Was können wir heute von matriarchalen Gesellschaften lernen?
Die Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung, Dr. Heide Göttner-Abendroth, lässt uns an den Erkenntnissen ihrer jahrzehntelangen Forschung über matriarchale Gesellschaften teilhaben. Sie räumt mit Klischees und Vorurteilen gegenüber diesen Gesellschaften auf, die sich durch Egalität, Basisdemokratie und eine tiefe Verehrung für Mutter Erde auszeichnen. Dabei wird die Vielfalt menschlicher Lebensformen deutlich, aber auch wie viel westlich-europäische Gesellschaften von matriarchal geprägten lernen können.
Tattva Viveka: Wir sprechen heute mit Dr. Heide Göttner-Abendroth über das Thema Matriarchatsforschung. Ich möchte Sie kurz vorstellen: Sie sind Philosophin und Forscherin zu Kultur und Gesellschaft, mit dem Schwerpunkt Matriarchat. 1973 promovierten Sie in Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität München und lehrten dort zehn Jahre lang Philosophie. Seit 1976 sind Sie in der Pionierarbeit auf dem Gebiet der Frauenforschung aktiv und veröffentlichten viele Bücher über matriarchale Forschung, Kultur und Gesellschaft. Deshalb werden Sie auch die Gründermutter der modernen Matriarchatsforschung genannt. Sie arbeiten als unabhängige Wissenschaftlerin und gründeten im Jahr 1986 die HAGIA, die Internationale Akademie für Matriarchatsforschung und matriarchale Spiritualität, wo noch heute Ausbildungen, Seminare und Feste stattfinden. Für September 2021 ist zudem ein Kongress in Berlin geplant, in dessen Rahmen unter anderem ihr 80. Geburtstag gefeiert werden wird.
Sie gelten als eine der Begründerinnen der modernen, auch politischen Matriarchatsforschung. Da diverse, auch falsche, Vorstellungen und Definitionen von dem, was das Matriarchat sein soll, kursieren, frage ich Sie gern zuallererst: Wie definieren Sie Matriarchat und wo liegen die Kernunterschiede zum Patriarchat?
Göttner-Abendroth: Diese so kurze Frage beinhaltet doch einen großen Teil meiner Forschung. Obwohl in der bisherigen Matriarchatsforschung, auch bei den älteren Forschern, viel geredet und gesammelt wird, mangelt es an einer klaren Definition, wie diese Gesellschaftsform aussieht. In den meisten Fällen sind die Definitionen schwammig formuliert und vermischen sich mit Vorurteilen sowie emotionalen Aussagen. Darum habe ich es mir, als ich vor mehreren Jahrzehnten anfing, zum Anliegen gemacht, diese Gesellschaftsform an noch existierenden Beispielen zu untersuchen, um ausgehend von diesen lebenden Gesellschaften den allgemeinen Nenner zu finden, was ein Matriarchat denn überhaupt sei. Folgendes konnte ich herausfinden – ich halte die Definition kurz, denn sie ist etwas umfangreich:
Matriarchale sind auf der sozialen Ebene nach der Mutterlinie und der Matrilokalität organisiert, also dem Wohnsitz im Mutterhaus. Diese Eigenschaften setzen Frauen ins Zentrum, aber nicht an die Spitze. Von der Mitte her halten die ältesten Mütter ihre Sippen, ihre Clans zusammen.
Die ökonomische Ebene betreffend wird den Matriarchinnen, also den ältesten Müttern, der gesamte Clanschatz in die Hände gegeben. Alles, was die Clanmitglieder durch Ernten oder ihre Arbeit erwerben, übergeben sie der Matriarchin. Diese besitzt diese Güter aber nicht, sondern ist die Hüterin des Clanschatzes und verteilt diese Güter auf der Basis einer gemeinsamen Entscheidung wieder gerecht an alle Clanmitglieder. Diese ökonomische Situation ist sehr wichtig, da Frauen, also die älteren Frauen, über die Güter des Clans im Sinne einer Verteilungsmacht, nicht aber einer Besitzmacht verfügen. Diese Verteilungsmacht verleiht ihnen eine wichtige Position.
Dass derartige Gesellschaften trotzdem egalitär sind und weder ein Geschlecht das andere noch eine Gruppe eine andere beherrscht, wird an der Form deutlich, wie sie sich politisch organisieren. Im Clan gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Sie beraten so lange gemeinsam, bis sie einstimmig eine Entscheidung fällen. Wenn größere Ratsversammlungen – beispielsweise im Dorf, in der Stadt oder der Region – stattfinden, entsenden sie einen Clansprecher, der die Entscheidung des jeweiligen Clans vertritt. In der Regel sind es Männer, die zu diesen umfangreichen Ratsversammlungen zusammenkommen, aber sie tauschen lediglich das aus, was die einzelnen Clanhäuser beschlossen haben. Sie sind keine Entscheidungs-, sondern Informationsträger. Sie moderieren und koordinieren die Politik der einzelnen Clanhäuser, aber die reale politische Entscheidung wird in den Clanhäusern gefällt. Ich nenne das eine echte Basisdemokratie.
Mit Blick auf die weltanschauliche Situation hegen matriarchal geprägte Gesellschaften eine tiefe Verehrung für die Natur, die sie als die große Muttergöttin betrachten. Die Erde ist die Mutter, die sie verehren und glücklicherweise auch schonend behandeln. Die Ahnen spielen bei ihnen ebenfalls eine große Rolle, aber nicht in Form eines Ahnenkults, sondern weil sie einem grundsätzlichen Wiedergeburtsglauben anhängen. Sie gehen davon aus, dass die Ahnen und Ahninnen als Kinder in den eigenen Clan wiedergeboren werden, vergleichbar mit einer konkreten Wiedergeburtsreligion.
