Carsten Dohnke

Carsten Dohnke – Der Weg der Liebe führt nach innen

Der taoistische Blick auf Partnerschaft und Sexualität

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Die taoistische Tradition ist ein ganzheitlicher spiritueller Weg, der Partnerschaft und Sexualität ebenfalls in den Blick nimmt. Dabei legen die Praktiken ein besonderes Augenmerk auf das Bei-sich-Ankommen und die eigene innere Stabilität, denn diese Qualitäten sind den Taoisten zufolge die Grundlage für ein erfüllendes Liebes- und Sexleben.

Tattva Viveka: Wir sprechen heute über das Thema Beziehung und Sexualität im Taoismus. Die Sexualkraft wird im Taoismus als die Essenz des menschlichen Wesens angesehen. Aus ihr entspringen Kreativität, Vitalität und Spiritualität. Doch beginnen wir bei den Beziehungen: Wenn ich mich umsehe, stelle ich schnell fest, dass vor allem in der westlichen Welt, auf die ich mich jetzt beziehe, Beziehungen häufig von Konflikten und einer gewissen Oberflächlichkeit geprägt und tendenziell weniger langlebig sind. Was machen wir falsch?

Carsten Dohnke: Manchmal funktionieren die Beziehungen tatsächlich, das ist positiv, aber wenn wir etwas falsch machen, dann womöglich, dass wir zu wenig nach innen schauen, uns selbst kennenlernen, sondern vielmehr aus unserer Einsamkeit, aus unserem Alleinsein heraus gerne Zeit mit jemand anderem verbringen möchten. Daraufhin treffen häufig zwei Menschen mit ihren jeweiligen Traumata oder Lebensgewohnheiten aufeinander und das, was daraus folgt, ist, aus asiatischer Sicht, die Aufarbeitung des Karmas. Es ist kein Geheimnis, dass man aus der unbewussten Ebene heraus bereits vor der Beziehung weiß, welchen Partner man anziehen wird, denn man resoniert mit der Person, die eine ähnliche Resonanz wie man selbst hat. 

Die Taoisten betonen einen Aspekt besonders: das Bei-sich-Ankommen.

TV: Wie lassen sich glückliche und langlebige Beziehungen aus taoistischer Sicht aufbauen und erhalten?

Carsten: Ein wichtiger Punkt für tiefe Beziehungen ist: das Ankommen bei sich selbst. Die taoistische Tradition ist unter anderem auch berühmt für ihre Sexualpraktiken. Es wird viel darüber gesprochen und viele Bücher wurden darüber geschrieben, aber die Sexualpraktiken machen keine zehn Prozent des Taoismus aus, sondern die Praktiken wie Tai-Chi und Chikung und auch die Traditionelle Chinesische Medizin, die integriert ist in den Taoismus, bilden gemeinsam mit Praktiken aus der Mystik, der Heilung und der Meditation ein größeres Feld. Die Sexualpraktiken sind ein Teil davon. Ein wichtiger Ansatz ist, wie wir mit uns und so auch mit jemand anderem sehr tief in Beziehung treten können. Der folgende Satz bringt das, was sowohl in Beziehungen als auch in der therapeutischen Arbeit wichtig ist, auf den Punkt: »Ein Schritt nach innen gleicht zwei Schritten nach außen.« Je mehr Kontakt ich mit mir habe, mit meinem Inneren und meinen Schattenseiten, desto mehr kann ich im Kontakt sein mit der Umwelt und meinen Mitmenschen, die meine sozialen Beziehungen prägen. Die Taoisten betonen einen Aspekt besonders: das Bei-sich-Ankommen. Das Bei-sich-Ankommen besteht daraus, dass man seinen Geist ausschalten kann und in seinem Bauchraum ankommt, im eigenen inneren Ruhepol. Es braucht eine gewisse Zeit, das zu erlernen, es ist aber auch nicht schwieriger, als wenn man Klavier oder Gitarre spielen lernt. Nach ein, zwei Jahren kann man bereits eine Menge. Neben gut verwurzelt und stabil zu sein, ist das Bei-sich-selbst-Ankommen ein wichtiger Punkt. Wenn es mir gelingt, bei mir selbst, in meinem inneren Ruhepol anzukommen, dann kann ich mein Gegenüber besser wahrnehmen und ihm zuhören. Viele Konflikte in Beziehungen beruhen darauf, dass wir das verlernt haben. Oder wenn wir den Bogen sogar noch weiterspannen und uns auf die Mystik beziehen: Was ist das tiefste Thema, in dem man spirituelle Erfahrungen macht? Das ist, wenn wir die andere Person wahrnehmen und einen Bezug zu ihr haben, und so durch den anderen das Leben und auch uns selbst tiefer fühlen können. Auf der spirituellen Ebene ist es relevant, und hier besteht eine Parallele zu Sexualität und Beziehung, und zwar, dass ich dem Leben zuhören und es wahrnehmen kann. Ich betone dies, weil, wenn wir 50 Personen auf der Straße die Fragen stellen würden, ob sie das Leben wahrnehmen, sie die Frage womöglich nicht verstehen würden, weil wir häufig nur um uns selbst kreisen. Das Leben wahrnehmen heißt dann zum Beispiel, im Urlaub das Meer wahrhaft zu sehen. In einer spirituellen Erfahrung erleben wir uns als das Leben selbst. Wir erleben uns als Teil des Universums. Wie die Welle, die sich als Teil des Ozeans erfährt. In einer Partnerschaft kommen wir in Kontakt mit dem Leben. Und Sexualität ist ein Vorgeschmack dafür, dass uns das Leben begegnet.

