Dieter Halbach – Beteiligung ist das Herz der Demokratie

Wie die Prinzipien der Gemeinschaftsbewegung in der Gesellschaft angekommen sind

Das Leben von Dieter Halbach ist geprägt von der Hippie-Bewegung, der Anti-Atom-Bewegung, der Gründung des Ökodorfes Sieben Linden und seinem Engagement für »Mehr Demokratie«. Wir sprachen mit dem Früh-68er über seinen Lebensweg in der Gemeinschaftsbewegung und seine Vision, durch kollektive Intelligenz authentisches Menschsein in der Gesellschaft zu fördern.

Tattva Viveka: Dieter, bitte erzähle uns ein bisschen von deiner Geschichte. Wann fing deine Gemeinschaftserfahrung an und wo lebst du heute?

Dieter Halbach: Ich wuchs in Berlin auf, sehr isoliert, nur mit meiner Mutter in einem Hochhaus. Es bestand ein großer Spalt zwischen der Welt und mir, aber ich hatte das Glück, im Alter von 15 oder 16 Jahren die 68er-Zeit und vor allem die Hippie-Bewegung mit Musik und Sinnlichkeit zu erleben. Das hat mich entflammt, und so fuhr ich auf meinen Tramptouren Ende der 60er auch zu Landkommunen und zog in eine WG. Das war eine Aufbruchszeit, über die ich sehr froh bin.

Ich konnte zum Beispiel bei einem Lehrer meiner Schule in dessen Kommune übernachten. Sie brachten mir Gitarrespielen bei und revolutionierten die gesamte Schule. Wir machten auch Unterricht im von Jugendlichen besetzten Georg-von-Rauch-Haus (benannt nach dem am 4.12.1971 von der Polizei erschossenen jungen Stadtguerillero). Die 68er haben mich gerettet. Es war eine viel breitere Bewegung als das, worüber man heute spricht, denn man engt es vorwiegend auf die Studentenrevolte ein. Aber es ging tatsächlich um ein anderes Leben. Mit diesen Lehrern gelang es mir, mein Abitur zu machen, was zur Frage führte: Gibt es ein Leben nach dem Abitur?

Ich stürzte mich in die undogmatische linke Sponti-Bewegung, deren Anhänger aus den 68er-Jahren heraus andere Lebensformen gewählt haben. Sie gründeten Männergruppen mit schrecklichen Latzhosen, und wir bedienten uns so einiger Klischees. Aber im Kern war es der Gedanke vom Leben in Gemeinschaft. Ich ging diesen Weg, um europaweit Gemeinschaften kennenzulernen und um den Gemeinschaftsgedanken in die sozialen Bewegungen hineinzutragen. Ein großes Schlüsselerlebnis war die Anti-Atom-Bewegung, die mich sehr prägte, sowohl in Richtung Gewaltfreiheit als auch in die Richtung, dass man eine breite gesellschaftliche Verständigung benötigt.

Ich lebte eine Zeit lang im Wendland und pendelte in dieser Zeit zwischen Berlin und dem Wendland hin und her. Dort baute ich gemeinsam mit Bauern und Hausfrauen eine Bewegung auf. Die Einheimischen hatten große Angst, dass die bunten Menschen, die aus den Städten kommen, eine Revolution anzetteln, während die Bauern untergehen. Ich glaube, dass das auch ein Schlüsselpunkt der Anti-Atom-Bewegung war, denn es ist ihr gelungen, auf der Basis von Gewaltfreiheit und Kooperation eine breite Verständigung herzustellen und Freundeskreise zwischen Stadt und Land zu bilden.

Später bauten wir auf unserem besetzten Platz in Gorleben im niedersächsischen Wendland 33 Tage lang ein Dorf, und das war natürlich meine Passion. Ich hätte Karriere bei den Grünen machen können, die sich zu der Zeit gründeten, oder in der gewaltfreien Bewegung, die mich darum baten, das gewaltfreie Aktionszentrum im Wendland zu leiten. Aber ich wollte das Leben pur. So ging ich in die Berge in der Toskana und lebte zehn Jahre lang als Selbstversorger.