»Sie kennen auch keinen jenseitigen Gott, sondern für sie ist die ganze Welt immanent göttlich.«
Sie kennen auch keinen jenseitigen Gott, sondern für sie ist die ganze Welt immanent göttlich, also das gesamte Universum, die Erde. In ihrer Religion feiern sie das in ritueller Weise.
Sie grenzen sich von patriarchalen Gesellschaften ab, in denen keine Konsenspolitik, sondern eine Politik der Herrschenden betrieben wird, die von oben herab bestimmen, was zu tun sei. Diese Herrschaft wird durch das, was ich einen Erzwingungsstab nenne, unterstützt. Zum Erzwingungsstab zählen Krieger, Polizei, Militär und kontrollierende Institutionen wie Ämter.
Sogar in unseren eher formalen Demokratien existiert diese Herrschaft von oben: Zahlen Sie Ihre Steuern nicht, dann kommt der gesamte Erzwingungsstab vorbei. Zuerst das Amt, und wenn Sie dem immer noch nicht nachkommen, der Justizvollzug und so weiter. Oder betrachten Sie die ökonomische Ebene: Wir betreiben doch keine Verteilungsökonomie, sondern eine Ökonomie der Akkumulation des Besitzes von wenigen, die die Güter vieler in den Händen haben.
TV: Die Endungen der Begriffe Matriarchat und Patriarchat stammen beide vom Altgriechischen Archē. Sie haben dies in ihrem Buch linguistisch geklärt: Archē kann sowohl Ursprung als auch Macht und Herrschaft bedeuten. Häufig wird unter Matriarchat eine Spiegelung des Patriarchats verstanden, also nicht die Herrschaft des Mannes, sondern die Herrschaft der Frau. Doch Sie zeigen auf, dass dies ein Missverständnis ist.
Göttner-Abendroth: Wenn wir sehen, dass matriarchale Gesellschaften grundsätzlich egalitär und basisdemokratisch organisiert sind, und wenn Mütter eine wichtige Position innehaben, die aber keine Position der Macht, sondern eine der Ehre ist, wenn wir all dies wissen, was ich zuvor geschildert habe, müssen wir den Begriff Matriarchat anders übersetzen.
»Mütter eine wichtige Position innehaben, die aber keine Position der Macht, sondern eine der Ehre ist.«
Ich weise darauf hin, dass archē im Griechischen auch die Bedeutung Beginn hat. Also müsste man Matriarchat als »am Anfang die Mütter« übersetzen, denn die Mütter stehen durch die Geburt am Anfang des individuellen Lebens und sie standen wohl auch kulturell am Anfang der Geschichte. Patriarchat bedeutet für mich nach wie vor die Herrschaft der Väter, denn Patriarchate sind im Grunde Herrschaftsgesellschaften mit der Herrschaft weniger Männer über das ganze Volk, das aus Männern und Frauen besteht.
TV: Sie grenzen Ihre Matriarchatsforschung ab, denn Sie nennen sie »moderne und/oder politische Matriarchatsforschung«. Wo liegt in Ihren Augen der Unterschied zwischen politischer und herkömmlicher Matriarchatsforschung?
Göttner-Abendroth: Die moderne Matriarchatsforschung, deren Begründerin ich bin, unterscheidet sich von der traditionellen, weil sie auf wissenschaftlichem Boden fußt. Das heißt zuerst, dass eine klare Definition davon vorliegt, was das eigentlich ist. In Bezug auf die traditionelle Matriarchatsforschung wissen die Forscher zum Teil gar nicht, wie sie Matriarchate definieren sollen. Vielmehr beschreiben sie die Einzelheiten verschiedener Gesellschaften, aber sie definieren diese nicht. Dann ereignen sich Geschichten wie beispielsweise die folgende: Der Forscher Major Gurdon, Autor des Buches »The Khasis«, findet eine Gesellschaft vor, die er Matriarchat nennen möchte, in der Männer nicht unterdrückt werden, sondern auch ihre Rollen einnehmen, die sie mit Würde wahrnehmen. Deshalb schreibt er, dass dies kein Matriarchat sei. Ein paar Seiten weiter stellt er fest, dass die Männer dem Reisschnaps huldigen. Daraus schließt er messerscharf, dass die Männer vielleicht doch nicht solche Zukunftsperspektiven haben und vielleicht doch etwas unterdrückt werden. Also ist es ein Matriarchat. Dies offenbart eine Schwammigkeit in der Begriffsbestimmung, sodass sie nicht wissen, wie sie das richtig einordnen sollen. Das liegt unter anderem daran, dass sie von der althergebrachten Vorstellung ausgehen, dass Matriarchate Frauenherrschaften sein müssen und es Männern dort schlecht gehen muss. Diese Vorstellung zieht sich durch die gesamte traditionelle Matriarchatsforschung. Gerade diese Unklarheiten haben den vielen Vorurteilen Vorschub geleistet.