Im Taoismus besteht ein tiefer Fokus auf den eigenen Ruhepol und die eigene Stabilität. Das gibt uns die Möglichkeit, harmonisch mit anderen in Kontakt zu treten. Es gibt Praktiken, in denen wir nur in der Stille sind. Andere Bereiche wie Tai-Chi betonen die Bewegung. Der Taoismus hat viele Facetten und ist keine kongruente Lehre, die sich nur um einen Aspekt dreht. Es ist ein komplexes System mit drei Kernelementen: zum einen die Selbstheilung und Vitalität, also Gesundheit. Das ist besonders für uns heutzutage wichtig, denn viele Menschen sind erschöpft oder gesundheitlich schon an ihrer Grenze angelangt.  Zum anderen emotionale Heilung, also der Umgang mit Stress, aber auch mit inneren Verletzungen. Und der dritte Punkt: Spiritualität. Diese drei Punkte machen den Taoismus aus. Man nimmt dazu den eigenen Geist, bewegt seinen Körper und lernt, seinen Atem zu schulen und zu beruhigen. All das kann man zusätzlich durch gesunde Ernährung oder  Kräuter unterstützen. Generell ist der Taoismus aber ein Weg, der über den Körper zum Geist führt. 

Der Taoismus ist aus dieser Perspektive überaus wichtig für die heutige Zeit, weil wir gerade unsere Körperlichkeit verlieren.

Der Taoismus ist aus dieser Perspektive überaus wichtig für die heutige Zeit, weil wir gerade unsere Körperlichkeit verlieren, insbesondere in den letzten 20 Jahren durch das vermehrte Aufkommen von Internet und Handy. Ihr fragt auch nach Sexualität und Begegnung mit anderen Menschen; das ist natürlich auch körperlich. Wenn ich mich wirklich lebendig in mir fühle, dann gehe ich auch lebendig in eine Beziehung hinein. Und Sexualität basiert darauf, dass beide lebendig sind, denn ansonsten kommt es zu keiner Partnerschaft. Ausgehend davon, dass wir diese Lebendigkeit und Lebenskraft suchen, haben die Taoisten sehr schöne Meditationen entwickelt, wie wir unser Herz öffnen und uns die Herzenskraft für innere Heilungsprozesse zunutze machen können und wie wir unsere Libido aktivieren können, damit sie uns von innen nährt und trägt. Auf der einen Seite ist das einfach, auf der anderen komplex. Wir können das so zusammenfassen: Es gibt nur wenige Menschen in der heutigen Zeit, die über ein Übermaß an Lebenskraft bzw. »Chi« verfügen. Die meisten sind gestresst oder permanent im Kopf. Viele Menschen können ihren Kopf gar nicht mehr abschalten. Sie sind nicht nur innerlich angespannt, sondern haben auch den Bezug zu ihrer eigenen Lebendigkeit und Lebenslust verloren. Wenn ich in mir keine Liebe und Freude fühle oder mich gar innerlich leer fühle, suche ich all dies im Außen. Dies ist auch ein Grund, warum viele Menschen heutzutage extreme Sachen machen, wie Bungee-Jumping etc. Man möchte sich endlich wieder fühlen.