Das war eine harte Zeit, und ich lernte die Grenzen von Gemeinschaften kennen, jedenfalls von kleinen Gemeinschaften, die sich isolieren. Diese Gemeinschaft ist daran kaputtgegangen. Gleichzeitig haben sich auch meine Partnerschaft und Familie aufgelöst. Deshalb ging ich mit der Wende zurück nach Deutschland, gründete mit vielen Menschen aus Ostdeutschland den Ostverband Ökodorf und arbeitete dort im Büro. Dort entstand auch der Gedanke des Ökodorfs Sieben Linden. Aber die Idee war damals viel größer. Die PDS, also »die Linke« damals, vermachte uns Tausende Hektar Land, Dörfer und Schlösser. Es war wieder eine Zeit des Aufbruchs. Wir sprachen vor Landtagen, dass der Dritte Weg eines demokratischen Sozialismus, der eine Zeit lang möglich schien, ein Weg mit großen Gemeinschaften wäre.

»Ich möchte den Gemeinschaftsgedanken noch größer in die Gesellschaft und die Politik einbringen.«

Davon ist einiges übrig geblieben, für mich vor allem das Ökodorf Sieben Linden, das ich 1990 mit gegründet habe. 1997 wurde es mithilfe der Regierung, der Links-Grünen SPD-Koalition in Sachsen-Anhalt realisiert. Die SPD, die Grünen und auch die Umweltministerin, eine Freundin von uns, taten viel für uns, damit dieses Experiment, ein neues, selbstbestimmtes, genossenschaftliches Dorf außerhalb der bestehenden Siedlungen, entstehen konnte. Dort lebte ich bis 2015. Heute engagiere ich mich für das gemeinschaftliche Netzwerk hier im Fläming bei Berlin. Ich möchte den Gemeinschaftsgedanken noch größer in die Gesellschaft und die Politik einbringen. Das ist aktuell mein Schwerpunkt. Jetzt lebe ich in einer kleinen Künstlergemeinschaft, in einem Haus, das ich gekauft habe, aber der Gedanke ist größer geworden.

TV: Deine praktische Lebensform hat sich verkleinert, aber die gedankliche Weite hat sich vergrößert. Was waren deine wichtigsten Lernerfahrungen im Ökodorf Sieben Linden und warum bist du von dort weggegangen?

Dieter: Wie erwähnt, habe ich eine existenzielle Erfahrung in der Toskana dahin gehend gemacht, wie kleine Gemeinschaften so eng werden, dass sie daran zerbrechen. Denn ab einem gewissen Punkt werden sie beinahe identisch mit den intimen Beziehungen und Partnerschaften, und wenn es in solchen Gemeinschaften wackelt und man kein unterstützendes Umfeld hat, löst das starke Psychodynamiken aus. Man lebt in einer wunderbaren Natur, hat aber eben keine Hilfe. Meine Frau ging mit meiner Tochter nach Berlin, und ich wusste nicht, wo sie sind. Es war existenziell für uns alle. Viele Gemeinschaften sind daran kaputtgegangen, und es gab zu der Zeit viele Aussteiger. Es hieß dann: »Zu jedem Pärchen sein Poderchen.« Ein »Podere« ist ein Bauernhof. Nach dem Zerbrechen dieser kleineren Gemeinschaften, die aus 5 bis 15 Personen bestanden, blieben oft nur ein Paar oder viele einzelne Männer übrig, die noch Selbstversorgung betrieben.

Diese Erfahrung war der persönliche Grund, warum ich nach der Maueröffnung nach Deutschland zurückging und eine große Gemeinschaft aufbauen wollte. Das Ökodorf Sieben Linden ist für 300 Menschen genehmigt worden, und das war damals mein Job: das politische grüne Licht zu bekommen und die Planungsvoraussetzungen zu klären, damit wir dort ein selbstbestimmtes Dorf per Bauplan aufbauen konnten.

Wenn ich durch das Dorf gehe – ich bin immer wieder dort –, weiß ich, dass fast alle Familien Trennungsprozesse hinter sich haben, aber gleichzeitig sehe ich, wie sie auf der Terrasse zusammensitzen. Die Kinder sind in sicheren Bindungen zu ihren Eltern und zu weiteren Menschen, und bei solch einem Anblick geht mir immer das Herz auf. Dann weiß ich, dass das der eine Grund ist, wieso ich das gemacht habe. Der andere Grund ist, dass wir ein Modell schaffen wollten, in dem Selbstversorgung in allen Lebensbereichen der Grundgedanke ist. Wir gründeten freie Schulen, betrieben einen Waldkindergarten, Landwirtschaft, Energieversorgung und den Hausbau mit Strohballen. Wir versuchten, in jedem Bereich bis ins Detail den Gedanken der Selbstversorgung zu entwickeln und auch ein Stück weit mit der Region zusammen zu denken, um dadurch ein Modell zu erstellen.