Nun war mein erstes Anliegen, anhand existierender matriarchaler Gesellschaften herauszufinden: Was ist das überhaupt? Wie sehen sie auf den verschiedenen Ebenen aus? Das Ergebnis sind egalitäre Gesellschaften, Geschlechterdemokratie und Matrilokalität, die den Müttern eine wichtige Position verleiht. Von der Rolle der Mütter, der prototypischen Mutter leiten sich die mütterlichen Werte ab, die diese Gesellschaften durchziehen. Diese Werte umfassen Pflegen und Nähren, perfekte Gegenseitigkeit, Konfliktlösung durch Verhandlung und miteinander Sprechen und vor allem Sicherung des Friedens. Von diesen mütterlichen Werten ist in der traditionellen Matriarchatsforschung nichts zu sehen, nichts zu hören. Außerdem bestehen vonseiten westlicher Forscher gegenüber diesen Gesellschaften viele Vorurteile.
Die politische Frage lautet: Welche Schlüsse ziehen wir aus diesem Wissen über matriarchale Gesellschaften? Was haben sie uns heute zu sagen? Die traditionelle Matriarchatsforschung stellte diese Frage nicht. Es war in der Regel eine von westlich-europäischen Männern betriebene Matriarchatsforschung, diese waren politisch nicht an dieser Fragestellung interessiert.
Aber wir befinden uns gegenwärtig in einer anderen Situation. Heute existieren starke Frauenbewegungen, und Frauen haben Fragen an die Gesellschaft: Welche Rolle nehmen wir als Frauen ein? Wie geht es auch für die Frauenzukunft weiter? In diesem Kontext bewegt sich die moderne Matriarchatsforschung. Sie hat auch vor, auf diese politischen Fragen Antworten zu geben. Dabei richten sich die Antworten nicht nur an Frauen, sondern an die gesamte Gesellschaft: Was ist mit unserer Ökonomie, der patriarchalen Ökonomie heute los? Was mit der Naturzerstörung? Diese Aspekte kennen matriarchale Gesellschaften nicht. Insofern kann man auch in diesen Bereichen politische Antworten und womöglich Anregungen aus der modernen Matriarchatsforschung liefern.
TV: Ich möchte eine Frage zu Ihrem ersten Buch stellen. Sie sagten bereits, dass es aktuell Gesellschaften gebe, die matriarchal leben und die Sie tiefgehend erforscht haben. In dem ersten Buch, das Sie herausgebracht haben, »Die Göttin und ihr Heros«, erforschten Sie Mythen und stellten fest, dass es dort viele Hinweise auf matriarchale Gesellschaften, auf die Rolle der Göttin und auch auf den Heros gibt. Könnten Sie bitte den Inhalt der Mythen und die spezielle Rolle des Heros erläutern? Es war mir neu, dass der Heros einen derartigen Tod erfährt, aber auch eine Wiedergeburt.
Göttner-Abendroth: Ich habe mich mit verschiedenen Autoren beschäftigt, zum Beispiel mit Johann Jakob Bachofen, der Mythen sozialhistorisch versteht, und Robert Ranke Graves, der die griechische Mythologie sozialhistorisch liest. Diese Forscher behaupteten, dass die Mythologie einen sozialhistorischen Kern habe. Sie spiegelt nicht genau die Realität ab, aber sie hat einen Kern. Dies hat mich sehr inspiriert, und ich bin der Frage nachgegangen.
Die Mythen, die ich in dem Buch analysierte, wurden aufgeschrieben, allerdings in patriarchaler Zeit – und dementsprechend verändert und in der Redaktion verzerrt. Deshalb begab ich mich auf die Suche nach der alten matriarchalen Schicht in den Mythen. Diese lässt sich auffinden. Ich arbeitete sie heraus und zeigte, dass diese matriarchale Schicht von einer Großen Göttin spricht, wobei sich diese Göttin nicht irgendwo oben im Himmel befindet als eine Art Göttermutter als Gegenpart zu unserem Vatergott, sondern dass sie im Grunde das Bild von der Welt ist. Diese stellten sich Mitglieder matriarchaler Gesellschaften als Himmel-Erde-Unterwelt vor, und deswegen ist die Große Göttin in Himmel, Erde und Unterwelt präsent. Es ist Teil ihres Weltbildes, die ganze Welt als immanent göttlich zu sehen, und zwar als weiblich-göttlich. Darin eingebettet ist natürlich die männliche Seite, aber das Bild des Heros ist ein spezielles, nämlich das Bild des heiligen Königs, der eine wichtige Rolle in den späten matriarchalen Stadtkulturen spielte – eine administrative Rolle im Zusammenspiel mit der wichtigsten Priesterin, welche die Göttin verkörperte. Ich wurde oft darauf angesprochen, ob im Matriarchalen die Frauen göttlich und die Männer lediglich sterblich waren. Aber man darf die Mythologie nicht mit der realen Sozialordnung verwechseln. In der Sozialordnung matriarchaler Gesellschaften spielen Männer eine wichtige Rolle. Das wiederum ist Mythologie und diese wurde in Zeremonien, in religiösen Riten verkörpert. Diese Vorstellungen sind ihr Weltbild und spiegeln nicht unbedingt ihr praktisches, zeitgemäßes Leben wider.
Der Hintergrund der Mythologie ist, dass die Welt als weiblich-göttlich verstanden wird und der Mensch darin eingebettet ist. Göttin und Heros stellen nicht Mann und Frau dar, sondern die ewige Natur, die weiblich ist. Der Heroskönig hingegen verkörpert die Seite der Menschheit. Und die Menschheit ist nun einmal gegenüber der ewigen Natur sterblich. Die Menschheit wird von der Natur, von der Göttin geschaffen. Jeder Mensch wächst auf, geht in den Tod und wird – nach matriarchalem Glauben – wiedergeboren. Deshalb verkörpert der Heros die Situation der Menschheit gegenüber der Göttin als der unsterblichen, immer wieder neu schaffenden Natur. Das ist keine Mann-Frau-Geschichte, sondern es sind die Natur und die Menschheit. Das haben sie in diesen beiden Gestalten, der Priesterin, die die Göttin verkörpert, und dem Heros, der den heiligen König und damit das Volk personifiziert, in ihren Zeremonien dargestellt.