Dohnke-S02-01-©Carsten Dohnke

Heart Perineum

Die Meditationssysteme der Taoisten können für unseren Alltag von Bedeutung sein. Denn der Fokus des Taoismus liegt zunächst auf Lebendigkeit und Gesundheit. Erst an zweiter Stelle stehen Stille und innere Einkehr. Um sich wirklich gesund und lebendig zu fühlen, lernt man in den inneren Praktiken des Tao, die Kraft des Herzens und die Libido zu aktivieren. Beide Kräfte sind nicht nur tiefe Heilkräfte. Sie fördern auch unsere Kreativität und Lebenslust und unterstützen unser inneres Wachstum und unsere Spiritualität. In den inneren Praktiken des Tao lernt man mit als erstes, diese beiden Energien im Körper zusammenzubringen, und zwar in der eigenen Mitte.

TV: Das führt in die eigene Lebendigkeit?

Carsten: Das führt zu einer Lebendigkeit, die über die Vorstellungskraft der Menschen, die dies nicht praktizieren, völlig hinausgeht. Normalerweise können viele Menschen ihr Herz nicht fühlen, aber sie können es fühlen, wenn sie verliebt sind. In meinen Seminaren arbeite ich mit sehr vielen Menschen, die nach ein bis zwei Jahren Praxis (besonders) auf mich zukommen und sagen: »Ich habe vorher in meinem Leben in der Form mein Herz so überhaupt nie gefühlt.« Das ist wie ein durchgehendes Licht, das einen überwältigt, es ist nicht so wie verliebt sein, sondern eine Herzenskraft, die einen von innen erfüllt.

Die Taoisten versuchen, ihre Libido durch Meditation zu aktivieren und so in den Körper zurückzuführen.

TV: Doch die Herzenskraft ist nicht das Einzige, was man im Herzen fühlen kann, oder?

Carsten: Das Herz hat viele Qualitäten. Die Grundidee im Taoismus sowie in vielen anderen Traditionen – beispielsweise im Christentum oder Buddhismus – ist es, dass wir unser Herz wirklich öffnen. Aber ein Punkt unterscheidet den Taoismus in Hinblick auf Beziehung und Sexualität von den anderen Traditionen: Die Taoisten versuchen, ihre Libido durch Meditation zu aktivieren und so in den Körper zurückzuführen. Man kann fragen, wie dies mit Partnerschaft zusammenhängt, und die Antwort wäre, dass es essenziell ist, diese Lebendigkeit und Liebe erst mal in sich selbst zu fühlen, denn diese ist die Basis, um überhaupt jemand anderem tiefe Lebendigkeit mitzugeben.

Eure Frage zuvor war, welches das Dilemma in den meisten Partnerschaften heutzutage ist, und ich sagte, die meisten Menschen fühlen sich selbst nicht. Ich würde ergänzen, dass sie erschöpft sind oder ihr Herz und/oder ihre Libido nicht fühlen. Deshalb erwarten sie etwas von der anderen Person. Das macht die Sache komplex: Ich gehe nicht in die Partnerschaft, um in ein tiefes Resonanzfeld einzutauchen, in dem auch ich etwas gebe, sondern eigentlich komme ich mit einem Manko in die Partnerschaft. Trotzdem kann man sich im Leben unterstützen. Die Taoisten sagen: Wenn wir unsere Lebendigkeit selbst in uns aktivieren, dann können wir in tiefe Prozesse der Selbstheilung und der Energiegewinnung kommen.

Die Taoisten fanden heraus, dass die Sexualkraft die Grundlage all der Lebendigkeit und all der kreativen Prozesse ist.

 Aber es geschieht auch etwas Besonderes, wenn unsere Herzensenergie und Libido im Bauch zusammenkommen. Eine der tiefsten Meditationen heißt »die Vereinigung von Wasser und Feuer«. Diese führt dazu, dass eine andere Vibration in alle Zellen eindringt, ein innerer Initialisierungsprozess, ein Heilungsprozess. Wenn er gelingen sollte, dann ist es mehr als ein Verjüngungsprozess. Die Sexualenergie ist die Grundlage der Kundalini, auch im Yoga. Unten liegt die Sexualkraft. Im Yoga gibt es ähnliche Praktiken und es ist ein ähnliches Thema: Wie kann ich vermeiden, diese Sexualkraft immer zu verlieren, ob in der Partnerschaft, beim Geschlechtsverkehr oder dass sie einfach so entweicht, was vielen heutzutage passiert, um nicht in eine Erschöpfung zu kommen? Die Taoisten fanden heraus, dass die Sexualkraft die Grundlage all der Lebendigkeit und all der kreativen Prozesse ist, denn jeder kreative Prozess im Leben, ob sich eine Blüte öffnet, jemand ein neues Buch schreibt oder ein Projekt startet, basiert auf dieser tiefen Lebenskraft, die sich entfalten möchte. Wenn Menschen erschöpft oder älter sind, sagen sie häufig, dass sie gerne noch ein Projekt machen würden, ihnen aber die Energie fehlt. Die Idee der Taoisten ist folgende: Wir bringen diese beiden Kräfte in uns zusammen und fühlen in uns diese tiefe Lebendigkeit, auch die Sexualkraft als aktive Kraft. Und ideal wäre, wenn sich das dann auch in der Partnerschaft umsetzen ließe.