Der Grund, warum ich gegangen bin, ist, dass Sieben Linden in einer sehr strukturschwachen Region liegt, insbesondere was die Kultur und Kunst betrifft. Natürlich kamen durch uns und die freien Schulen neue Menschen, aber es gibt keine Anbindung an eine größere Stadt. Für mich sowohl als politischer Mensch als auch als Künstler – ich bin ebenfalls Musiker und Schriftsteller – war es ein wenig karg.

Das Dorf macht eine super Entwicklung und ist sehr stabil. Mittlerweile leben 150 Menschen dort mit vielen Kindern. Viele Jugendliche leben dort, und viele kommen immer wieder zurück, wie meine Tochter zum Beispiel. Es ist alles so stabil, dass ich mir sagte: »Okay, ich gehe jetzt, um herauszufinden, was das Leben noch zu bieten hat.«

Die Region hier im Fläming hat durch das ZEGG, das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung, und durch die vielen Gemeinschaften und Künstler viel zu bieten. Es gibt auch ältere Gemeinschaftsgründer wie mich, die nicht mehr in großen Gemeinschaften leben, aber durch ihre Erfahrung geben diese Menschen hier sehr viel Nahrung rein. Es ist mir wichtig, dass ich hier Menschen kenne, die einen ähnlichen Erfahrungshintergrund haben. So kann ein sehr guter Austausch stattfinden.

TV: Wie konnte es dazu kommen, dass es Menschen mittlerweile schwerfällt, in Gemeinschaften zu leben, obwohl wir wissen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist? 

Wie können wir wieder lernen, in Gemeinschaften zu leben?

» Die Gemeinschaften, in denen wir jetzt leben, sind intentionale, freie Gemeinschaften, die nicht mehr auf kollektiven Bindungen beruhen.«

Dieter: Die Gemeinschaften, in denen wir jetzt leben, sind intentionale, freie Gemeinschaften, die nicht mehr auf kollektiven Bindungen beruhen. Sie werden nur durch das eigene Bewusstsein inklusive der biografischen Wunden und all dessen, was wir mitbringen, erschaffen. Diese Gemeinschaften beruhen auf gelingender Kommunikation, weil sie keine ideologischen Hüllen mehr sind. In den herkömmlichen Strukturen war die äußere Form vorgegeben, also zum Beispiel wie man in einer Familie eingebunden ist. Man übernimmt beispielsweise den Betrieb des Vaters, egal, ob man sich hasst oder liebt. Das ist vorgegeben. Wenn man durch die Geschichte blickt, findet sich diese Form auf verschiedenen Ebenen, in Stammeskulturen etwa, und generell in traditionellen Bindungen.

Aber diese traditionelle Bindung hat sich gerade in unserer Zivilisation immer mehr verflacht, und trotzdem beruhten die ersten Gemeinschaften, egal ob in den USA oder Europa, bis vor Kurzem auf einem kollektiven Gedanken, der eine bestimmte Ideologie und bestimmte starre Formen verfolgt, sei es eine bestimmte Religion oder eine bestimmte Politik wie Anarchismus, Kommunismus, Faschismus etc. Kennzeichnend dafür ist, dass im vorherrschenden Menschenbild der Einzelne keine Rolle spielte, sondern sich in das Kollektiv einbinden musste, was wiederum eine gewisse Stabilität mit sich brachte.

