Sabina Tschudi

Sabina Tschudi – Sexualität als Heilkraft

Wie authentische sexuelle Begegnungen zu mehr Ganzheit führen können

Unser Zugang zu unserer eigenen Sexualität bestimmt wesentlich, wie wir diese erleben. Sabina Tschudi zeigt, dass jeder von uns ein Recht auf eine erfüllende, heilende Sexualität hat – und wie diese trotz einschränkender Werte, Normen und Sprache gelingen kann.

Ich möchte eingangs von mir teilen, dass ich Sexualität als etwas zutiefst Persönliches und Individuelles empfinde – und damit bin ich sicher nicht allein; somit ist für mich ein Sprechen oder Schreiben über Sexualität immer auch ein Mit-teilen von mir selbst. Die Trennung »hier ich selbst« und da dieses »Thema« möchte ich nicht künstlich kreieren.

So ist Sexualität immer auch Teil unserer Kultur, also kulturgeprägt.

Vorweg: Was ist »Sexualität«?

Der Duden definiert Sexualität folgendermaßen: »Gesamtheit der im Geschlechtstrieb begründeten Lebensäußerungen, Empfindungen und Verhaltensweisen«. Sexualität hat sich im Verlauf der Evolution herausgebildet und wird heute als Begriff für Spezies mit unterschiedlichen Geschlechtern verwendet, die sich über Zweigeschlechtlichkeit fortpflanzen. Unsere menschliche Sexualität, übrigens auch bei anderen Säugetieren, geht natürlich weit über die Notwendigkeit der biologischen Fortpflanzung hinaus. Sexualität hat bedeutende emotionale Komponenten, Bindungskomponenten, ist identitätsprägend, hat soziale Funktionen und auch spirituelle, also erweiternde Aspekte. In einigen Bereichen ist Sexualität auch eine Quelle von Prestige und ist heute ein wichtiger Bestandteil eines modernen »Lifestyle«. So ist Sexualität immer auch Teil unserer Kultur, also kulturgeprägt. Kulturen schaffen Normen, und Normen regulieren unser Verhalten, was akzeptabel ist, was nicht, wo werden Grenzen definiert und gesetzt, bis hin zu strafrechtlich relevantem Verhalten. Die Normen (sowohl Sollwerte als auch Ge- und Verbote) wiederum haben einen erheblichen Einfluss auf unsere Psyche – Kultur prägt und formt uns, auch im sexuellen Bereich. Kulturelle Normen verändern sich im Laufe der Zeit, passen sich dem Wandel von Menschen an, oder manchmal auch nicht, und müssen auch immer wieder neu verhandelt, manchmal auch erstritten werden.

Vor diesem Hintergrund möchte ich in diesem Artikel verschiedene Aspekte von Sexualität als Heilkraft beleuchten. Wie können wir Sexualität leben, um die Erfahrung als heilend zu erleben, mit anderen Worten, welche Arten des Sexuell-Seins wirken sich subjektiv, aber auch objektiv heilend aus? Was sind die Voraussetzungen, die Rahmenbedingungen dafür? Welche Ansätze können wir selber wählen, in der Sexualität mit uns selbst wie auch miteinander? Ich möchte zudem auf ein paar medizinische Fakten eingehen, die objektiv die Heilkraft von Sexualität belegen. Dazu gehört für mich auch Sexualität durch verschiedene Lebensspannen und -alter – denn nicht nur wandelt sich »Sexualität« kulturell, sondern natürlich im Leben eines/einer jeden von uns über unsere biografische Lebensspanne hinweg.

Grundvoraussetzungen

Allen Aspekten von heilender Sexualität ist eines gemeinsam: Sexualität braucht einen geschützten, respektvollen und würdevollen Rahmen und basiert auf dem freien Willen aller Protagonisten. Mit anderen Worten, Sexualität zu leben und wie zu leben muss eine freie Willensentscheidung sein, basierend auf Konsens, Respekt und freier Wahl, und zwar für Frauen, Männer, Queer etc. – in jedem Lebensalter.

Sexualität braucht einen geschützten, respektvollen und würdevollen Rahmen und basiert auf dem freien Willen aller Protagonisten.

So möchte ich hier ein paar globale Definitionen sexueller Rechte voranstellen – auch wenn das für viele von uns hier selbstverständlich ist –, denn ich möchte damit in diesem Artikel ebenso jener Menschen gedenken, die diese Rechte nicht beanspruchen können.

