, der frei von Konventionen und Tabus ist, zu gehen. Da diese Form der Bewusstseinsarbeit gleichermaßen psychotherapeutische wie spirituelle Prozesse initiiert und integriert, werden umfassende und nachhaltige Selbstverwirklichungsschritte ermöglicht. Darüber hinaus werden spirituelle Erfahrungen, wie Einheitserlebnisse, überströmende Gefühle von Liebe und Mitgefühl sowie ein Zustand universaler Verbundenheit zugänglich. Sie bilden das Fundament, auf dem eine spirituelle Übungspraxis aufgebaut werden kann. Deshalb ist eine weitere Intention, solche Seminare zu besuchen, ein spirituelles Leben führen zu wollen. Damit verbunden ist aber der Wunsch nach einer Spiritualität, die leicht praktizierbar und möglichst frei von Dogmen und Glaubenssätzen ist. Wer intensive psychotherapeutische Heilungsprozesse, die durch ausdrucksstarke Körperarbeit unterstützt werden, mit öffnenden spirituellen Erlebnissen verbinden möchte, wird in der transpersonalen Psychologie und im Holotropen Atmen in seinem Anliegen unterstützt.

Literaturverzeichnis

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Dr. Sylvester Walch

Zum Autor

Sylvester Walch, Dr. phil., geb. 1950, ist Ausbilder für Psychotherapie. Seit mehr als 25 Jahren verbindet er in seiner Arbeit Psychotherapie und Spiritualität. Er ist Gesamtleiter der Curricula für Transpersonale Psychologie, Holotropes Atmen und körperorientierte Verfahren.

www.walchnet.de

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