Mit der 68er-Bewegung ist eine neue Form von Gemeinschaft entstanden, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung, also der Individualisierung in Einklang ist. Ich möchte kurz eine Anekdote erzählen: In den 68ern ist beides – Kollektiv und Individuum – präsent gewesen. Der große Gedanke an die Weltrevolution existierte parallel zum Gedanken von »Ich muss mich selbst verändern«. In der Kommune 2 zum Beispiel nahmen sie das sehr ernst, und sie veröffentlichten das Buch »Die Revolutionierung des bürgerlichen Individuums«. Darin publizierten sie all die Protokolle ihrer selbst organisierten Psychositzungen, in denen sie zahlreichen Fragen nachgingen wie »Ist Tanzen ein Beitrag zur Revolution oder lenkt es nur von der kämpferischen Energie ab?« oder »Wenn morgens einer immer lange schläft, ist das ein emanzipatorischer Beitrag, weil er den Leistungsgedanken ablehnt, oder ist er nicht mehr für die Revolution verwertbar?« – vollkommen skurrile Gedanken. Damals bereits traf diese äußere kollektivistische Form mit dieser neuen, individuelleren Form aufeinander, wobei noch nicht klar war, wie man diese miteinander vereinbaren kann.

Wenn man jetzt fragt, was wir daraus lernen, gibt es mindestens 50 Jahre Erfahrung mit dieser neuen offeneren Form von Gemeinschaft, die Vielfalt einlädt und nicht auslädt. Das heißt, wir müssen lernen, Wahrnehmung, Kommunikation und Bewusstseinsentwicklung in diese Gemeinschaft zu integrieren. In der Selbstversorgergemeinschaft in Italien, in der ich lebte, sind wir ein Stück weit an der äußeren Form, die zu klein war, aber auch an unserer Unwissenheit gescheitert.

Platzbesetzung in Gorleben, »Republik Freies Wendland«, 1980

TV: Wie groß war die Selbstversorgergemeinschaft?

Dieter: Das waren anfänglich zehn bis zwölf Menschen. Ursprünglich wollten wir ein Dorf gründen, aber die anderen Gemeinschaften, mit denen wir bereits verbunden waren, waren alle kilometerweit entfernt, alle vereinzelt auf ihren Höfen. Alle diese kleineren Gemeinschaften sind nach und nach an ihren Beziehungskonflikten zerfallen. Als ich in dieser Wendezeit 1990 zurückkam, hatte sich die Gemeinschaftsbewegung bereits weiterentwickelt, und es gab die ersten größeren Gemeinschaften und Kommunen wie die Kommune Niederkaufungen und den Lebensgarten Steyerberg. Auch das ZEGG war dabei, sich zu realisieren. Aber sie waren alle getrennt und bekämpften sich gegenseitig. Einmal war ich auf einer Podiumsdiskussion, bei der sich die Politischen, die Spirituellen, die Anhänger der Freien Liebe und die Ökos alle gegenseitig angegriffen haben. Aber danach sind wir alle gemeinsam in die Pizzeria gegangen, und es war wunderbar.

Plötzlich tauschte man sich aus, man lud sich gegenseitig ein, und infolgedessen wurde in mir die Idee eines »Come together«-Netzwerks der Deutschen Gemeinschaften lebendig, über das direkter persönlicher Austausch stattfand: »Welche Methoden wendet ihr an? Warum ist politische Arbeit wichtig? Wie funktioniert eine gemeinsame Ökonomie?« Anfang bis Mitte der 90er entstand diese Art der übergreifenden Verbundenheit, also das, was jetzt eine neue Gemeinschaftskultur ist: dass die Gemeinschaften nach innen und außen blicken und die Methoden, die im Laufe der Gemeinschaftsbewegung entstanden sind, angewandt und mittlerweile sogar in Unternehmen genutzt werden, wie Gewaltfreie Kommunikation, Forumsarbeit, Mediation. Dieses Spektrum professionalisiert sich immer mehr. Immer mehr Coaches beraten Gemeinschaften und regen den Austausch weiter an. Mittlerweile herrscht ein gewisser Frieden zwischen den Gemeinschaften. Es wird eher die Einstellung gepflegt: »Ah, die haben das drauf, jetzt laden wir die mal ein!«

Ich glaube, wenn man sich heute entscheidet, nicht nur in der Familie zu leben, kann man auf einen großen Werkzeugkasten und eine Menge an Erfahrungsberichten zurückgreifen. Aber auch die Lage in Familien wird besser, beispielsweise wie man miteinander kommuniziert oder welche offenen Beziehungsformen es gibt. Auch in den Medien wird darüber berichtet.

TV: Woran würdest du den Unterschied zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft festmachen?