Sexuelle Rechte sind global durch die WHO definiert: 

»Sexual health is a state of physical, mental and social well-being in relation to sexuality. It requires a positive and respectful approach to sexuality and sexual relationships, as well as the possibility of having pleasurable and safe sexual experiences, free of coercion, discrimination and violence.« (WHO)

Die Erklärung sexueller Menschenrechte der WHO besagt: »Sexuelle Gesundheit bedeutet, dass es Ihnen mit Ihrer Sexualität gut geht. Auf allen Ebenen und in jedem Alter. Dieser Zustand ist nur erreichbar, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geschützt und gewahrt sind. Die sexuelle Gesundheit ist ein Konzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO).«

Die International Planned Parenthood Federation (IPPF), gegründet in den 1950ern, um Menschen weltweit den Zugang zu Verhütung zu ermöglichen, postuliert:

»Sexuelle Rechte sind Menschenrechte. Sie stehen Ihnen und allen anderen Menschen gleichermaßen zu. Es sind Menschenrechte, die in Bezug auf den Lebensbereich der Sexualität konkretisiert sind. Sie sind wichtig, da die Sexualität ein zentraler Aspekt des Menschseins ist. Alle Menschen haben das Recht, ihre Sexualität lustvoll und frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt zu leben.« (Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz; https://www.sexuelle-gesundheit.ch/)

Mit zu den sexuellen Rechten gehört auch die freie Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft. 

Geschichtliches

Ich schreibe hier in Dankbarkeit dafür, in einer Kultur und Gesellschaft zu leben, wo uns diese Rechte weitgehend gewährt werden und wir sie mehrheitlich einfordern können. Diese Rechte stehen uns allen jedoch noch gar nicht so lange zu. Nur um ein paar Beispiele zu nennen:

»Liederlichen Frauen«, also »alleinerziehenden Müttern«, wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein europaweit Kinder weggenommen und ins Heim gesteckt. Frauen wurden häufig psychiatriert, wenn sie sowohl alleinerziehend als auch arm waren, Männer wurden des Ehebruchs angeklagt und sozial, ökonomisch und rechtlich stigmatisiert. Zugang zu Verhütungsmitteln haben wir in unseren Kulturen erst seit knapp 70 Jahren – davor drohte immer eine ungewollte Schwangerschaft beim Sex. In der Schweiz wurde, je nach Kanton, der Strafbestand »Konkubinat« erst zwischen 1972 und 1995 abgeschafft; in Deutschland war Homosexualität und Bisexualität bis 1969 eine Straftat, und der berühmte Paragraf 175 wurde erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. In der Schweiz existiert die »Fristenlösung« für legale Abtreibungen seit 2002 und ist nach wie vor von bestimmten Parteien unter Beschuss, in Deutschland ist Abtreibung gemäß Paragraf 218, mit allerdings großen Ausnahmen, immer noch strafbar. Verschiedene politische und religiöse Richtungen stellen auch diese hart erkämpften Rechte bei uns nach wie vor infrage. Im internationalen Vergleich stehen unsere europäischen Länder in der Progressivität des Schutzes sexueller Rechte weit vorne – wir sind bevorzugt.

Heilende Sexualität ist ein Privileg – und der Zugang dazu ist nicht einfach so gegeben oder garantiert. 

Heilende Sexualität ist ein Privileg – und der Zugang dazu ist nicht einfach so gegeben oder garantiert. »MeToo« und »Ja heißt Ja« zeigen dies nur allzu deutlich, ebenso wie die momentane Zunahme von Angriffen auf Schwule und Lesben und einiges mehr.

Wenn jedoch Sexualität keinen sicheren Rahmen hat, sondern innerhalb einer Machtstruktur ausgeübt, als Recht eingefordert oder als Druckmittel eingesetzt wird, wird Sexualität auch nicht heilend sein, sondern verletzend oder traumatisierend.

Gern wird bei solchen Überlegungen auf die negativen Auswirkungen des »Patriarchats« verwiesen. Wenn nun Patriarchat als eine dominante Machtstruktur (und nicht als »die Männer«) verstanden wird, dann ist dies sicher richtig. Und wir müssen mit bedenken, dass in solchen Machtstrukturen auch andersdenkende, andersfühlende, anderslebende und andersliebende Männer kaum Einfluss auf die bestehenden Machtstrukturen hatten und haben.