TV: Würdest du sagen, dass das Ziel von Sexualität im Taoismus ist, diese Lebendigkeit durch Sexualität zu erreichen?

Carsten: Warum zieht es Menschen überhaupt zur Sexualität? Es ist die Lebendigkeit. Niemand wünscht sich Sexualität, um ganz ruhig zu sein, sondern wir spüren eine totale Lebendigkeit in uns, und es heißt nicht ohne Grund, dass ein Orgasmus mit das tiefste Gefühl ist, das ein Mensch in der Vereinigung erleben kann. Deshalb sagten die Taoisten, dass wir diese Energie in uns recyceln sollten, wir nehmen sie auf und wandeln sie in der Meditation um, denn dann erlebt man eine tiefe Lebendigkeit wie in der Sexualität, aber verbunden mit Stille und Stabilität, insbesondere mit der Herzenskraft.

Das ist das, was den meisten Menschen heutzutage fehlt. Ich unterrichte seit mehr als 30 Jahren und höre immer wieder TeilnehmerInnen sagen, dass ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn sie eher gelernt hätten, bei sich anzukommen, Liebe auch ohne PartnerIn zu fühlen, Lebendigkeit in Präsenz und Ruhe wahrzunehmen. Dies ist ein sehr gutes Fundament für alle Partnerschaften. Viele Partnerschaften kommen und gehen schnell heutzutage, wie Freundschaften, denn wenn der Partner nicht mehr anwesend oder erschöpft oder überarbeitet ist, kommt es schnell vor, dass man sich nicht gesehen fühlt und so auch nicht mehr verbunden ist. Dies führt dazu, dass der Herzkontakt verloren geht, und dann endet die Partnerschaft meist relativ schnell.

Alter Taoist

Die Evolution hat etwas Besonderes für uns kreiert, was den meisten Menschen nicht bewusst ist: Wenn wir verliebt sind, spüren wir immer eine direkte Verbindung mit dem Partner und befinden uns in einem Herz-zu-Herz-Kontakt. In diesem Zustand ist die Kommunikation nicht mehr mental, sondern geht über die Herzebene oder über feine Gesten. Wenn man verliebt ist, dann blüht alles auf und jeder schwebt auf der rosaroten Wolke. Das ist ein schönes Gefühl, aber wie es heißt, man ist ver-liebt, man ist nicht mehr ganz bei sich und so nicht mehr mit seinem inneren Pol verbunden. Man hat sich bereits ein wenig verloren. Wenn man in einer Beziehung ist, geht nach zwei bis drei Jahren der Herz-zu-Herz-Kontakt in der Regel verloren, unter anderem weil sich die Hormone ändern. Man tritt in eine andere Phase der Beziehung ein. Dann fragen sich viele Menschen, wo sie denn da reingeraten sind. Das Schöne ist, dass man dies im Taoismus bereits vorhersieht. Auch andere Weisheitstraditionen tuen das. Sie sehen dieses Verliebtheitsgefühl als eine momentane Phase. Auch deshalb wird der Kontakt zur eigenen Mitte, Herzenskraft und Libido so betont. Denn wenn wir mit diesen Ressourcen in Kontakt bleiben projizieren wir viel weniger auf den Partner. Und so können wir die Lebendigkeit in der Partnerschaft für eine lange Zeit aufrechterhalten, womöglich auch unser ganzes Leben lang.

TV: Wie kann man diese Herzensverbindung aufrechterhalten?