Dieter: Gesellschaften stellten sich häufig als Systeme heraus, in denen der einzelne eher eine Maske trug und sich nur anpassen musste. Das hat gesellschaftlich gesehen – in Anbetracht der Entwicklung von Kommunismus und Faschismus oder der Kirchen, die alle große, kollektive Systeme waren – tiefe Spuren und Verletzungen hinterlassen. Wir haben aber heute auch viele große Gemeinschaftsgründungen in Afrika, in Indien, also in Ländern, die mehr an ihre Gemeinschaftstraditionen andocken können, da die Gesellschaften nicht so mechanisiert sind wie unsere. Dennoch findet weltweit die Individualisierung und die Bewusstseinsentwicklung, die in der Gesellschaft stattfindet, ebenfalls in den Gemeinschaften statt, denn folgende Fragen stellen sich viele: Wer bin ich? Wohin will ich mich entwickeln? Wie kann ich mit anderen kommunizieren? Wie kann meine Arbeit so gestaltet werden, dass sie mich nicht ausbrennt? Wie entsteht ein stabiles Familienleben? Wie kann man Kinder so erziehen, dass sie selbstständig sind und dass eine innere Verbindung und nicht nur eine traditionelle zwischen Eltern und Kindern herrscht? Alle diese Fragen sind gesellschaftlich präsent.

Für mich – um das auch zu sagen – gehen die Masken immer mehr verloren. Es lässt sich eine größere Verunsicherung beobachten, ein größeres Auseinanderfallen von formaler Gesellschaftsbildung, aber gleichzeitig auch eine Neuorganisation, die durch die neuen Formen der Kommunikation und Selbstorganisation stattfindet, bis hin zu den spirituellen Bewegungen, die ein Stück weit mit dem Mainstream kompatibel geworden sind.

»Die Demokratie, die das Zentrum unserer Gesellschaft ist, verschreibt sich dem Versuch, Gemeinwohl für alle zu kreieren.«

Was mich aktuell am meisten bewegt, ist unsere Demokratie. Die Demokratie, die das Zentrum unserer Gesellschaft ist, verschreibt sich dem Versuch, Gemeinwohl für alle zu kreieren. Sie ist eine Kraft, die uns als ganze Gesellschaft dazu auffordert, uns zu fragen, wie wir leben und welchen Werten wir folgen möchten. Ich engagiere mich beim Verein »Mehr Demokratie« und bin auch Chefredakteur des Magazins. In unserem politischen Verein findet gerade ein Umbruch statt, den ich für die Gesellschaft als Ganzes symptomatisch empfinde. Also der Anfang von einem Lernen findet statt, und ich möchte hinzufügen, dass hier sowohl äußere Beteiligungsformen als auch innere Prozesse aufeinandertreffen.

TV: Das klingt sehr spannend. Es geschieht ein Übergang vom kleinen Gemeinschaftsmaßstab in die große Gesellschaft, in der wir auch eine Gemeinschaft sind, und diese große Gesellschaft muss sich auch weiterentwickeln. Bitte berichte uns mehr über die Demokratie und die Bürgerräte.

Dieter: Es sind zwei Stränge: Der eine ist, dass wir Demokratieforschung und -experimente angestoßen haben, die mit einem inneren Bewusstseinswandel verbunden sind. Diese Arbeit unter dem Begriff »Deepening Democracy« setzen wir bei »Mehr Demokratie« um, indem wir Gesprächsforen eröffnen, indem wir Demokratieforschung mit Aufstellungsarbeit verbinden, indem wir gemeinsam mit Thomas Hübl und dem Pocket-Projekt Traumaforschung, die gerade durch Corona und den Ukrainekrieg weiter an Bedeutung gewonnen hat, betreiben. Wir stellen uns der Frage, wo eine Gesellschaft durch kollektive Traumata besetzt ist, die dann zu Spaltung in der Gesellschaft führen. Das ist ein großes aktuelles Thema, und gemeinsam begeben wir uns auf diesen inneren Weg. Dabei gehen wir es professionell an, wir arbeiten mit wissenschaftlichen Instituten zusammen, mit denen wir erörtern, welche Kommunikationsformen und Methoden der inneren Arbeit auch in der Demokratie wirksam sein können.

