Dr. Rami Oruc Güvenc – Heilwissen aus dem Orient

Die altorientalische Musiktherapie

Autor: Dr. Rahmi Oruc Güvenc

Im Rahmen der Musiktherapie wird mit Klängen und Musik gearbeitet, denn ihre heilende Wirkung auf den Menschen ist bekannt und erprobt. Folgender Beitrag stellt den Ansatz der altorientalischen Musiktherapie vor, die sich in wesentlichen Punkten von der westlichen unterscheidet. Der menschliche Organismus wird als Schwingungssystem betrachtet, das mit Klängen wieder in Resonanz mit sich selbst und dem Kosmos gebracht werden kann. Einen tieferen Einblick in diese Therapieform gewährt der renommierte klinische Psychologe und Privatdozent für Musikethnologie Dr. Rahmi Oruc Güvenc. 

In den Jahren 1970 bis 1980 entwickelte Dr. Güvenc an der medizinischen Fakultät in Istanbul Behandlungskonzepte zur Integration der traditionellen Musiktherapie in den modernen Klinikalltag. Er entdeckte die altorientalische Musik (Abkürzung AOM) und die damit verbundenen Tänze und Bewegungen wieder, die aus der schamanischen Tradition stammen. Schamanismus ist der Glaube an übersinnliche und übernatürliche Kräfte in anderen Welten. Vor der Entstehung der großen Religionen, die schamanisches Wissen übernahmen, wurde Schamanismus in allen Kulturen praktiziert. Baksi heißen die Schamanen von Zentralasien, und durch Rituale, Gesänge, Rhythmen, Bewegungen und Tänze gelingt es ihnen, einen veränderten Bewusstseinszustand zu erlangen und damit Zugang zur geistigen göttlichen Welt zu erhalten, die die Natur, Tiere und den Kosmos umfasst.

Die Baksi sind die Träger alter Traditionen und bewahren altes Heilwissen. Dabei dienten sie nicht nur dem Einzelnen, sondern arbeiteten für das Wohl der Gemeinschaft. Elemente der schamanischen Praktiken Zentralasiens werden in der AOM eingesetzt. Diese Musik öffnet und unterscheidet zwischen rezeptiver und aktiver Therapie für Körper, Geist und Seele, Bewegung und Ruhezustand. Der Schamanismus von Zentralasien und das Sufitum des mystischen Islams beeinflussten sich gegenseitig.

Sufismus

Dr. Güvenc ist Sufimeister von sechs verschiedenen Orden, die alle in der Türkei angesiedelt sind. Die im Westen bekannteste Tradition ist die von Mevlana Rumi, und mit einer Arbeit über diesen großen Mystiker schloss Dr. Güvenc seine philosophischen Studien ab.

Das Sufitum bietet verschiedene spirituelle Wege wie Gebet, Meditation und Rituale an und wird weltweit sowohl in islamischen als auch in christlichen Kulturen praktiziert. Es birgt die Erfahrung von universeller Liebe, Weisheit und göttlicher Wahrheit, Erkenntnis des Sinns unseres Seins, auch des eigenen wahren göttlichen Wesens. Neben dem alltäglichen Leben vermittelt es eine andere göttliche Wirklichkeit.

Dabei bringt Dr. Güvenc die geistige Haltung der Sufitradition, die die seelisch-geistige Entfaltung des aktiven Menschen im Fokus hat, in die altorientalische Musiktherapie mit ein, wobei auch auf überliefertes Liedgut zurückgegriffen wird: Zur Begrüßung des Propheten Mohammed in Medina (Hidschra, 622 n. Chr.) sangen die Frauen das Lied »Taleal Bedru Aleyna«, das übersetzt bedeutet »Sei gegrüßt, herzlich willkommen, du dessen Gesicht so hell scheint wie der Mond«. Auch das Lied »Care kendime«, »Alle Lösung liegt in mir«, geht auf einen Poeten zurück, der zu Lebzeiten des Propheten wirkte. Als der Prophet Mohammed diese Worte hörte, fühlte er sich so berührt, dass er den Gebetstanz »Sema« drehte. 

