Die Stimme der Sirene

Von weiblicher Stimmgewalt & Stimm(ehr)furcht

Autorin: Saskia Baumgart

Die Autorin wirft einen unvoreingenommenen Blick auf den Mythos der Sirenen, ihre Stimmkraft und ihr unbekanntes Reich zwischen Himmel und Erde, in dem wir den Flow und die Inspiration erleben können. Es ist eine Weisheit, die im Zuge des Patriarchats und der Naturbeherrschung fast verloren ging. Durch Gesang und Musik kann Heilung erfolgen, und mit den Sirenen können wir in das ozeanische Gefühl des Lebendigen eintreten.

Etwas ist mit ihr … So viele Verbote, Vorschriften, Regeln und Gesetze, die weltweit existieren, sich um sie ranken, wie ein Zaun, der ein wildes Tier bändigt. Ebenso groß muss die existierende Angst sein, die als unbestimmte Furcht zu solchen Maßnahmen anhält, kulturübergreifend, durch die Jahrtausende hindurch.

Verbote für Frauen

Noch heute dürfen Frauen nicht nur ihr Haar nicht zeigen, sondern ebenso ihre Stimme, wenn sie eine russisch-orthodoxe Kirche betreten, was mich bei einer Reise durch Sibirien im Jahre 2018 schockiert hat. Sie tragen ein Kopftuch und haben zu schweigen. Solange sie ihre Stimme nicht erheben, dürfen sie sich dort gerne engagieren, für die ganze Gemeinde. Das ist der Deal. Ebenso ist es immer noch verboten, dass Frauen in jüdischen Synagogen singen. Im Iran und in vielen anderen Ländern ist es, bei Androhung härtester Strafen, den Frauen verboten, öffentlich zu singen. Sängerinnen müssen das Land verlassen, wenn sie ihre Kunst zeigen und damit Schönheit und kulturellen Reichtum teilen wollen. Ein Teil der uralten Sanges-Kultur, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde, ist gezwungen, zu schweigen, unterzugehen oder hohe Risiken einzugehen, die lebensvernichtend sein können. 

Der Gesang der weiblichen Stimme könnte den Mann zu sehr erregen!

Eine der Regeln lautet, dass die Frau nach der Verheiratung nicht einmal mehr zu privaten Zwecken singen darf, selbst innerhalb der eigenen vier Wände ist es verboten, zum Beispiel als Schlaflied für die Kinder. Der Grund, der hierfür angegeben wird: »Der Gesang der weiblichen Stimme könnte den Mann zu sehr erregen!« In dieser Aussage verbirgt sich nicht nur die Einschätzung der weiblichen Stimme als Bedrohung und Gefahr für den Mann, sondern auch die Einschätzung des Mannes als hilflos und schwach ihr gegenüber, geradezu ihrer unbestimmten unheimlichen Macht unterlegen. 

Die Angst des Odysseus

Da diese Gesetze von Männern gemacht sind, kann man hier von einer erstaunlichen Selbsteinschätzung sprechen. In alten Mythen und Sagen, zum Beispiel von Odysseus und den Sirenen im griechisch-antiken Raum oder der Loreley als bekanntester Sirene aus dem deutschen Legendenschatz, wird ihr Einfluss als so gefährlich beschrieben, dass die Schiffer auf dem Wasser größte Sorge haben müssen, um nicht ihr Leben zu verlieren. Denn es heißt, dass die Verlockung und damit die Gefahr des wunderschönen Gesanges dieser Wasserwesen darin besteht, die Sinne des Mannes bewusst zu vernebeln, sodass er sich darin verliert und die drohenden Gefahren im Wasser wie Stromschnellen und gefährliche Wirbel übersieht. Es heißt, er bezahlt dafür mit seinem Leben und dem seiner Mannschaft. Diese Art von Kontrollverlust wird als höchste Gefahr betrachtet und muss dementsprechend eingegrenzt und um jeden Preis ausgeschlossen werden. 