Der zweite Strang ist, dass »Mehr Demokratie« vor allem für zwei Systemerweiterungen eintritt: für Volkabstimmungen und für Bürgerräte, und das seit 30 Jahren. Es ist ein großer Verein: 10.000 Mitglieder, 200.000, die im Netzwerk sind. Sie werden von der Politik gehört, aber an einem bestimmten Punkt, nämlich bei den Volksabstimmungen, bei denen praktisch die gesamte Bundesrepublik über ein Thema entscheidet und es nicht an die Politik delegiert wird, stoßen wir an eine Grenze. Dies ist zwar in den Bundesländern möglich, aber nicht bundesweit. Selbst die Grünen haben sich von diesem Ziel verabschiedet. Gleichzeitig entsteht das neue Instrument, das gerade einen großen Hype erlebt – die Bürgerräte.

Dieser Beteiligungswunsch ist in der Politik angekommen. Im Koalitionsvertrag wurden die Bürgerräte verankert und sie werden von der Regierung beziehungsweise dem Parlament eingesetzt und finanziert. Wir werden etwa drei bis vier Bürgerräte in einer Legislaturperiode haben. Ein Bürgerrat ist wie eine Gemeinschaft auf Zeit, bei der Menschen aus der ganzen Gesellschaft repräsentativ zusammenkommen. Es ist nicht das, was wir aus unseren Gemeinschaften kennen, wo man Gleichgesinnte sucht und es dadurch manchmal »eng« wird, sondern es ist der Versuch, alle Strömungen, auch Altersunterschiede, Bildungsgrade, Frau/Mann, Migranten/Einheimische, also alle Teile der Gesellschaft in einem repräsentativen Bild zusammenzuführen. Bei bundesweiten Bürgerräten werden es um die 150 Menschen sein, die unter bestimmten Kriterien ausgelost werden. Sie werden sich treffen, auch online, und werden durch eine gute Moderation einerseits und verlässliche Information andererseits durch einen Dialogprozess geleitet. Meistens soll eine konkrete Fragestellung bearbeitet werden. Das Wunder, das dort geschieht, ist, dass durch den Raum, den jeder Einzelne bekommt, und durch das Informiert- und Moderiertsein die Stimme all dieser unterschiedlichen Menschen gehört wird. Auf diese Weise ergibt sich ein Gemeinschaftsgefühl, und dies drückt sich wiederum in den Empfehlungen aus, die an die Politik gegeben werden und eine Beratungsfunktion innehaben. Meistens ist eine Zustimmung von über 90 Prozent gegeben, und auch die, die eine andere Meinung haben, fühlten sich gehört. So entsteht innerhalb dieser 150 Menschen ein hoher Grad an Konsensfähigkeit.

Wir organisierten bereits einen bundesweiten Bürgerrat zum Thema »Demokratie«. Der letzte Bürgerrat befasste sich im Auftrag des Bundestages 2021 mit der »Rolle Deutschlands in der Welt«.

»Ein Heilungsprozess findet gerade statt, der dabei ist, die Kultur der Gesellschaft zu verändern.«

Unser Ziel ist es, dass über die Ergebnisse der Bürgerräte auch Volksabstimmungen stattfinden können. In meinen Augen ist das ein notwendiger, kultureller Schritt, um wieder Vertrauen in die demokratische Gemeinschaft der Vielfalt zu finden. Das Auseinanderfallen der Gesellschaft fordert uns dazu auf, wieder Vertrauen zu finden: untereinander auf horizontaler Ebene, aber auch auf vertikaler Ebene gegenüber der Politik. Die Politik sollte sagen können: »Wir können das Volk befragen. Das führt nicht zu Extremismus, auch wenn die AfD das so will.« Ein Heilungsprozess findet gerade statt, der dabei ist, die Kultur der Gesellschaft zu verändern.

TV: Der Zwischenschritt mit den Bürgerräten ist wichtig, weil die Volksabstimmungen alleine auch zu Polarisierung führen könnten.