Der Tod des Heroskönigs ist ein rituelles Muster, das tatsächlich in archaischen Kulturen des Öfteren vorkommt, von Asien über Europa bis Afrika. Dazu gibt es Forschungen. Der Heroskönig stirbt aber nicht jedes Jahr aufs Neue, ansonsten würden sie jedes Jahr eine sehr wichtige Person ihrer Kultur, auch eine sehr wichtige, männliche Aufgabe immer wieder auslöschen. Stattdessen ist es eine gelegentlich auftretende Situation, in den meisten Fällen eine symbolische Zeremonie, obwohl auch Hinweise darauf bestehen, dass es gelegentlich real vollzogen wurde. Das ist ein archaisches Muster. Dahinter steckt die Vorstellung, dass wenn die Erde, die Göttin, ständig Leben schenkt, dann schenken wir ihr auch ein Leben zurück, und zwar das beste, was wir haben, nämlich das Leben des heiligen Königs. Das ist ein wichtiger Gedanke, und der Gang des Heroskönigs oder sein Tod beruht auf seiner Freiwilligkeit. Das ist die Initiation zum Heroskönig. Mehrere männliche Individuen kamen infrage, aber man musste die Wahl nicht annehmen. Doch derjenige, der sie annahm und zum Heroskönig wurde, wusste, dass sein Gang in die Unterwelt oder sein Tod die rituelle Folge dieser Entscheidung ist und dann auch seine Wiedergeburt. Wir müssen diese beiden Kriterien im Auge behalten: Das Ritual beruht auf Freiwilligkeit und auf der tiefen Überzeugung, dass die Wiedergeburt des Heroskönigs sicher ist. Sonst verstehen wir das nicht und assoziieren grauslichen Vorstellungen wie Menschenopfer und so weiter. Wir müssen das aus der Gedankenwelt der matriarchalen Gesellschaften selbst verstehen, dann werden wir der Sache eher gerecht.
TV: Viele Märchen und Mythen existieren, in denen der Gang eines Helden in die Unterwelt thematisiert wird. Da kann man an Orpheus, der auch in die Unterwelt geht, und Eurydike denken – ein Bild, das in vielen Kulturen in bestimmten Mythen überliefert wird.
Göttner-Abendroth: Dieses Bild zeigt sich auch in Märchen, in denen der Held in die Unterwelt geschickt wird und dort seine Erfahrungen macht. Infolgedessen wird er weise, denn die Weisheit kommt aus der Tiefe der Unterwelt. Der Held, der dann wiederkehrt, wird rehabilitiert und dann – wie gesagt – auch heiliger König. In anderen Märchen steigt ein weibliches Wesen in die Unterwelt hinab, zum Beispiel bei »Frau Holle«. In diesem Märchen gelangt die Goldmarie durch den Brunnen – als Todessymbol – in die Unterwelt zu Frau Holle. Sie erfährt dort die magischen Künste, die ihr Frau Holle als Göttin schenkt. Als sie wiederkehrt, verfügt sie über dieses magische Wissen und wird die Priesterin der Frau Holle. Es handelt sich also um eine Initiationsreise mit dem Ziel, die Priesterin der Göttin zu werden. Märchen, in denen ein Prinz oder ein junger Mann eine Unterweltsreise antritt, handeln oft davon, dass er hinterher in der Rehabilitation die Erbprinzessin freit und der heilige König an ihrer Seite wird. Die Märchen spiegeln es in der Tat.
TV: Kann man sagen, dass Märchen und Mythen eine gewisse Wahrheit beinhalten und ein ursprüngliches Gesellschaftsmodell oder eine Spiritualität beschreiben?
Göttner-Abendroth: Märchen haben sich bei uns durch die Jahrhunderte, vielleicht sogar durch ein Jahrtausend als mündliche Traditionen erhalten. Sie sind im Grunde verkappte Mythen. Als sie später, in der Romantik, verschriftlicht wurden, wurden sie etwas verzerrt und verniedlicht. Aber man kann anhand der vielen internationalen Varianten von Märchen herausfinden, dass es alte Mythen sind, die genau dieses Muster enthalten. Diese Muster spiegeln beispielsweise auch die uns als Mythologien bekannten Geschichten aus dem alten Griechenland. Hinter den Mythen steckt ein wahrer Kern, das hat uns die Ethnologie gezeigt. Zum Beispiel belegte der Forscher James Frazer, dass das Muster des heiligen Königs ethnologisch nachweislich in vielen alten archaischen Kulturen zu finden ist. Es ist möglich, den Kern der Sache, der realen Sache, zu greifen, sodass wir Mythen und Märchen anders lesen können als nur als fantasievolle Geschichten.
»Es ist möglich, den Kern der Sache, der realen Sache, zu greifen, sodass wir Mythen und Märchen anders lesen können als nur als fantasievolle Geschichten.«
TV: Ich würde gern diese spirituelle Dimension mit Ihnen weiter untersuchen. Sie grenzen sich in Ihrer Arbeit von feministisch-christlichen Theologien ab und sagen, dass es eine eigene spirituelle Arbeit ist als Teil einer neuen Frauenkultur. So las ich es in »Die Göttin und ihr Heros«. Aber Sie schreiben von dieser spirituellen Arbeit in Ihrem wissenschaftlichen Werk. Wissenschaft und Spiritualität werden zusammengeführt. Wie können wir mit diesem Wissen von sakralen Gesellschaften wissenschaftlich arbeiten? Wie gehören die beiden Welten zusammen, Spiritualität und Wissenschaft?