Im Falle von Odysseus verläuft es so, dass er sich an einen Pfahl binden lässt, mit dem Befehl an seine Männer, ihn auch dann nicht loszubinden, wenn er danach verlangt, während sie mit dem Schiff an der Insel der gefährlichen Sirenen vorbeisegeln. Da er der Mannschaft befiehlt, sich die Ohren mit Wachs zu verschließen, ist er der Einzige, der den betörenden Gesang der Sirenen hören kann. Es sind verzaubernd wirkende Klänge von mystischen Wesen, die dem Wasser angehören. Er ist so entrückt unter dem Bann dieser Stimmen, dass er seiner Mannschaft augenblicklich befiehlt, ihn loszubinden, damit er zu der Insel hinüberschwimmen kann. Diese aber weigert sich, wie zuvor vereinbart, und gehorcht damit seinem ersten Befehl. Damit geht diese Geschichte vermeintlich gut aus. Die Gefahr ist gebannt, und das Schiff kann auf seiner Reise durch das Mittelmeer weiterziehen, von Insel zu Insel und von Abenteuer zu Abenteuer. 

Saskia in ihrem Element

Neben dem unwiderstehlichen Gesang und seiner Wirkung ist ein weiterer Reiz der Sirenen, dass sie – wie die Sphinx aus Ägypten – allwissend sind und damit die Zukunft voraussagen können, was sehr attraktiv ist für einen Abenteurer und Weltumsegler wie Odysseus. Umso interessanter ist es, dass er sich hiervon angezogen und gleichzeitig bedroht fühlt. Offenbar wähnt er sich als unterlegen angesichts dieser Kräfte und ihrer Weisheitsmacht. Nach all den Gefahren, Kämpfen und Verlusten, die er auf seinen Reisen über das Meer bestanden hat, gibt es diese eine Versuchung und Herausforderung, der er sich nicht gewachsen fühlt. Er weicht ihr aus, auch wenn die Anziehung mehr als stark, ja übermächtig ist. Hier fühlt er sich zu schwach und entscheidet, sich vor sich selbst zu schützen. Dasselbe tut er für seine Matrosen.

Der Mythos der Sirenen

Laut Legende sind die machtvollen singenden und halbmenschlichen Fabelwesen, Sirenen genannt, Töchter von Gaia, der Erdmutter, und dem Meeresgott. Andere Quellen geben sie als Töchter der Musen an, der Schirmherrinnen der Künste und des Schöngeistes. Sie gelten als sinnlich anziehende Wesen, halb Frau, halb Wasserwesen, mit Fischschwanz ausgestattet, mitunter auch geflügelt, widerständig gegenüber der Ehe und frei in ihrem Liebesleben

Diese unabhängigen weiblichen Wesen wurden dämonisiert, abgewertet, schuldig gesprochen und zum personifizierten Bösen erklärt.

Auch daher rührte die gesellschaftliche Zuschreibung als Gefahr für die Moral und Unversehrtheit des Mannes innerhalb der Gesellschaftsordnung des Patriarchats, in dem solche Freiheiten nur den Männern zustanden. Wie in anderen berühmten Fällen der menschlichen Historie wurden diese unabhängigen weiblichen Wesen dämonisiert, abgewertet, schuldig gesprochen und zum personifizierten Bösen erklärt, vor dem man(n) sich hüten muss. 

Die Verbindung von Weiblichkeit und ihrer natürlichen Anziehungskraft, eine Art des weiblichen Magnetismus und seiner Gefahren, besonders falls nicht durch männliche Gesetze reglementiert, wird hier als tief implementierte Grundangst deutlich. Die Warnung der Botschaft an den Mann erscheint deutlich: »Hüte dich, daher lasse dich nicht in die tieferen weiblichen Gewässer ziehen, es könnte dich zerstören.« 

Wasser, Seele, Flow

Interessant ist, dass Wasser in verschiedenen Kulturkreisen und Traditionen als Symbol für die Gewässer des Lebens und gleichzeitig für die Seele steht, die Anima und deren schöpferische Kräfte. Was ihr entspringt, sind unter anderem Poesie, Fantasie und Weisheit. Fruchtbarkeit und Fülle hängen davon ab, wie diese Gewässer in uns und um uns fließen, wie wir »im Fluss« sind. Sind wir nicht im »Flow«, stagnieren wir und fühlen uns zunehmend bedrückt, eingeengt, leblos. Lustlosigkeit bis zur Depression und zu mangelndem Lebensmut können dem folgen. Hier kann uns die Inspiration der Muse helfen, uns plötzlich und unvorhergesehen küssen und damit wiedererwecken – zum Leben. 