Normative Kontexte

In allererster Linie ist es nicht »die Sexualität«, die heilend wirkt, sondern unser Zugang dazu – ist dieser Zugang heil? Frei von Druck und Zwang, frei auch von ungewollter Elternschaft aufseiten von Frauen wie auch Männern? Hierzu gibt es weitere machtvolle Ströme von Einschränkungen, denen wir alle unterworfen sind: die kulturellen »Sollwerte«. Unter kulturellen Sollwerten verstehe ich jene offen definierten wie auch unterschwelligen Werte, die unsere Sexualität reglementieren und in Kategorien von richtig und falsch, genügend oder nicht genügend oder irgendwo dazwischen einteilen.

In allererster Linie ist es nicht »die Sexualität«, die heilend wirkt, sondern unser Zugang dazu.

Früher reglementierten Sollwerte wie Kein Sex vor der Ehe oder Sex nur mit dem/der Ehepartner/in unser Verhalten. Religiöse Sollwerte verteufeln buchstäblich Sex als Quelle des Vergnügens, wenn es nicht der Fortpflanzung dient. Im Wandel der Werte leben wir heute in einer Zeit, in der die »sexuelle Selbstoptimierung« zu einem subkulturellen Sollwert geworden ist: Wir sollten immer und überall wollen und auch können, sexuelle Hochleistungen hinlegen, neben Beruf, Karriere, Kindern, Sport und Politik, unsere Identitätsdefinitionen mit sexuellen Meisterleistungen abrunden, auch älter werdend sexuell fit und jugendlich bleiben, bitte möglichst unverkrampft. Und uns natürlich sexuell bilden auf allen Ebenen, Bücher lesen, Kurse besuchen und so weiter. Und einige heutige Strömungen der Sexualität vertreten weitere einschränkende Sollwerte wie: »Nur langsam ist richtig«, »Männer sollten nicht ejakulieren, sonst verlieren sie Lebenskraft«, Orgasmen sind plötzlich angeblich bindungsschädigend und zu unterlassen, je nach Subkultur sollen wir beispielsweise poly-amor sein, queer oder tantrisch orientiert. Mit anderen Worten, wir sind auch heute in Korsetts von sexuellen Sollwerten eingebunden, welche die heilende Kraft der Sexualität mindern und behindern. Denn wir sind dadurch in Leistungsprinzipien eingebunden und dadurch sind wir eigentlich nie »richtig«. 

Was also ist heilende Sexualität?

Heilende Sexualität ist in erster Linie Kommunikation, ein Sich-selber-und-einander-Zuhören. Wenn wir nun einen heilen Zugang zu Sexualität haben, einen gesicherten und respektvollen Rahmen, was dann? Ich erlebe Sexualität in allererster Linie als eine Form der Kommunikation. Mit mir selber und ebenso mit jemand anderem. Kommunizieren ist Austauschen. Und die Basis jeder Kommunikation ist zuhören, aufnehmen, wahrnehmen. Nicht primär sprechen und »reingeben«.

Heilend wird Sexualität dann, wenn wir erst einmal uns selbst zuhören und auf uns selbst hören. Wer bin ich eigentlich gerade jetzt? Wie fühle ich mich, wie geht es mir? Wenn ich in Kontakt bin mit meinen Empfindungen, meinen Gefühlen, wenn ich meinen Gedanken Beachtung schenke. Mir bewusst werde, was mich offen und unterschwellig beschäftigt. Ob ich Ängste oder Sorgen habe, Erwartungen, Hoffnungen. Ob ich ruhig bin oder aufgeregt, im Frieden mit mir oder nicht. Mich als ein ganzes Wesen wahrnehme, zu dem auch Sexualität gehört. Aus dieser Selbstwahrnehmung kann ich empfinden, was mir jetzt guttut, wie ich für mich da sein kann, ob ich Stille oder Aktion brauche, was mich in diesem Moment nährt, sodass ich mich wohlfühle, Energie gewinne, es mir einfach gut geht? 

Sabina Tschudi

So kann ich mich überhaupt erst einmal entscheiden: Möchte ich Sex, sexuelle körperliche Kommunikation? Und wie? So werde ich spüren, ob und wie ich (mich) berühren möchte – oder berührt werden möchte. Mein Körper spricht mit mir, ich höre zu. Ich bin mehr lauschend als tuend. In diesem Zustand des Wahrnehmens kann ich mir auch erlauben, mit mir selbst auf eine Reise zu gehen, eine Reise des Empfindens, Lauschens, Erkundens, und mich von dem, was in diesem Augenblick ist, wahr ist, ziehen und leiten zu lassen. Ohne dass etwas muss oder soll, denn was ist, ist tatsächlich, wahrhaftig, authentisch, und daher lebendig und gut. Es ist ein »Ich bin«-Augenblick von Intimität, Wahrhaftigkeit und innerer Verbundenheit, aus der heraus es nichts »zu tun« gibt, sondern ein seiender Moment, der sich selber genügt.