Carsten: Unter anderem, indem man die tiefe Entscheidung trifft, die nicht einfach ist, dass man regelmäßig innere meditative Praktiken für sich selbst ausübt. Das ist das Entscheidende. Man kann gewisse Sexualpraktiken in der Partnerschaft umsetzen, das hilft aber meistens nicht für eine gute Partnerschaft, sondern man braucht dieses Innere-bei-sich-Ankommen und diese innere Verbundenheit zu sich selbst. Das hilft, um im Herzen zu bleiben. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass das Thema taoistische Meditation, Sexualität und Partnerschaft in zwei Bereiche übergeht, der eine ist Spiritualität und Mystik und der andere Psychologie. Es gibt große Schnittmengen. Bei den taoistischen Sexualpraktiken passiert es oft, dass man von der Energie überwältigt ist, wenn man die Herzenskraft fühlt oder merkt, wie die Libido aufperlt. Wenn dies eintritt, geht man weniger in die feineren Schwingungen in der Meditation hinein, obwohl dies der Sinn ist, denn in allen Meditationssystemen der Welt ist es elementar, alte emotionale Themen oder Traumata zu verarbeiten. Dies wäre meines Erachtens der wichtige dritte Punkt für eine gute und tiefe Partnerschaft: Der erste ist die Fähigkeit, in seiner Mitte zu sein und abschalten zu können, der zweite die Verbindung zwischen Herz und Sexualität und der dritte Schritt ist, dass ich in meine alten emotionalen Themen eintauche und innere Verletzungen und Traumata heile, weil ich immer mehr mit mir selber im Kontakt bin. Heutzutage existieren viele therapeutische Methoden, die ergänzend recht schnell wirken. Unter anderem deshalb, weil die Meditationen bereits helfen, mit unverarbeiteten Themen oder inneren Schattenseiten in Kontakt zu treten. Ich hebe dies hervor, weil es häufig nicht getan ist, wenn nur die Energieebene betont wird. Anders gesagt: Seelische Aufarbeitung ist für eine gelungene Partnerschaft unabdingbar. Das innere Kind will gesehen werden. Dies gilt auch für alle spirituellen Praktiken in der Weisheitslehre des Taoismus.

TV: Ich beobachte in meinem Umfeld, dass es Menschen gibt, die wie in einer Schleife gefangen sind, denn in ihren Partnerschaften tauchen immer wieder dieselben Themen beziehungsweise Probleme auf. Häufig fällt dies eher Außenstehenden auf, dass man sich beinahe in der gleichen Situation wiederfindet wie in der Vergangenheit. Wenn man spirituelle beziehungsweise psychologisch orientierte Bücher liest und sich selbst und seine Mitmenschen beobachtet, dann bemerkt man, dass Themen immer wieder zurückkehren, bis man ihnen wohl anders begegnet.

Carsten: Hier existieren viele spannende Zusammenhänge. Die Taoisten sagen – und ich mag diesen Ansatz sehr: Wir sind in der Welt und wir haben die Chance, zu wachsen und uns zu entfalten; einmal spirituell, aber auch im Alltag können wir unser Potenzial und unsere Liebesfähigkeit und Lebendigkeit entfalten. Es ist interessant, dass gerade die Hirnforschung besagt, dass durch Praktiken wie Chikung oder Tai-Chi, Meditation und Körperübungen sehr gut langfristige Veränderungen gelingen können. Unser Charakter wird durch unseren Körper geprägt. Im Taoismus dreht sich auch viel wie im Chikung um neue Körperstrukturen und neue Haltungen und darum, sich körperlich ganz zu fühlen.

Dies ist eine große Chance, um seinen Charakter zu verändern, denn alte traumatische Erfahrungen werden durch unsere Körperhaltung gespeichert. Dafür gibt es viele Beispiele: Wenn ich wütend bin, habe ich eine andere Körperhaltung, als wenn ich mich so fühle, dass mir im Leben alles zu viel wird oder ich traurig bin. Wir alle nehmen hin und wieder diese dafür typischen Körperhaltungen ein. Der Punkt ist aber: Wenn diese Körperhaltungen chronisch und fest in uns werden, sind sie eigentlich »wie Eis«. Wir fühlen sie dann nicht mehr. Sie sind Teil unseres Charakters geworden und daher immer anwesend.

Ein historischer chinesischer Druck: »Die Verbindung der Essenzen«

Wir fühlen das Eis in uns nicht, sondern nur das, was sich lebendig in uns bewegt. Daher ist es eine Riesenchance, wenn man Körperarbeit mit Meditation und Organheilung verbindet. Ich sehe viele Menschen, die sich grundlegend verwandeln und infolgedessen auch andere Beziehungen eingehen. Dahinter steht der folgende Satz: Eigentlich, wenn wir ganz ehrlich sind, gehen wir häufig lieblos mit uns selbst um, gerade in unserer heutigen Zeit, alles soll schneller gehen, alle sollen besser funktionieren; meist wachsen wir bereits in der Schule so auf, dass einem nahegelegt wird, dass man schneller lernen solle, damit man später in der Uni und in seinem Job gut ist, und wenn wir darauf programmiert sind, gut zu funktionieren, bekommen wir über die Resonanz in unserem Umfeld unsere Belohnung. Die Folge ist, dass wir uns selbst nicht mehr spüren und nicht liebevoll zu uns selbst sind. Es braucht diesen liebevollen Umgang zu uns selbst, damit wir uns selbst körperlich entfalten und unsere alten Themen in uns schmelzen können. Unsere Liebe scheint wie eine Sonne auf das innere Eis. Und durch sich bewusstes Bewegen, lassen wir das Eis in uns ebenso schmelzen und beginnen, uns wieder zu fühlen.