Diese Musenkraft, von der Dichter und Denker durch alle Zeiten hindurch berichten, ja schwärmen, ist zutiefst weiblich besetzt. Viele Maler, Komponisten und Schriftsteller erzählen in ihren Werken, wie diese Gestalt der Muse ihnen erscheint. Ein weibliches Wesen, das aus einer Anderswelt zu stammen scheint, halbdurchlässig, halb Frau, halb mythische Erscheinung. Sie beschreiben diesen besonderen Moment, der sich der weltlichen Sphäre entzieht und doch mit ihr verbunden ist, als einen, der höchste Eingebung fördert sowie zu plötzlichen Geistesblitzen und Lösungen verhilft. Dies sind die kreativen Sternstunden, von denen die Evolution der Menschheit für geistige Weiterentwicklung und Innovation abhängt. Hier sprudelt schöpferische Kraft. Gleichzeitig wird sie als ein unheimlicher Moment mit machtvoller Präsenz gefürchtet. Es ist die Furcht vor dem Mysterium, dem Numinosen. 

Das Große Ganze in seiner Ungreifbarkeit offenbart uns hier einen Blick auf sich, gewährt einen Abglanz und entzieht sich doch der Kontrolle des Verstandes, der sich nur demütig neigen kann in Akzeptanz der eigenen Begrenzung. Angst vor der berühmten ozeanischen Selbstentgrenzung kann dabei aufkommen, die rationaler Kontrolle diametral gegenübersteht, sie bestenfalls ausgleicht und komplementär ergänzt. Entscheidend ist hierbei, ob wir mit unserer Anima, den Wassern der Seele, verbunden sind und damit unter ihrem Ein-Fluss wirken. 

Der »Flow«, erforscht von dem ungarisch-amerikanischen Psychologen Csikszentmihalyi, gilt als idealer Zustand, in dem wir wach und entspannt, kreativ-produktiv tätig sind, ohne jegliches Gefühl von Anstrengung oder Erschöpfung. Wir verspüren ein tiefes Angebundensein im inspirativen schöpferischen Sinne, das spirituelle Wahrnehmung und tiefe philosophische Erkenntnisse hervorbringen kann. Gleichzeitig sind wir frei und freudig in unserer Tätigkeit wie ein Kind, das sich unbeschwert seinem Spiel hingibt. Ein innerer Raum von gefühlter höchster Sinngebung und Befriedigung. Hier vergisst Mensch Raum und Zeit, erhebt sich subjektiv über objektive Begrenzungen und erlebt hier eine Wirklichkeit, die merkwürdig real zu sein scheint, sogar realer als vieles, was uns alltäglich begegnet. Ein Zustand, den viele Menschen oft vermissen und häufig in ihrem Leben ersehnen. Hier ist die Verbindung zum Lebensquell deutlich, als innerer Taktgeber und Motivator. Wenn dieser Quell sprudelt, fühlen wir uns lebendig und begeisterungsfähig, verspüren Lebenslust, den Wunsch und die Kraft, um die Wellen unseres Lebens zu reiten.

Die weibliche Kraft

Was hat dieses Angebundensein an die Energie und Schöpferkraft des Lebens mit den Sirenen und der weiblichen Stimme zu tun? Im Hinduismus Indiens wird diese Kraft »Shakti« genannt und entspricht dem weiblichen Aspekt des Göttlichen, der uns mit genau dieser Energie ausstattet. Sie erscheint zum Beispiel als »Sarasvati«, die Göttin der Künste und Wissenschaft. Die weibliche Stimme scheint direkt mit dieser kraftvollen Repräsentanz in Verbindung zu stehen und an diese Wellenbewegung des Kommens und Gehens zu erinnern, den Kreislauf des Lebens, zwischen Geburt, Tod und Wiedergeburt. Wenn wir uns eins fühlen mit dieser fundamentalen Bewegung, lebt es sich leicht. Im Widerstand zu dieser Welle kann das Dasein zur Qual werden. Im Widerstand befindet sich meist das Ego, das nicht ausreichend mit der Weisheit der Anima kommuniziert und dieser vertraut, da es auf Kontrolle setzt. 