Altorientalische Klänge in der altorientalischen Musik

Neben dem gesungenen Wort greift die AOM auf altorientalische Musikinstrumente zurück: Die Trommel, genannt Küdüm, ist ein Kupfer- oder Metallbehälter, über den eine Tierhaut gespannt ist und der immer paarweise eingesetzt wird. Der Klang hat eine starke Verbindung zur Erde und wird vor allem in der Mevlivi-Tradition, bei dem Ritual des Sema, eingesetzt. Ney, eine Schilfrohrflöte, wird von Mevlana mit dem Menschen in Beziehung gebracht, der nach der Reinigung von seinen negativen Kräften zur inneren Leere gelangt, die rein und klar ist. Ein weiteres archaisches Baksi-Instrument ist die Kilkopuz, die sich vor allem zur Imitation von Tierlauten und Naturklängen eignet. Die Kopuz, eine mehrere Jahrtausende alte Kurzhalslaute, die in Höhlenmalereien dargestellt ist, wurde für die AOM wiederentdeckt und nachgebaut.

Die Sufis glauben, dass das Wasser Informationen speichern kann und Klänge sich positiv auf den menschlichen Organismus auswirken.

»ES SEI«, Schöpfung und göttlicher Befehl werden durch die Form der Rebab dargestellt, ein weiteres Klanginstrument in der AOM, das von Mevlana und seinem Vater aus der zentralasiatischen Kultur mitgebracht wurde. Der Klang des Wassers begleitet diese Instrumente. Die Sufis glauben, dass das Wasser Informationen speichern kann und Klänge sich positiv auf den menschlichen Organismus auswirken. Dem Patienten werden so durch die vielfältigen Instrumente unterschiedliche Klangerlebnisse ermöglicht.

In der AOM wird die pentatonische Tonart der Schamanen verwendet. Es ist eine Fünftonleiter, die in vielen schamanischen Ritualen auf der Welt erklingt. Dabei erzeugt der Schamane diese nicht bewusst aus dem kognitiven Bewusstsein heraus, sondern er erhält dieses Wissen aus dem Unsichtbaren im Trancebewusstsein. Alle fünf Töne klingen zusammen harmonisch. Wissenschaftliche Ergebnisse weisen nach, dass bei autistischen Kindern durch pentatonische Musik Selbstvertrauen und Entscheidungsfähigkeit gefördert werden.

Dabei werden Körper, Geist und Seele in Schwingung versetzt, sodass sich neue Strukturen bilden können.

Ein anderer Melodientyp in der AOM ist die Makam-Musik, die in der orientalischen Medizin angewendet wurde. Bei der rezeptiven altorientalischen Musiktherapie greift der Therapeut auf die feinmodulierbaren Tonarten der Makam-Musik zurück. Sie kann wie Akupunkturnadeln auf die Funktionskreise des menschlichen Organismus wirken. Diese klassischen Musikskalen wurden auch in die Sufimusik übernommen. Die Makam-Musik besteht aus Siebenton-Tonleitern. Der Ganztonschritt wird hier in neun Untertöne aufgeteilt. So entstehen über 500 verschiedene Tonarten, von denen 40 in der alten Literatur zur Musiktherapie beschrieben werden. Die Energien, die durch die Musiktherapie ins Fließen kommen, wirken sich positiv auf die Balance im Körper-Seele-Geist-System aus. Dabei werden Körper, Geist und Seele in Schwingung versetzt, sodass sich neue Strukturen bilden können. 

Interview

Dr. Güvenc, welche sind die Kernunterschiede zwischen der westlichen und der altorientalischen Musiktherapie?

In der westlichen Musiktherapie werden die Instrumente, zum Beispiel Schlaginstrumente, von dem Patienten gespielt, um seine Emotionen auszudrücken. Doch die heilsamen Wirkungen von Musik und Tanz in der AOM basieren auf psychologischen, neurobiologischen und kulturgeschichtlichen Ursachen und stammen aus mehreren Quellen: Schamanismus, Sufitum, Kunst und Medizin. Unser gesamter Organismus ist ein Schwingungssystem. Biologische Rhythmen wie Atmen, Herzschlag, Schlafen und Wachen laufen automatisch ab. Durch die Resonanz mit einem gesunden natürlichen Rhythmus, wie das in der AOM zutrifft, kann ein geschädigter Organismus wieder in seinen natürlichen gesunden Schwingungszustand zurückfinden. 