Göttner-Abendroth: Ich erforschte als Wissenschaftlerin zunächst, was diese Kulturen denken, wie sie sich die Welt vorstellen, welches Bild sie von Frau und Mann haben. Das kann man als Wissenschaftlerin problemlos erforschen, wie es auch ReligionswissenschaftlerInnen überall tun. Sie erforschen die Religion anderer Völker, ohne selbst die Religion anzunehmen. So fing ich an, als Wissenschaftlerin. Doch ich stellte fest, dass matriarchale Kulturen im Grunde auf allen Ebenen sakraler Natur sind. Auch ihre Ökonomie verstehen sie demnach nicht als ökonomisches System, sondern als spirituelles, das Mutter Natur folgt. Mutter Natur gibt allen ihren Kindern gleich, also wäre es für sie ein Sakrileg, wenn man die Güter infolge nicht gleich verteilt. Das ist ein spirituelles Prinzip. Ich stellte immer mehr fest, dass diese Gesellschaften insgesamt auf spirituellen Prinzipien beruhen, in denen Mutter Erde oder die Mutter als prototypisches Wesen unter den Menschen nach dem Prinzip der Egalität gleich verteilt.
Dies beeindruckte mich als Person sehr und inspirierte mich, insbesondere die Mythen, sodass ich im Rahmen der Frauenkulturbewegung begann, spirituelle Formen wiederzubeleben, die ich als matriarchal bezeichne. Wir nennen das die matriarchalen Mysterienfeste. Das sind keine mysteriösen Geheimkulte, sondern darin versuchen wir, im Einklang mit dem Jahreszeitenzyklus die Erscheinungen der Jahreszeiten zu feiern, die ewige Kreativität der Erde, und auch wie sie sich im Winter transformiert, bis das Leben wiederkehrt. Auch die Mysterien des Lebens wie Geburt, Wachstum, Tod und Wiederkehr, die in diesem Jahreszeitenzyklus inbegriffen sind, feiern wir seit einigen Jahrzehnten in der Akademie Hagia mit Frauen, die das gern feiern möchten, weil ich denke, dass hier ein Teil einer alten Frauenspiritualität wiedergewonnen wird.
Die späteren Religionen, also die früh-patriarchalen mit den herrschenden Vatergöttern inklusive des Christentums, des Islams und so weiter, beruhen auf einer patriarchalen Vorstellung, auch von Frau und Mann. Mann und Gott sind immer die Herrschenden, und die Frau dient dazu. Das befriedigte mich und viele weitere Frauen nicht mehr, sodass wir auf die Göttin-Spiritualität zurückgriffen, um andere Bilder und spirituelle Zusammenhänge für Frauen zu schaffen. Heute bin ich mittlerweile an dem Punkt angekommen, dass diese Spiritualität nicht nur für Frauen gilt, sondern für Frauen und Männer. Welcher Mann konzipiert sich heute noch als der Herrschende, der von oben herab alles kommandiert? Auch Männer suchen eine Spiritualität, die sie stärker in das große Netz der Natur einbindet, und das finden wir in der matriarchalen Spiritualität. Denn das Netz der Natur, wo alles miteinander verbunden ist, schließt sowohl Frauen und Männer als auch Tiere und Pflanzen und alles andere ein. Das versuchen wir, in unseren Mysterienfesten zu gestalten.
TV: Wie fließt Ihre spirituelle Arbeit in Ihre wissenschaftliche Forschung ein?
Göttner-Abendroth: Erst einmal nicht, sondern Spiritualität und Wissenschaft und Politik sind drei verschiedene Gebiete, die ich nicht miteinander vermische. Dies wird mir zwar vorgeworfen, aber ich tue es nicht. Das sieht man zum Beispiel an meinen wissenschaftlichen Werken, die ich beim Kohlhammer-Verlag in mehreren Bänden herausgebe. Das ist Wissenschaft. Meine politische Arbeit ist davon getrennt, und die spirituelle ist eine praktische Arbeit. Letztere bringt mir aber einen Vorteil: Wenn wir uns mehr und mehr in die Symbole und Zeremonien matriarchaler Kulturen hineingedacht und -gearbeitet haben, hilft es mir, die Spiritualität matriarchaler Gesellschaften, in die ich nicht hineingeboren bin, besser zu verstehen. Denn ich beobachte immer wieder, dass Forscher über die Rituale dieser Gesellschaften dicke Bücher schreiben. Aber ich denke mir, dass sie es letzten Endes nicht verstehen. Was nutzen all die Einzelheiten der Rituale, wenn das verbindende Band fehlt? Die Erfahrung mit matriarchaler Spiritualität hat mir geholfen, die Spiritualität dieser anderen Gesellschaften besser zu verstehen, soweit ich das als Europäerin kann. Aber jedenfalls besser zu verstehen. Ich habe heute auch Freundinnen und Freunde aus vielen matriarchalen Kulturen, die ich durch die Weltkongresse zusammengebracht habe. Diese bestätigen mir in gewisser Weise, dass ich sie gut verstehe, soweit es mir möglich ist. Das freut mich sehr.