TV: Was verstehen die Taoisten unter der sexuellen Energie und wie arbeiten sie mit ihr?

Carsten: Sie verstehen darunter die Sexualkraft, besonders die Kraft in den Hoden oder Ovarien als die gespeicherte Energie der Fortpflanzung, aber auch die Energie im gesamten Bereich der Sexualorgane. Hier eine zusätzlich wichtige Information: Die Sexualkraft entsteht gemäß der chinesischen Medizin und dem Taoismus in den Nieren. Das bedeutet, dass die beiden Nieren unsere vorgeburtliche oder vererbte Energie speichern und in diesem Sinne die Sexualkraft hervorbringen. In der chinesischen Medizin gibt es eine Anwendung, die bei Erschöpfung oder Unfruchtbarkeit eingesetzt wird. In diesem Zusammenhang werden Kräuter für den Blutaufbau, aber in den meisten Fällen für den Aufbau der Nierenenergie verabreicht. Man stärkt die Nieren. Wenn ein Mann impotent ist, akupunktiert man hinten am Rücken auf den Punkten des Blasen-Meridians, wo die beiden Nieren liegen. Oft wird dort zusätzlich die erwärmende Moxa-Therapie verwendet, die viel Kraft gibt. Die Nierenenergie ist immens wichtig, da sie die Sexualenergie hervorbringt. Umgekehrt gesagt, wenn ich in einer tiefen Erschöpfung bin, dann nützt es nichts, Sexualpraktiken zu erlernen, sondern man sollte zuerst die Nierenenergie aufbauen, die ja die Sexualenergie hervorbringt, was wiederum die Partnerschaft unterstützt und das Schwangerwerden vereinfacht, wenn man das als Frau möchte. Die Stärkung der Nierenenergie hilft auch, die Potenz des Mannes zu unterstützen und somit zum Beispiel vorzeitige Ejakulation zu vermeiden.

Die Praktiken der Taoisten heißen auf Chinesisch Huan Jing Bu Nao, »Man kehrt die Essenz um«. Die Essenz ist die Nieren- und Sexualenergie, weil die Sexualkraft aus den Nieren kommt, und diese Essenz wird zurück ins Gehirn geleitet, damit es gut arbeiten kann und damit, ähnlich wie in der Chakren-Lehre des Yoga, die höheren Energiezentren sich öffnen können. Infolgedessen kann sich auch unsere Intuition entfalten und wir erfahren eine Art innere Weisheit. Umgangssprachlich ausgedrückt, sind diese Übungen der Hammer, denn sie verändern das Leben jeder Person und sind nicht allzu schwierig. Es ist wundervoll, wenn die Menschen merken, dass ihre Herzenskraft wie Nektar in den Beckenboden hinunterfließt und auf einmal über die Wirbelsäule eine Lebendigkeit von Liebe und Libido ins Gehirn fließt und der Geist unendlich weit wird. Das ist eine Möglichkeit, wie man mit einem Überschuss an Libido umgehen kann. Wenn dieser Überschuss einmal aufgeperlt ist, wirkt es wie ein eigener Sekt im Körper und man hat nicht mehr unbedingt das Bedürfnis nach Sexualität.

Sexualität braucht immer eine Verbindung mit tieferen Schichten in uns. Männer sind Yang-betont, also aktiv, auch in der Partnerschaft. Wenn ein Mann keine Erektion hat, gibt es keinen Sex. Aus chinesischer Sicht geht die Erektion mit der Energie der Leber einher. Die Leber mit ihrem Blut bewirkt die Erektion, und die Leber hängt mit unserer Power und Dynamik, mit unserer Freundlichkeit, aber auch mit unserer Wut zusammen. Wenn ich als Mann mit innerer Anspannung in die Sexualität oder Beziehung einsteige, vermischt sich die Sexualkraft oft mit innerer Wut. Viele tragen diese Anspannung in sich und wissen nicht, wohin damit. Das lernen wir ja auch nicht in der Schule. Manchmal kommt sie richtig hervor, doch meistens wird sie unterdrückt. Dabei hängt die Leberenergie gleichzeitig auch mit Müdigkeit zusammen. Gerade wenn die Leberenergie stagniert oder überaktiviert ist, und das ist das Gefühl, das man zum Beispiel oft nach einer ausgiebigen Mahlzeit hat, wird man müde. Diese Müdigkeit und Trägheit tragen viele andauernd in sich und deshalb sieht man die Wut nicht, doch unter der Trägheit brodelt sie. Dies ist der Grund, wieso es wichtig sein kann, dass wir die taoistischen Sexualpraktiken lernen, bei denen wir die Sexualenergie ins Gehirn hochziehen können. Und dies ist auch für Frauen möglich. Das bedeutet konkret, dass der Mann seinen normalen Orgasmus bei dem es ja zur Ejakulation kommt, eher vermeidet. Durch das Hinaufführen der Libido in die Wirbelsäule und das Gehirn kann er aber gleichzeitig den inneren Stress abbauen und die Sexualkraft zu einer Art Heilkraft oder neuen Lebensenergie umformen, die von innen her alle Zellen mit neuer Lebendigkeit füllt.