Wenn wir uns eins fühlen mit dieser fundamentalen Bewegung, lebt es sich leicht. Im Widerstand zu dieser Welle kann das Dasein zur Qual werden.

Die Anima gilt, nach Carl Gustav Jung, als unser innerer weiblicher Part, über den jeder Mensch verfügt, der Counterpart zum Animus, ihrem männlichen Gegenspieler und Komplementär. In diesem potenziellen Konflikt der polaren Kräfte kann die ozeanische Qualität der Entgrenzung, als Fähigkeit der Musen und ihrer Töchter, der Sirenen, Wunder wirken. So kann uns, wie wir wissen, ein Lied zu Tränen rühren, eine Zeile von Poesie wieder an das Wesentliche erinnern und eine Stimme aus der gefühlten Enge führen, indem sie uns aufweichen oder sogar schmelzen lässt. Es ist genau dieser Zauber des Lebens, den wir suchen und brauchen und ihn daher immer wieder aufsuchen, mit allen Mitteln der Kunst. Die Aufgabe, ihn wohl zu dosieren, um nicht haltlos darin unterzugehen, ist unsere eigene, deren Entwicklungsstand anzeigt, was wir schon gelernt haben – über uns selbst und das Leben. 

Diese Art der Meisterschaft bleibt uns nicht erspart, außer wir verwehren uns ihr, der speziellen Reise in unser Innerstes und tiefstes Erfahrungsspektrum. Wie ein Odysseus, der aus Angst vor dem Untergang des heroischen Egos den Schmelzpunkt zwar erahnt, sich aber dagegenentscheidet, ihm konsequent mutig zu folgen und damit zu erfahren, was in den tieferen und tiefsten Gewässern möglich wird. Diesen Kräften zu begegnen, vermeidet er, wohl aus übermäßigem Respekt und schlicht aus Angst, anders als andere Helden der Geschichte, die den Ursprung dieser Kraft obendrein verteufelten. 

So wurde Lilith, die Urfrau Adams, im Alten Testament zum Dämon erklärt, Eva, seine zweite Frau, zur Sünderin im Paradies und die Loreley auf ihrem Felsen zur gezielten Männermörderin, die dafür ihre stimmliche Schönheit und erotische weibliche Kraft missbraucht. 

Für mich ist es sehr bewegend und mitunter schockierend, wie viel Kraft, Schmerz und Weisheit hier noch immer kollektiv im Schatten liegen.

Das sind düstere Weiblichkeitsbilder, die Furcht erahnen lassen und eine präventive Abwehr durch Abwertung beschreiben, einen angstgetriebenen Umgang mit dieser unheimlichen Macht und weiblichen Größe. Dass so viele Frauen noch immer mit der tieferen Lage ihrer eigenen Stimme fremdeln und sich lieber in deren Höhe festhalten, was oft unausgewogen mädchenhaft und unsicher klingt, ist eine Folge dieser Verteufelung der weiblichen Urkraft. Meist ist der Zusammenhang unbewusst und rückt erst dann in das eigene Bewusstsein, wenn eine bewusste Zuwendung zum Thema Stimme und Weiblichkeit stattfindet, zum Beispiel im Stimm-Coaching oder Gesangsunterricht nach ganzheitlichen Prinzipien. Diesen besonderen Moment der Erkenntnis erlebe ich regelmäßig in der Arbeit mit Schülerinnen und Klientinnen. Für mich ist es sehr bewegend und mitunter schockierend, wie viel Kraft, Schmerz und Weisheit hier noch immer kollektiv im Schatten liegen. 