Unser gesamter Organismus ist ein Schwingungssystem.

Die altorientalische Musik- und Bewegungstherapie unterscheidet zwei Arten von Therapie: In der rezeptiven Therapie wird der Patient je nach seinen Symptomen in der passenden Tonart bespielt. So hilft die Makame-Tonart Rast zum Beispiel nach Schlaganfällen und bei Lähmungen, aber auch bei Autismus. Denn sie senkt die Pulsfrequenz, schenkt Ruhe, Freude, Ausgeglichenheit und innere Stille.

In der aktiven Musiktherapie geht es darum, schöne Bewegungen zu der harmonischen Musik zu machen. Über diese alten Melodien gilt es, einen Melodienimpuls zu geben, der in Bewegung umgesetzt wird. Da es keine polyfonische Musik ist, kann das Ohr diesem Impuls leichter folgen. Manchmal sind hier in der Bewegung die Strukturen vorgegeben. So sind insbesondere die therapeutischen Effekte der uigurischen Tänze, die von einem der ältesten Turkvölker auch als kosmische Musik gesungen und gespielt wurden, zu erwähnen.

In der Improvisation können körpereigene Schwingungsvorgänge gestärkt und synchronisiert werden, und die Integrationsleistungen des Gehirns werden durch die Überkreuzbewegungen von Armen und Füßen gefördert. 

Weiche fließende Bewegungen können Härte, Stärke und Unnachgiebigkeit in Flexibilität, Liebe und Toleranz umwandeln. Denn Musik und Tanz können den Menschen Freude und Erfüllung vermitteln und sie an ihre inneren Kräfte heranführen. 

Welche Bedeutung hat das Schöpfen des Wassers in der Musik für die Musiktherapie?

Leben kommt aus dem Wasser. Wasser hat die Fähigkeit zu fließen, und Fließen ist ein Zustand des Lebens. Viele Krankheitsbilder entstehen, weil es Blockaden im Körper gibt. Gleichzeitig besteht der menschliche Körper zu etwa 70 Prozent aus Flüssigkeit, und das Wasser gibt dem menschlichen Organismus über Schwingungen den Impuls, damit sich diese Blockaden lösen können.

Zudem eignet sich der Wasserklang für Menschen, die ihre Gedankenflut nicht eindämmen können.

In den Gesundheitshäusern, die eine uralte Tradition im Orient haben, wurden die Krankenzimmer kreisförmig um einen Brunnen angeordnet, um die Kranken vom Wasser bespielen zu lassen. Zudem eignet sich der Wasserklang für Menschen, die ihre Gedankenflut nicht eindämmen können. Denn im Wasserklang ist ein Magnetismus enthalten, der die Konzentration dabei unterstützt, die Richtung zu halten. Der Wasserklang wird durch das Schöpfen in einem Gefäß mit zwei Schälchen beidhändig erzeugt, um dem Klang laufenden Wassers zu ähneln. Ein Assistent von Dr. Masuro Emoto, einem japanischen Wissenschaftler, der den feinstofflichen Einfluss von Energien auf Wasser untersucht, hat Forschungen über das verwendete Wasser nach Heilsitzungen der AOM vorgenommen. Die Forschungsergebnisse zeigten wunderschöne Aufnahmen von unglaublichen Kristallen, Sternen und Landschaften. Das Wasser kann dann auch als Heilwasser von den Patienten getrunken werden. 

Um diese Therapie zum Wohle des Menschen durchzuführen, ist sicherlich nicht allein Wissen und Können erforderlich. Werden in diesem Zusammenhang nicht noch andere Fähigkeiten wie zum Beispiel Mitgefühl des Therapeuten verlangt?

Ja, selbstverständlich. Mitgefühl ist immer dabei. Es ist notwendig, eine tiefe Form von Achtsamkeit in sich zu haben sowie die Fähigkeit zu fühlen, was der andere braucht.