TV: Es ist interessant, dass Sie über die matriarchale Spiritualität im Gegensatz zu einer patriarchalen Religion gesprochen haben. Gleichzeitig distanzieren Sie sich und kritisieren in Ihren Werken diese neu gepriesene, durchgängig positiv konnotierte Weiblichkeit des New Age, also das weibliche Denken oder das weibliche Wesen mit der Intuition. In der Tattva Viveka wurden bereits mehrere Artikel diesbezüglich veröffentlicht. Doch ich empfinde es als erfrischend, dass Sie eine andere Perspektive dazu einnehmen. Möchten Sie uns Ihre Position darlegen?
Göttner-Abendroth: Das mache ich sehr gern, es ist nämlich eine spannende Frage. Wissen Sie, wann immer das weibliche Denken und Fühlen und Schreiben und die weibliche Ästhetik angesprochen werden, frage ich kritisch nach: Was ist denn hier das Weibliche? Das müsste zuallererst definiert werden. Daraufhin kommen Definitionen wie intuitiv, gefühlsmäßig usw. Ich fühle mich dann gelangweilt, denn das sind lauter Klischees, die im Grunde aus unserer patriarchalen Kultur stammen. Der Verstand und die Logik landen beim Männlichen, und das Emotionale und sonst noch was wird dem Weiblichen, den Frauen zugeschrieben. Das sind auf der einen Seite Wesensdefinitionen der Frau und auf der anderen Seite Wesensdefinitionen des Mannes. Doch Wesensdefinitionen sind immer – ich formuliere das ziemlich krass – falsch, denn sie werden abhängig von der Reflexion getroffen, aus welcher Kultur und aus welcher Zeit sie stammen. Wenn ich mir heute die Wesensdefinitionen der Frau anhöre, so stammen sie alle aus unserer patriarchalen Gesellschaft, und darum sind sie von vornherein »schief«. Es liegen zuhauf Definitionen in der patriarchalen Philosophie vor, was das Weibliche und das Männliche sei. Was Frauen oder Männer sind oder was sie ausmacht, kann man vielmehr nur auf dem Boden bestimmter Gesellschaften zu bestimmten geschichtlichen Zeiten erfassen. Darum rede ich nicht von dem Weiblichen und dem Männlichen, sondern von Frauen und Männern in bestimmten Gesellschaften zu bestimmten Zeiten. Wir würden heute auch ablehnen, dass Männer – was auch manch eine extreme Position aus feministischer Seite sagt – aggressiv und herrschend seien, gern unterdrücken und immer recht hätten. Das ist so aggressiv, als wenn Frauen ständig als die Inferioren oder die Emotionalen oder sonst was beschrieben werden, oder? Wir müssen fragen: Wie verhalten sich Männer und Frauen in unserer Gesellschaft heute und warum? Wie verhalten sich Frauen und Männer in matriarchalen Gesellschaften und warum ist das dort anders? Wir können nur auf dem Boden von Gesellschaften sagen, wie Frauen und Männer sich verhalten, denn die Werte, die eine Gesellschaft hat, prägen sowohl die Frauen als auch die Männer. Ich betone deswegen, dass im Matriarchat matriarchale Männer und matriarchale Frauen leben, die ein anderes Verhalten an den Tag legen als bei uns patriarchale Männer und patriarchalisierte Frauen.
Daran erkennt man, wie stark die Gesellschaft prägt. Klischees von dem grundsätzlich Weiblichen und grundsätzlich Männlichen lehne ich aus diesem Grund ab. Ich bin Geschichtsforscherin und Gesellschaftsforscherin.
TV: Können Sie uns noch etwas zu Ihrer wissenschaftlichen Methode sagen. Welche Methoden verwenden Sie?
Göttner-Abendroth: Wie gelange ich überhaupt zu meinen Erkenntnissen? Ich fing mit der Mythenanalyse an, weil mich das faszinierte. Aber ich merkte, dass ich auf Basis der Mythenanalyse allein nicht feststellen konnte, wie die Menschen praktisch in ihren Gesellschaften lebten, wie sie Politik machten, wie sie feierten, wie sie Konflikte lösten – das geht nicht aus der Mythologie hervor. Ich wollte aber unbedingt die ganze Gesellschaft erforschen, nicht nur ihre mythologische Kultur, ihr mythologisches Weltbild. Dann warf ich einen Blick auf die Archäologie, doch kam zu dem Schluss, aus den Resten von Grabfunden, Fundamenten oder Artefakten keine ganze Gesellschaftsordnung erschließen zu können. Da gelangte ich an eine Grenze. Dies führte dazu, dass ich mich tief in die Ethnologie einarbeitete und mich mit Gesellschaften beschäftigte, die in der Ethnologie als matrilinear beschrieben werden. Aber sie sind weitaus mehr, sie sind matriarchal, weil die Frauen auch die Flinte in der Hand haben. In den bestehenden Beispielen in Afrika, Asien und Amerika fand ich diese Gesellschaften. Ich versuchte, ihre Grundstruktur zu erfassen, die ich in einer Definition festhielt. Das war eine langwierige Arbeit, die die Weltkongresse mit sich brachten, zu denen ich Männer und Frauen aus diesen Kulturen einlud, wo sie wirklich zu hören und zu sehen waren. Dieses Hintergrundwissen – wie sie in lebendigen Beispielen funktionieren und auf allen Ebenen, politisch, sozial, weltanschaulich und ökonomisch – führt mich zu meiner Frage zurück, wann das in der Geschichte gewesen sei, wie es sich entwickelt und warum es sich verändert habe. Das Hintergrundwissen über matriarchale Gesellschaften führt mich zur Kulturgeschichte zurück. Es gibt mir die Möglichkeit, vieles, was Archäologen finden, aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und aus diesem heraus zu interpretieren, als es dort passiert. Das ist ungefähr meine methodische Vorgehensweise.