Ein wichtiger Zusammenhang ist zu sehen, dass erst im Moment der Annahme der eigenen erweiterten Ausdruckskraft Heilung und Aussöhnung stattfinden kann. Hier kann der Übergang zu einem weiterführenden Wachstum geschaffen werden, hin zu sich selbst, jenseits von Konditionierung und Unterdrückung, die letztlich zur Selbstunterdrückung wird. Das Ergebnis ist hörbar als rundere und umfassendere, vollkommenere Harmonie. Hier drückt sich mehr Reife und Integrität aus, eine größere Souveränität und Gelassenheit, die sich ihrer selbst stärker bewusst ist. So ist es möglich, die eigenen Grenzen wahrhaftiger wahrzunehmen und ehrlicher zu vertreten, zum Wohle aller. 

Erst die volle Inbesitznahme der eigenen Würde und Möglichkeiten gibt uns die Chance, diese Welt voll verantwortlich mitzugestalten. Ein Gegenentwurf zu mutloser Resignation und chronischer Zurückhaltung vieler, die sich hier als zu klein wahrzunehmen gelernt haben. Ein Ausbruch aus der Enge einer zu dünnen, zu hohen Stimme erfordert die klare Verbindung zum eigenen Kraftzentrum in der Körpermitte, das den energetischen Motor unserer Stimme beherbergt, bei Männern, Frauen und all denen im Dazwischen. 

Heilung des Weiblichen und Männlichen in uns

Das weibliche Stereotyp hat durch die Jahrtausende des Patriarchats eine Kastration erfahren, ist eingeengt worden, sehr konkret zum Beispiel durch die Korsetts des viktorianischen Zeitalters, den Keuschheitsgürtel des Mittelalters und die Erniedrigung durch das gesamte Zeitalter hindurch. Diese Deformation aufzulösen und eine gesunde natürliche Stimmkraft zurückzuerlangen, erfordert Zeit, Hingabe und Bewusstsein. Sich wieder aufzurichten und diese natürliche Größenordnung zu rehabilitieren, eben auch stimmlich, benötigt Entschlossenheit und Liebe.

Es braucht Geduld und sogar einen gesunden Zugang zur eigenen Aggression als Verbindung zum eigenen Feuer, zu der Yang-Energie des Animus. Dadurch kann Integration und Ausgleichung der polaren Energien in der eigenen Mitte stattfinden, von Yin & Yang, dem Inneren Mann & der Inneren Frau, für eine wirkliche Balance im Innen und Außen. Über wirkliche Freiheit und Selbstbestimmtheit zu verfügen, erfordert eine ausgewogene Sowohl-als-auch-Bewegung. Eine Verkörperung des Menschen, die beides kann und darf, die sich nicht in einer Entweder-oder-Ideologie der Geschlechter-Stereotypie versteckt, klingt deutlich anders, anregend und attraktiv. Diese umfassendere Stimme, die ihre Register zwischen Höhen- und Tiefenlagen kennt und sie kühn in der Mitte bündelt, ragt inspirierend heraus aus dem durchschnittlich verkürzten Einheitsgemenge.  

Wissenschaftliche Studien haben vor wenigen Jahren herausgefunden, dass die Mehrheit der Menschen im westlichen Kulturraum andere Menschen am attraktivsten findet, wenn diese sowohl typisch weibliche als auch männlich geltende Eigenschaften verkörpern. Es bewegt sich also etwas. Die Evolution scheint hier am Rad zu drehen im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich drängt sich die Fragestellung auf, ob das schon immer so war und nur unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Konditionierung verborgen bis verboten wirkte. Die logische Konsequenz von Uniformität ist Einengung und Stereotypisierung. Vielfalt und der ihr entsprechende Reichtum können erst erblühen, wenn die Grenzen dessen, wie etwas oder jemand zu sein hat, weiter gefasst sind. Dafür braucht es Mut zur Öffnung und vertrauensvolle Hingabe an etwas Größeres.