Dieter: Genau. In den Bürgerräten kommen zudem ein Stück weit Innen und Außen zusammen. Dies hängt maßgeblich mit der Qualität der Moderation zusammen, denn je nachdem, wie polarisierend, emotional oder trauma-getriggert das besprochene Thema ist, müssen die Moderatoren in der Lage sein, mit diesen Prozessen umzugehen. Aus diesem Grund gehen wir mit »Mehr Demokratie«, und auch zum Thema Corona oder jetzt zum Ukrainekrieg, die Traumaarbeit an. Dazu laden wir alle möglichen Menschen mit allen möglichen Triggern, Meinungen und Spaltungen ein, um herauszufinden, was es braucht, um traumatische Reaktionen wieder aufzulösen und miteinander in Kontakt zu kommen. Und das sowohl bei Einzelnen als auch in der Gesellschaft, um mit all den Krisen und den immer stärker werdenden Herausforderungen umgehen zu können.

Bei den Bürgerräten haben wir eine Form gefunden, bei der diese inneren Prozesse stattfinden können, und dabei stehen wir noch am Anfang. Die Ausbildung der Moderatoren und die rechtlich-organisatorische Verankerung im Bundestag müssen sich noch entwickeln. Gleichzeitig führen die Bürgerräte zu einem politischen Ergebnis und sind ein direkter Beitrag, wenn sie von der Bundesregierung in Auftrag gegeben werden. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, uns vorzustellen, dass durch die stattfindende Evolution an Erfahrung irgendwann das Parlament auch so arbeiten wird. Dadurch könnte das Parlament aus der Fraktionierung, der Konkurrenz und dem Machtkampf herausfinden und anfangen, darauf zu vertrauen, dass andere Formen der Kommunikation eine kollektive Intelligenz hervorbringen können. In der Schweiz geht es bereits in diese Richtung. Die Regierungsstruktur ist so, dass alle Parteien zusammensitzen, und man versucht, zwischen den verschiedenen Fraktionen zu gemeinsamen Entscheidungen zu gelangen. Dies hängt maßgeblich von der Qualität und Kommunikationsfähigkeit ab. Unser Eindruck ist, dass die Herausforderungen unserer Zeit diesen Heilungsprozess sowohl in der Gesellschaft als auch in den Machtstrukturen brauchen.

Bürgerdialog Bad Belzig

TV: Es bedarf einer inneren persönlichen Heilung, wenn ich das richtig heraushöre. Ist das eine wichtige Voraussetzung für Gemeinschaftskompetenz?

Dieter: Auf jeden Fall, wobei man im politischen Bereich darauf achten muss, dass es nicht zu intim ist. Ich erwarte von einem Politiker nicht, dass er sein ganzes Sexualleben geheilt hat oder im Parlament Therapiesitzungen stattfinden oder irgendetwas in die Richtung. Wir streben eher eine Professionalität in der Kommunikation an.

Und natürlich braucht ein Politiker Integrität. Stell dir vor, du bist Politiker und wirst nun mit solchen Entscheidungen wie »Liefere ich Waffen oder nicht?« konfrontiert. Um Antworten zu liefern, braucht es Integrität, und die ethische Integrität hängt mit der inneren Arbeit zusammen. Dafür braucht es Teams, die die Politiker in solchen Situationen beraten, und ich beziehe mich nicht auf Fach- oder Marketingleute, sondern auf solche, die Übersprungshandlungen in solchen Extremsituationen begleiten können. Deutschland setzt sich gerade für eine große Wiederbewaffnung ein. Vielleicht ist das eine notwendige Idee, aber sie kommt aus dem Affekt des Krieges und aus bestimmten Ego-Anteilen, und genau diese Ebene muss professionell bearbeitet werden. Dabei stellt sich die Frage: Wo sind Coaches und Fachleute, die auf der politischen Ebene anerkannt sind?

Unsere Bundesvorstandssprecherin schrieb ein Buch, in dem sie zum Beispiel die Idee vorstellte, dass im Bundestag Prozessbegleiter anwesend sein sollten. Diese betreuen die Prozesse und bringen notfalls Vorschläge ein, um die Wogen wieder zu glätten: »Halt! Jetzt sollen Sie eine Pause machen, jetzt müssen wir einmal spüren, was hier gerade stattfindet.« Oder sie schlagen vor, eine Aufstellung zu machen. Das ist möglich, und ich glaube fest an unsere Tools. Wir sind zwar noch nicht so weit, dass wir dieses Vertrauen geschaffen haben und diese Kompetenz abbilden können, um in solchen angespannten und hohen Ebenen zu agieren, aber ich denke, dass wir dahin kommen werden.