Ich verlasse mich dabei immer auf das Reale und vermeide Spekulationen. Denn zu dem Thema wurden genug Spekulationen angestellt, und das ist alles so frustrierend. Bei den Ethnologen verließ ich mich auf deren Befunde, doch fügte diese zusammen, da sie sehr »zersplittert« waren. Bei den Archäologen verlasse ich mich auf ihre Bodenfunde, wobei diese sehr wichtig sind, denn was wir sagen, muss belegt werden. Nur die Interpretationen sind manchmal schwierig, denn Archäologen sind keine Ethnologen und selten Kulturwissenschaftler. Sie haben daher nicht viel Kenntnis über die möglichen Lebens- und Gesellschaftsformen, die in der menschlichen Vielfalt bestehen. Unbewusst interpretieren sie vor dem Hintergrund der Lebensform, aus der sie kommen, und das ist unser heutiges Patriarchat. Diese Lebensform prägt ihre Interpretation. Das kann man kritisieren und somit ein anderes Bild der Geschichte gewinnen.
TV: Sie sind ideologiekritisch eingestellt und sagen, dass eine objektive Position außerhalb der Geschichte und außerhalb der Gesellschaft nicht möglich sei. Zudem sei es nicht möglich, dass man wie von oben draufschaue, wie es mal gewesen sei. Wahrscheinlicher sei es, dass man sich auf diese Weise eher irgendetwas idealistisch ausmale, oder dass man meint, die Interpretationen, die man als Wissenschaftler macht, seien von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen und den jeweiligen eigenen Erfahrungen vollkommen losgelöst. Welche subjektive Position vertreten Sie und wie reflektiert man als WissenschaftlerIn die eigene subjektive Position?
Göttner-Abendroth: Richtig, diese muss man reflektieren, wenn man redlich Wissenschaft betreiben möchte. Die herkömmliche Wissenschaft, die ich zum Teil »patriarchal geprägt« nenne, setzt Ergebnisse so hin und reflektiert den eigenen Hintergrund nicht. Das können Sie überall sehen. Vieles wird als die pure Wahrheit hingestellt, dabei ist jede Wissenschaft in die Gesellschaft eingebunden. Jede.
»Vieles wird als die pure Wahrheit hingestellt, dabei ist jede Wissenschaft in die Gesellschaft eingebunden. Jede.«
Das wird im Allgemeinen noch geleugnet. Man tut so, als sei das die absolute Wahrheit, die es aber in dem Sinne nicht gibt. Das wird, auch durch die feministische Forschung, kritisiert und das kritisiere ich auch, wobei wir Folgendes unterscheiden müssen:
Welche Fragestellung ich habe, welche Themen mich interessieren, das ist natürlich subjektiv, nicht? Ich interessiere mich für matriarchale Gesellschaften, weil ich eine Frau bin. Aber das reicht nicht aus. Wenn ich anfange zu forschen, muss ich Methoden vorlegen, die mit den Gegebenheiten harmonieren. Wenn ich beispielsweise aus ethnologischer Perspektive matriarchale Gesellschaften erforsche, muss ich mich mit diesen Gesellschaften auseinandersetzen. In diesem Rahmen erlebe ich auch meine eigenen patriarchalen Vorurteile, die ich aber im Gespräch mit Menschen aus diesen Kulturen ablegen muss, denn dabei hat man ein Gegenüber. Vor allem durch das Gespräch mit Menschen aus diesen Kulturen kann ich sehen, wie viele patriarchale Vorurteile Ethnologen verinnerlicht haben, denn viele Forschungsergebnisse stammen aus kolonialen Zeiten. Wenn Ethnologen vor Ort sind und im Rahmen einer matriarchalen Gesellschaftsstudie Männer befragen und dies als das Ganze der Gesellschaft ausgeben, sieht man deutlich, von welchen Vorurteilen sie geprägt sind. Zudem existieren subtile Vorurteile, erkennbar in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, im Fall lebender Gesellschaften mit den Männern und Frauen aus diesen Kulturen, mit denen ich in Kontakt bin. In der Geschichte ist das schwieriger, aber es bestehen typisch patriarchale Vorurteile, die man in der Archäologie wiederfindet. So wird ständig der Mann als das herrschende Geschlecht dargestellt, auch wenn keine Belege dafür vorliegen. Oder wenn man bei jungsteinzeitlichen Siedlern irgendein größeres Haus findet, wird es sofort als das Haus des Häuptlings interpretiert, und das ist natürlich der herrschende Mann. Das ist ein Vorurteil, denn genauere Studien von Archäologen und Archäologinnen ergaben, dass es sich um Versammlungshäuser der Gemeinschaft handelt.
»Allein dieser übliche Blick, dass der Mann immer das herrschende Geschlecht ist und es immer Krieg und Konflikt in der Geschichte gab, ist eine Ideologie, die man leicht erkennt, weil dafür keine Belege vorliegen.«
Allein dieser übliche Blick, dass der Mann immer das herrschende Geschlecht ist und es immer Krieg und Konflikt in der Geschichte gab, ist eine Ideologie, die man leicht erkennt, weil dafür keine Belege vorliegen. Da fangen Archäologen an, zwischen den Zeilen zu spekulieren. Wenn ich die Meinung vertrete, dass es anders gewesen sein muss, denn es kann da und dort vielleicht matriarchale Gesellschaften mit Mutterlinie und den weiteren Merkmalen gegeben haben, muss ich dafür Belege suchen – und die gibt es durchaus.