Die Reise ins Unbekannte

Und damit gelangen wir wieder in den Hafen des Großen Unbekannten mit seinem unergründlichen Mysterium. Augenblicklich geht es hinein in das entgrenzte Territorium der Sirenen, die hier Brücken zwischen festem bekanntem Land und dem fluiden Bereich der unerforschten Tiefe bilden. Jeder Abenteurer und Wanderer zwischen den Welten muss diese Zwischenwelt passieren, sonst passiert nichts Neues, keine Innovation und Weiterentwicklung. Genau hier findet Schöpfung statt, zwischen Vergangenheit und Zukunft, im Raum der Gegenwart, der Gegenwärtigkeit erfordert. Nur ein offener Geist verbunden mit einem offenen Herzen findet die Courage, den notwendigen Lebensmut in sich, die Zone zu betreten. Dafür braucht es die als typisch weiblich geltende Qualität der Intuition, das Phänomen der inneren Stimme, die zu uns spricht. Ihre hörbar-spürbare Autorität in uns wird oft von der Gegenstimme der Ratio, des Verstandes, übertönt, der die »Stimme im Bauch« gerne und öfter überhört und abwertet, um diesen entscheidenden Fehler später zu bereuen. Auch hier wird deutlich, wie wichtig ein gelungener Dialog zwischen den antagonistischen Kräften in uns ist, um in Harmonie zu gelangen. Die innere und äußere Stimme, die aus der Stille kommen und erfolgreich in die Welt hinaus kommunizieren, verlangen ein Gleichgewicht. Wir sind somit KomponistIn und DirigentIn unserer eigenen Symphonie und verweben inneres Wissen mit äußerer Information, um Weisheit zu generieren.

Mein Weg als Sängerin

Als ich in meinem Leben anfing, in den Zuständen zwischen Träumen und Wachen sphärische Klänge und Gesänge zu hören und zu erleben, wie ich mich dabei durch ein ozeanisches Universum bewegte, was sich nach gleichzeitigem Fließen, Gleiten und Schweben oder einer Art des Fliegens anfühlte, da wusste ich eines Tages, dass ich diese Klangräume und Atmosphären für andere hörbar machen will und soll. Ein Impuls und Wunsch, der sich wie ein klarer Auftrag anfühlte. 

Es ging darum, diesen Erfahrungsraum zu teilen, in dem zu sein es sich anfühlt wie gleichzeitiges Fließen und Fliegen in genial befreiter Schwerelosigkeit. Also begann ich, genau das zu tun, nachdem ich von klein auf gesungen und musiziert hatte – auf der Bühne, im Fernsehen und auch jenseits der Bühne, zu unterhaltungs-künstlerischen und heil-künstlerischen Zwecken. 

Nach meiner Gesangsausbildung in Klassik, Jazz und Pop und Ausflügen in verschiedenste Musikbereiche, mit diversen Bands, Konzerten und Performances, wusste ich, dass eine neue Etappe erreicht war. Ich hatte den inneren Ruf gehört und erhörte ihn, ließ mich davon führen, folgte meiner inneren Stimme, die die Botschaft meiner Seele übermittelte. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde dieser innere Klang direkt aus dem Universum mit mir kommunizieren. Es gab hier nichts Neues zu verstehen. Ich wusste unmittelbar, durch mein direktes Erleben und die Ansage meiner innersten Zentrale, was zu tun ist. Mein gefühlter Auftrag war klar und machte vollkommen Sinn. 

So ging die Reise mit verschiedenen Musikern los, die ähnlich angebunden waren und sind an eine Art des Klanges, der frei aus dem Moment heraus entsteht und Hingabe an das Nichtwissen und Loslassenkönnen im Vertrauen erfordert. So entsteht meine und unsere gemeinsame Musik, aus der Magie des Moments und der Verbundenheit mit dieser Präsenz. Totale Gegenwärtigkeit im Augenblick der Entstehung eines Tones, der zum nächsten führt und zum nächsten, der Eingebung folgend. Ein Eintauchen in die Energie, die sich mitteilt und uns umfängt, wenn wir es schaffen, jenseits des Denkens unterwegs zu sein, auf einer größeren umfassenderen Welle. Ein unglaubliches Gefühl, das leicht und schnell einen Hochzustand von Ekstase hervorrufen kann, aber genauso eine tiefe friedvolle Ruhe. Häufig tritt beides kombiniert auf, bedingt und verstärkt sich gegenseitig. Die tantrische Analogie zum Liebemachen und Orgasmus ist sehr real. Das Werkzeug ist hierbei unser Klangkörper, und das Fahrzeug ist die Schwingung des Klanges. Was entsteht, ist ein glückseliges Empfinden von Verbundenheit mit sich selbst, dem anderen und zum Ganzen hin, der Existenz. Es ist das Ankommen in einer Zone, die sich so urvertraut und heimatlich anfühlt, als könnte sie den Namen »Zuhause« haben. Gleichzeitig ist die gefühlte Größenordnung so außerordentlich in ihrer Strahlkraft, als könne sie den Titel »göttlich« tragen.