TV: Dies betrifft die formale Struktur der Debatte und des Prozesses der Entscheidungsfindung. Ich glaube, dass wir diesem Prozess zu wenig Aufmerksamkeit schenken.

»Die Beteiligung ist das Herz der Demokratie.«

Dieter: Absolut, und das wäre doch super. Wir haben mit Gemeinschaften gestartet, und die Veränderungen in den Gemeinschaften brachten neue Tools und eine Form der Bewusstseinsarbeit hervor. Mit dem möchten wir einen Beitrag zur Gesamtorganisation leisten, denn die Beteiligung ist das Herz der Demokratie. Es baut sich von unten auf: durch die Bürgerräte, durch die Beteiligungsprozesse.

Wir gelangen zu einer kollektiven Intelligenz, wenn wir es wagen, durch solche Prozesse zu gehen. Dann wären dieses Gestanzte, dieses Oberflächliche und diese Maskenhaftigkeit auch weg. Die Menschen würden es lieben, denn es wäre authentisches Menschsein, und daraus würde Vertrauen entstehen. Das ist die Vision. Seien wir gespannt, was daraus wird.

TV: Das ist eine schöne Vision.

Dieter: Gleichzeitig sieht man, dass es nicht nur eine Vision ist, denn bestimmte Bereiche wie Bürgerräte werden bereits anerkannt. Wir luden auch Politiker ein, die zugeschaut haben, und wow! Anerkennung dafür ist bereits da.

TV: Ich glaube, dass ihr etwas gefunden habt, das auf breiter Basis Akzeptanz finden kann, denn viele Menschen sind davon begeistert.

Dieter: Das Großartige ist zudem, dass man es überall anwenden kann. Diese Idee wird überall im Land aufgegriffen: in kleinen Gemeinden und in größeren Städten, überall. Das ist wie ein Pilz, der sich verbreitet. An der Professionalität muss teilweise noch gefeilt werden, und der Erfahrungsraum muss noch wachsen, aber das ist unser Job: Erfahrungen auswerten und publizieren, Ausbildungen und Beratungen schaffen, damit diese Prozesse auch Hand und Fuß und Herz haben. Das wollten wir doch immer – ich jedenfalls.

TV: Wir danken dir für diesen Einblick in die neue Welt der Mitmenschlichkeit, Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Aufbruch in eine neue Gesellschaft erzeugt Hoffnung und Laune. Wir werden es weiterhin verfolgen und beobachten, wie es läuft, und dich gerne dabei unterstützen.

Dieter: Es ist bereits eine Unterstützung, das zu hören, und dass ihr dieses in eure Ausgabe reinnehmt, denn auch die spirituelle Szene oder die Bewusstseinsszene kann von dieser Entwicklung profitieren. Eine realistische Selbsteinschätzung und das Aus-den-Blasen-Herauskommen spielen eine Rolle wie auch der Quadrant von Ken Wilber, der hervorhebt, dass Bewusstseinsentwicklung nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist, sondern dafür auch kollektive Strukturen nötig sind, und dafür ist das alles ein Beispiel.

TV: Das ist auch unser Eindruck. Die Verbindung von Spiritualität (besser »Bewusstsein«) und Politik muss stattfinden. Wir können alle dadurch nur gewinnen.

Das Interview führten Alice Deubzer und Ronald Engert.

Über den Autor

Dieter Halbach, geb. 1953 in West-Berlin, zwei erwachsene Töchter. Soziologe, Musiker und Songpoet. Früh-68er, Mitinitiator und Forscher zum gewaltfreien Widerstand der Anti-Atom-Bewegung, zehn Jahre Selbstversorger in Italien. Nach der Wende Rückkehr und Engagement für den Dritten Weg. Aufbau des »Netzwerkes deutscher Gemeinschaften« und des »Ökodorfes Sieben Linden«, seit 1990 Journalist und Berater zu Themen der Gemeinschaftskultur. Seit 2015 interkulturelle Begegnung mit Geflüchteten und Bürgerdialoge in Bad Belzig. Seit Ende 2020 Chefredakteur bei »Mehr Demokratie«.

Bildnachweis: © Adobe Photostock Day of Victory Stu., rob z, Vector Mine

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