Aber ich verstehe diese Belege eben anders. Beispielsweise gibt es viele weibliche Doppelfiguren in Westasien und auch Südeuropa und überall, mit denen Archäologen nichts anfangen konnten. Deshalb sagen manche, dass diese Mutter und Tochter seien. Da wird man doch stutzig. Gesellschaftsgefüge bestehen nicht nur aus Müttern und Töchtern, sondern auch aus Söhnen und Brüdern und so weiter. Wieso sollen diese weiblichen Doppelfiguren ausgerechnet Mutter und Tochter sein? Also individuell bedeuten sie das nicht, aber wenn sie so oft vorkommen, tragen sie womöglich einen allgemeinen, gesellschaftlichen Sinn in sich. Dies brachte mich auf die Idee, dass sie die Mutterlinie bedeuten könnten, denn diese verläuft natürlich von Mutter zu Tochter, aber sie betrifft nicht einfach nur eine individuelle Mutter mit einer individuellen Tochter, sondern trägt eine allgemeine Bedeutung für diese Gesellschaft. Das zeigt, dass ich das anders und weitergehend vor dem Hintergrund meines Wissens über matriarchale Gesellschaften interpretiere. Ich denke, dass dies Belege für die Mutterlinie in der Geschichte sein könnten.
Diese Interpretation gab es bisher nicht. Dass sie »nur« Mutter und Tochter darstellen, empfinde ich als banal. Es bedeutet mehr, wenn sie derart oft vorkommen. Wir finden dieses Motiv auch in der Mythologie vor, beispielsweise bei Demeter und ihrer Tochter Persephone, und zwar in einer hoch geladenen Bedeutung. Dem könnten die kleinen Artefakte, die so oft gefunden wurden, entsprechen.
Ein anderes Beispiel sind Tausende von kleinen Figuren, die in der Archäologie Idole heißen. Sie sind zu 98 % weiblich. Man hat sie bisher in den Museen weitestgehend ignoriert. Die Archäologin Marija Gimbutas grub sie aus, entzifferte sie, versuchte sie zu verstehen und interpretierte sie natürlich aus einem gewissen matriarchalen Weltbild heraus. Das sagt doch etwas aus! Wenn in so und so vielen geschichtlichen Kulturen massenhaft diese weiblichen Figuren auftauchen und wenn sich das mindestens über Jahrhunderte erstreckt, oder sogar über ein Jahrtausend, dann muss man interpretieren – doch bisher wurde das nicht getan. Gimbutas hat damit angefangen, das als weibliche Ausdrucksformen zu interpretieren. Sie hat sie sogar Göttinnen genannt, die das Leben schenken, das Leben nehmen, das Leben transformieren und uns wiederkehren lassen. Sie äußert also eine mögliche Interpretation. Keine Interpretation ist immer gar nichts, so war es bisher.
TV: Wir formulieren das generell, man muss die Phänomene immer interpretieren. Es bleibt nur die Frage, mit welchem Frame, welchem Schema man das interpretiert.
Göttner-Abendroth: Ja, was ist der Maßstab? Wenn dann von manchen Archäologen derart profane Deutungen vorgeschlagen werden wie diese Püppchen seien Kinderspielzeug oder sogar Sexspielzeug für Männer, so ist das ziemlich banal. Und das entspringt unserer eigenen Kultur! Ich meine, die Figuren zeigen stark betont weibliche Merkmale und sollen deshalb Sexspielzeug gewesen sein. Wir wissen doch gar nicht, ob jungsteinzeitliche Menschen Sexspielzeug gebraucht haben. Wenn man nicht nur die Figuren, sondern auch die Tempelformationen, die als weibliche Körper gestaltet sind, ernst nimmt, dann sieht das ein bisschen anders aus. Da muss man wahrscheinlich zugeben, dass diese Kulturen stark weiblich beziehungsweise matriarchal geprägt waren. Dazu ist aber Hintergrundwissen aus matriarchalen Gesellschaften vonnöten. Das Hintergrundwissen über lebende matriarchale Gesellschaften umfasst zum Teil auch Vergleiche und Belege, damit wir nicht spekulieren.
Im zweiten Teil sprechen wir über die politischen Aspekte des Patriarchats, über Herrschaftskritik, den Unterschied zwischen Politik, Wissenschaft und Spiritualität und wie das in einem matriarchalen Paradigma verbunden werden kann. Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe Nr. 88, die sich dem Matriarchat und der Matriarchatsforschung als Schwerpunktthema widmen wird. Seid gespannt!
Zur Autorin
Heide Göttner-Abendroth ist Mutter und Großmutter. Sie erwarb ihren Doktortitel an der Universität München, wo sie zehn Jahre Philosophie und Wissenschaftstheorie lehrte. Durch ihre lebenslange Forschungsarbeit und ihr Hauptwerk Das Matriarchat wurde sie zur Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung. Sie war Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten (Bremen, Hamburg, Kassel), 1980 Gastprofessorin in Montréal, 1992 Gastprofessorin in Innsbruck. 1986 Gründung und Leitung der »Internationalen Akademie HAGIA für Matriarchatsforschung«. Leitung der drei Weltkongresse für Matriarchatsforschung. Im Jahr 2012 erhielt sie für ihre Forschung einen Award von der »Association of Women & Mythology«. Sie wurde zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. www.goettner-abendroth.de
www.hagia.de
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Ein Archetypus wird wiederentdeckt
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