Diese heiligen Andachtsmomente sind heilsam und lassen etwas aufleuchten, das nur als transzendent bezeichnet werden kann. Hier wird die Wahrnehmung unmittelbar und natürlich auf das gelenkt, was sich komplett anfühlt, perfekt zusammengehörig und liebevoll, voller Liebe in ihrem ursprünglichsten Sinn.

Die Dankbarkeit, die dabei aufströmt, ist so nährend, dass sie sich teilen muss in alle Himmelsrichtungen und zurück zur Erde. Der Kreislauf ist geschlossen und lädt sich dabei selbst auf als ein Dynamo-Prinzip. Die hochfrequente Energie, die dabei freigesetzt wird, bringt in Bewegung, was frei ist und das, was noch befreit sein möchte. Daher können auch starke Emotionen oder körperliche Symptome auftreten, die anzeigen, dass »etwas im Gange« ist. Das kann als eine reinigende Katharsis erscheinen, die einen Lösungs-, Harmonisierungs- oder Heilprozess einleitet. Körperliche Symptome können dabei aufgelöst werden, weil die ihnen zugrunde liegenden Emotionen und Energien wieder fließen, sich bewegen und wandeln. Eine Art der geistig-seelischen Kanalisation findet statt mithilfe des Klanges und Gesanges. Letztlich handelt es sich dabei um eines der ältesten Heilverfahren der Menschheit. 

In jedem Kulturraum, in dem der Schamanismus noch aktiv vorhanden ist, als älteste uns bekannte Heilmethode, wird Musik als zentrales Mittel eingesetzt. Die Ingredienzen sind Gesang, Rhythmus und Körperperkussion, aber auch Bewegung und Tanz. Sie öffnen und verändern das Normalbewusstsein in eine erweiterte Dimension, die unter anderem Trance herbeiführen und die Frequenz unseres Systems so verändern kann, dass es sich selbst repariert, regeneriert und erkennt, was der Störung zugrunde liegt. Hierin liegt das Potenzial zu vertiefter Selbsterkenntnis und innerem Wachstum, persönliche Befreiung durch diese Potenzen. Meine Wortwahl verrät es schon – ich liebe diese Zustände und die Möglichkeit, mithilfe der Musik, speziell meines Gesanges, diese zu initiieren und begehbar zu machen. Die dabei entstehenden Wege und Räume mit anderen zu teilen, ist mir ein Herzensanliegen. Das gemeinsame Erleben kann auch in Interaktion geschehen, zum Beispiel in einer Stimm- und Gesangsimprovisation oder im Austausch und bei der Reflexion nach den Konzert- und Klangerfahrungen. Wenn möglich, gebe ich dafür gerne Raum, genauso wie die Möglichkeit, während der Konzerte zu liegen. Das vertieft die Erfahrung und hilft beim Loslassen in die Bereiche jenseits der mentalen Zone.