TV: Wie sehen die Taoisten die Rolle der Frau und des Mannes in der Beziehung beziehungsweise in der Sexualität?

Carsten: Für den Mann ist die Verbindung der Sexualkraft mit seinem Herzen wichtig, denn dies geschieht beim Mann normalerweise nicht. Durch die Verbindung mit seinem Herzen kann er tiefer in die Beziehung gehen und womöglich bestimmte Praktiken umsetzen. Durch manche taoistische Sexualpraktiken kann es dem Mann gelingen, länger Sex zu haben. Beide sind im Geschlechtsverkehr, kommen dann zur Ruhe, ob sie ineinander liegen oder nicht, und die Sexualkraft perlt in die Zellen auf, womöglich perlt sie sogar durch beide hindurch, und dies erzeugt eine immense Nähe zu der anderen Person. Für den Mann ist es daher am wichtigsten, die Verbindung zum Herzen zu erfahren, und gleichzeitig, alte emotionale Verletzungen zu klären. Denn da die Sexualenergie beim Mann sehr Yang ist und auch von der Leber her bestimmt wird, mischt sie sich wie gesagt leicht mit Anspannung, Stress und versteckter Wut. Das zeigt sich dann besonders bei Vergewaltigungen. Und Missbrauch und auch Gewalt in der Familie steigen ja bekanntlich an, wenn der gesellschaftliche und persönliche Stress ansteigt. Ein sehr ernstes und schlimmes Thema. Auffällig ist hier: Männer können Sex haben, wenn sie voller Wut sind. Sex wird dann zu einer Art Ventil, um den Druck abzulassen. Frauen können das nicht. Bei der Frau beginnt Sexualität in der Regel mit einem sich öffnen und mit Hingabe. Deshalb hört man auch wenig von Vergewaltigungen eines Mannes. Und daher ist es so wichtig, dass Männer lernen, sich mit ihrem Herzen zu verbinden und ihre inneren Spannungen auflösen.

Die fünf Wandlungsphasen

Viele Frauen berichten mir, dass es ihnen relativ leicht fällt, die Energie hochperlen zu lassen, und sie spüren ihr Herz schnell. Das stimmt in vielen Fällen, doch letztlich ist es bei jedem Menschen anders. In manchen Fällen geschieht dies bei Frauen wirklich von allein. Welches Thema betrifft eher Frauen? Stabilität und Bei-sich-Ankommen, könnte ich zusammenfassend sagen. Denn bei Frauen passiert es schnell, dass sie sich in einer Beziehung verlieren oder in die Beziehung förmlich hineinschmelzen. Vielleicht ist es von der Evolution so gewollt, da sie schwanger werden können und die Mutterrolle innehaben. Als Frau ist es einfach, wenn man nicht in seiner eigenen Mitte und in der eigenen Ruhe ist, in der Beziehung zu verschmelzen und sich womöglich darin zu verlieren. Das hört sich einerseits sehr positiv an, dieses Schmelzen hat natürlich seine Qualitäten, aber andererseits geht es mit einer Verlorenheit einher. Denn wenn es zur Trennung kommt, kollabiert das eigene Leben. Das sind komplexe Themen, aber nach meinem Erfahrungsschatz hat es mit dem Thema Kinderbekommen zu tun, denn wenn ein Kind da ist, hat die Frau viel mehr Nähe zum Kind als der Mann. Der Mann hat auch Nähe zum Kind, aber in vielen Fällen spielt der Mann erst richtig mit dem Kind, wenn es bereits laufen kann. Die Verbindung zwischen Mutter und Kind ist einmalig, sie verschmelzen immerhin zwischendurch zu einer Einheit und der Mutterinstinkt tritt zutage. Dieses Verschmelzen erleben auch viele Frauen, wenn sie in eine neue Beziehung eintreten oder sogar mit ihrem Heim verschmelzen. Der Haken ist, dass viele daraufhin nicht bei sich selbst ankommen. Die Folge ist, dass viele ihre Klarheit verlieren. Und wenn ich mit jemandem eins bin, trifft mich jede Kritik tief im Herzen. Frauen fühlen ja oft auch eine tiefen Schmerz oder eine Leerheit, wenn die eigenen Kinder aus dem Haus gehen. Viele kollabieren aufgrund des Schmerzes und finden nicht mehr zu sich selbst. So kehren wir zum Kernpunkt des Taoismus zurück: zum Bei-sich-selbst-Ankommen. Durch dieses Bei-sich-Ankommen entsteht eine tiefere Beziehung zum eigenen Herzen, zur eigenen Liebesfähigkeit und Libido, und die Fähigkeit, mit Klarheit eine Beziehung einzugehen. Denn Beziehungen brauchen Konflikte, wir leben von Konflikten. Konflikte sind nicht immer negativ, sondern im Beziehungsraum stehen immer Dinge an, die es zu klären gilt, an denen wir uns reiben. Sei dies zwischen Partnern oder zwischen Mutter und Kind oder in der Firma oder Gesellschaft, und dadurch wachsen wir. Wenn ich verschmolzen bin, bin ich nicht mehr konfliktfähig, denn wie kann ich diese Person kritisieren, mit der ich doch eine Einheit bin. Das ist das große Dilemma.