Ich erzähle hierzu eine Geschichte vom Schmetterling, um das noch verständlicher zu machen:

Bevor der Schmetterling zum Schmetterling wird, muss er mehrere Stationen durchgehen: Zuerst schlüpft aus dem Ei eine Raupe. Die Raupe umspinnt sich dann mit einem Kokon, um sich darin ungestört als Schmetterling entfalten zu können. Ein Mann beobachtet, wie sich der Schmetterling plagt, aus dem Kokon zu gelangen, und sagt zu ihm: »Ich helfe dir.« Er öffnet vorsichtig den Kokon, der Schmetterling kommt leicht heraus, aber er fliegt nicht. Um fliegen zu können, wäre für den Schmetterling der anstrengende Prozess, sich aus dem Kokon zu quälen, notwendig gewesen, und so stirbt schließlich der Schmetterling.

Mitgefühl für den anderen zu empfinden, bedeutet, ihn zu achten, so wie er ist.

Mitgefühl für den anderen zu empfinden, bedeutet, ihn zu achten, so wie er ist, und ihn aus dieser Achtung heraus zu unterstützen, seine Flügel selbstständig zu entfalten, um fliegen zu können. Das Mitgefühl ist im Menschen. Eine Mutter, die ihr Kind in die Welt trägt, hat viel Liebe, bedingungslose Liebe in sich. Dabei wirkt die Mutter wie eine Brücke: Ihre Liebe und ihr Mitgefühl übertragen sich auf das Kind, das es wiederum an andere weitergeben wird. 

Auch ein Therapeut braucht diese Liebe und dieses Mitgefühl für seinen Patienten. 

Denn wenn er aus einer Haltung des Egoismus heraus behandelt, kann er diesen Zustand des Fließens der Energien wahrscheinlich nicht erzeugen. Der Therapeut hat die Aufgabe, etwas zu vermitteln. Deshalb ist eine weitere Fähigkeit, der er bedarf, die Demut. Demut heißt, in einem selbstlosen Dienst zu stehen. In unserer Ausbildung geht es daher nicht nur um die Vermittlung von Fachwissen: Die Herzensbildung wird gleichermaßen miteinbezogen.

Guevenc-90-03-©Andrea Stoelzl

Du hast über Liebe und Mitgefühl gesprochen. Wie fühlt sich Liebe an?

Liebe kann man nicht mit dem Intellekt erklären, man kann sie nur spüren. Liebe ist etwas, das im Inneren lebt und ein tiefer Wert ist. Liebe nimmt in der Dichtung und Musik der Sufis einen zentralen Wert der absoluten Liebe ein. Die Liebe wohnt in der gesamten Schöpfung und auch in den Herzen der Menschen. Daher ist die Göttlichkeit des Menschen auch eine persönliche Beziehung zu Gott. In der Gebetsform, Zikir genannt, in den Kopf- und Körperbewegungen oder Drehtänzen, die von Musik und spirituellen Liedern begleitet werden, geht es darum, sich seiner eigenen göttlichen Kräfte bewusst zu werden und die Liebe wiederzuentdecken. 

Liebe heißt aber auch Toleranz, Akzeptanz, Geduld, Harmonie, Achtsamkeit und Mitgefühl, Nähe und Zuneigung. Bei der wahren Liebe ist das Wollen schwach.

Oruc, welcher ist einer deiner innigsten Gebetswünsche?

Eines meiner innigsten Gebete ist die Bitte, dass sich die unterschiedlichen spirituellen Strömungen gegenseitig tolerieren. 

Dr. Rahmi Oruc Güvenc

Über den Interviewten

Dr. Rahmi Oruc Güvenc (hier mit seiner Frau) war klinischer Psychologe und Privatdozent für Musikethnologie an der medizinischen Fakultät der Universität Istanbul, sowie Koordinator für die Abteilung Alternativ-, Komplementär- und traditionelle Medizin für das türkische Gesundheitsministerium. 1976 Gründung der Arbeitsgruppe Tü- mata, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, türkische Musik wissenschaftlich zu erforschen und zu präsentieren. Dies geschieht im Rah- men von Konzerten, Workshops, Sufireisen, Seminaren, Kongressen sowie interkulturellen und interreligiösen Aktivitäten. Er verstarb im Juli 2017.

Weitere Informationen:

Andrea Azize Güvenc und Dr. R. O. Güvenc: Heilende Musik aus dem Orient, Südwest Verlag München 2011

Dr. R. O. Güvenc, Otag Müzik: Hey Reisender, bey Reisender, Merkezi, Istanbul 2004

Weitere CDs:

tumata.com

azizeguvenc@yahoo.de

Bildnachweis: © Andrea Stölzl

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