Der Ruf der Sirene

Die Verbindung zu den Sirenen kam früh in meinem Leben, als mich immer wieder Menschen darauf ansprachen und meine Stimme als sirenenhaft bezeichneten. Oder als ich im peruanischen Amazonas als Sirene bezeichnet wurde und eine dementsprechende Meisterpflanze zum Meditieren und Studieren zugeordnet bekam von der Schamanin des indigenen Stammes der Shipibo, die mich während dieser Zeit begleitete. Ich wusste intuitiv sofort, worum es ging, und wunderte mich nicht. Ein vertrautes warmes Heimatgefühl kam in mir auf. Ich fragte mich, warum vor den Sirenen, diesen singenden geflügelten Wasserwesen, in einigen Geschichten so eindringlich gewarnt wurde und ihnen ein so negativer bis mörderischer Ruf vorauseilte. Das wollte ich ergründen. Viele Geschichten von Nixen und Nymphen, wie »Die kleine Meerjungfrau« nach Hans Christian Andersen, thematisieren den weiblichen Archetyp einer singenden Muse, die größte Inspiration und gleichzeitig die Erschütterung des altbekannten Welt- und Selbstbildes verkörpern kann. Wenn sie erscheint, ist es Zeit, sich tieferen Schichten in sich selbst zuzuwenden und den größeren Ozean zu erkunden. Angst vor dem Unbekannten war schon immer ein klassischer Begleiter auf dieser Reise des größeren Abenteuers hin zur eigenen Aufgabe jenseits einer uniformierten Norm. 

Angst vor dem Unbekannten war schon immer ein klassischer Begleiter auf dieser Reise des größeren Abenteuers hin zur eigenen Aufgabe jenseits einer uniformierten Norm.

Wem es gelingt, diese Spannung als spannenden Fahrtwind zu begrüßen und zu genießen, transformiert die Angst aktiv in eine höhere Kraft, gespeist aus dem Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins. Hier geschieht Wandlung als innerer alchemistischer Prozess, hin zur eigenen Selbstwerdung. Schlacken werden gelöst, und Gold wird daraus gewonnen, das immaterielle Gold des eigenen Selbstbewusstseins. Wem dieser Prozess und die dahinterliegende Kraft Angst macht, muss ihn abwehren und abwerten. Wer aber den Mut in sich findet, sich immer wieder den Frühlingsstürmen zu stellen, reist und wächst kontinuierlich weiter. Über sich selbst hinaus, entlang des eigenen seelischen Bauplans. Dazu laden die Stimmen der Sirenen ein: ins Unbekannte hinauszuziehen und der Sehnsucht zu folgen, die durch das Hören ihrer Gesänge erweckt wird. 

Die Versprechung des Sehnens liegt darin, zu entdecken, dass die unbekannten Ufer sich als Teil der inneren Heimat erweisen. Damit wird die größere Reise hinaus in die Welt zur Heimkehr ins eigene Innerste, das nun anders erstrahlen kann, hörbar im Klang der eigenen Stimme. Eine Stimme, die zum Weckruf werden kann, zum Ruf der Sirene. 

Daher habe ich mein erstes Sasperella-Soloalbum »La Sirène« genannt. 2021 ist es fertig geworden und in diesem Jahr bald auch online erhältlich. Es ist eine Hommage an den Zauber der geflügelten Wasserwesen, die uns an unsere geistige Heimat sowie die seelische Verbundenheit mit ihr erinnern und die uns inspirieren, ihr Ausdruck zu verleihen, auf vielfältige Art und Weise. Und noch immer, wenn ich singe und mich dabei völlig hineingebe, beginne ich zu fließen und zu fliegen und sehe den Ozean vor mir. Nicht einen der sieben uns bekannten irdischen, sondern ein Meer, das ihnen ähnelt und doch ein anderes ist. Es umfasst sie alle und leuchtet überirdisch, in einem besonderen Licht. Hier ist ultimativer Frieden, Zuhause. 

Was wäre wirklich geschehen, wenn Odysseus und seine Männer die Insel der Sirenen nicht umschifft hätten, sondern ihrem Ruf todesmutig gefolgt wären? 

Zur Autorin 

Saskia Baumgart ist Sängerin, Vocal Coach und Musiktherapeutin. Sie arbeitet künstlerisch und heilerisch mit Gesang und Klang, gibt Solokonzerte als Sasperella, mit ihrem Trio Magic of Sound, Einzel-Sessions, Workshops und Gruppen zu Gesang, Klang sowie Stimme, auch speziell zur weiblichen Stimme. Darüber hinaus begleitet sie Sterbende mit ihrer Musik, Menschen in seelischen Krisen und begleitet Prozesse zur Potenzialentwicklung in allen Lebenslagen. Aufenthalte bei verschiedenen indigenen Kulturen der Welt haben ihre schamanische Anbindung vertieft. 

Bildnachweis: © Adobe Photostock

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