TV: Eine letzte Frage: Wie kann Sexualität heilend wirken?

Carsten: Sie kann heilend wirken, wenn wir das Herz in der Sexualität mit dem/der PartnerIn öffnen und die Energien innerlich zu fließen beginnen. Die taoistischen Praktiken unterstützen das innere Fließen, weil die Energien in alle Organe aufperlen. Es kann aber auch ohne diese Praktiken heilend wirken, wenn man innerlich zu schmelzen und zu fließen beginnt und loslässt. Forschungen ergaben, dass Menschen, die regelmäßig Sex haben, gesünder oder heiler sind in einem ganzheitlichen Sinne als die, die keine Sexualität haben. Das wäre der eine Punkt, der andere ist die innere Heilung, über die wir bereits sprachen. Das Hinaufführen der Sexualkraft ist eine Spezialität der Taoisten. Viele alte Abbildungen, die tausend bis zweitausend Jahre alt sind, zeigen Menschen, die einen Pfirsich halten. Sie drücken symbolisch aus, dass die Sexualkraft in all ihre Zellen aufgestiegen ist, und der Pfirsich symbolisiert Langlebigkeit, Gesundheit und innere Heilung. Die Forschungen in dem Bereich sind relativ neu, doch manche besagen, dass wenn man regelmäßig meditiert, ein innerer Heilungsprozess entsteht und sich in den Telomeren der Chromosomen, also im Bereich der Zellen, eine Art Verjüngungsprozess ereignen kann. Dies kann geschehen, wenn man regelmäßig meditiert und/oder regelmäßig fastet. Aus meiner Erfahrung heraus insbesondere, wenn Herz- und Libidoenergie im Körper vorhanden sind und neue Impulse in die Zellen geben. Das als eigene sexuelle Praxis für sich allein, aber auch beim Geschlechtsverkehr, wenn die Liebes- und Libidoenergien in uns wirken. Ich glaube aus meiner Erfahrung heraus, dass die tiefen Praktiken der taoistischen Meditationen zur Zellverjüngung führen. Das heißt nicht, dass man immer jünger wird, sondern dass die Zellen eine Chance haben, zu regenerieren – in dieser tiefen Stille der Meditation durch die neuen Ressourcen, die frei werden. Denn es ist nicht so, dass man nur still wird, sondern es kommt eine neue Energie hinein, wodurch die Zellen in eine Zellautophagie, eine Zellselbstheilung, eintreten können. So kann der gesamte Körper gesünder werden. Eine tolle Sache, oder?

Carsten Dohnke

Zum Autor

Der Sinologe Carsten Dohnke ist heute ein international anerkannter Lehrer für Taoismus und Chikung. Er lehrt den mystischen Weg des Tao und gibt Ausbildungen und Seminare. Er wurde 1963 in Hamburg geboren und begann dort bereits mit 14 Jahren, intensiv Kampfkünste und Meditation zu studieren.

Tao-Hamburg.com

Bildnachweis: © Adobe Photostock, Carsten Dohnke

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