Und wenn wir einander begegnen, was dann?

Heilende Begegnungen sind meist auch mutige Begegnungen. Wesentlich mutiger, als uns sexuell zu »beweisen«. Denn wir bringen den Mut auf, nicht zu »tun«, sondern zu sein. Lauschend und wahrnehmend. Wir lassen Rollen und Programme gehen, funktionieren nicht, sondern treten ein in den Moment. Berührungen werden zu Berührungen – wir kennen wohl alle die Skala von »Berühren, Anfassen, Angreifen, autsch😊«.

Wenn ich jemandem sexuell begegne, ohne dass ich etwas will, dann bin ich wirklich da, präsent.

Wenn ich jemandem sexuell begegne, ohne dass ich etwas will, dann bin ich wirklich da, präsent. Ich habe kein Vorhaben, keine Agenda, kein Ziel, außer präsent zu sein. Eine Berührung wird zu einem Erkunden und Erspüren. Ich lasse mich auf das Gegenüber ein. Bin bereit, mich leiten und führen zu lassen, auf eine Erkundungsreise ins Unbekannte mitzugehen, die »Sprache« des Körpers und des ihm innewohnenden Wesens zu verstehen und mitzugehen. Ich möchte nichts tun oder machen oder »geben«, ich werde wahrnehmend mit allen Sinnen. Als ob meine Hände Augen und Ohren wären. Was nehme ich im Gegenüber wahr? Was erzählt mir diese Wade, wenn ich sie berühre, die Rundung des Bauches, die Härchen am Rücken? Möchte der andere Körper überhaupt so und hier berührt werden? Jeder körperliche Kontakt wird auf diese Weise zu wahrhafter Sinnlichkeit – denn ich bin mit meinen Sinnen ganz da, wahrnehmend, aufnehmend. Eine Berührung am Arm kann auf diese Weise ein tiefes gegenseitiges Durchdringen bewirken, denn wir tauschen grundlegende seelische Informationen miteinander aus, wir hören auf tiefer körperlicher Ebene aufeinander. Und der Körper speichert das Unbewusste – unser Unbewusstes öffnet sich tiefer.

Wenn wir uns also mutig aufmachen, zu sein, lauschend, sinnlich präsent, was ist wahrhaftig in diesem Moment, was spricht der Körper, das Wesen im Körper zu mir – dann kann ich mich auch führen lassen. Der Körper leitet mich, ich kann abenteuerbereit mitgehen, erwartungsfrei, wo es mich hinführen wird. Dazu braucht es Mut und Vertrauen – denn wir lassen gewohnte Programme und Abläufe einfach gehen. Wir stehen (oder liegen) im Unbekannten und haben außer unserer Wahrnehmung keine Anhaltspunkte. Es gibt kein Skript mehr, keinen Leitfaden. Jedoch genau hier passiert Heilung: Es ist erwiesen, dass zum Beispiel in therapeutischen Kommunikationen zuhören erheblich wichtiger ist als etwas dazuzugeben. Nicht nur aus Gründen der Informationsbeschaffung. Denn wenn uns jemand wirklich zuhört, mit Achtsamkeit und Präsenz, absichtslos, einfach da seiend, dann kommen wir selbst – nur durch das »Zugehört-Werden« tiefer in unsere Selbsterkenntnis. Wenn uns jemand zuhört, gehen innere Räume in uns auf, die wir sonst nicht so einfach betreten können. Wir kommen tiefer bei uns an.

Dasselbe geschieht, wenn wir mit unseren Körpern zuhören, mit unseren Händen, Fingern, Lippen. Wenn wir in einer Berührung ganz präsent sind; wohin führt mich der andere Körper, wohin und wie möchte der andere Körper vielleicht meine Hände? Welcher Druck der Berührung ist willkommen, möchte etwas gestreichelt werden, in welchem Tempo? Wo möchte der Körper, dass ich länger verweile? Wo kann sich etwas entspannen und lösen, nur durch präsentes Zuhören über den Körper?

Sabina Tschudi

Die Kunst, loszulassen

Um in diese Räume einzutreten, kultivieren wir also einerseits die Kunst, vom Tun loszulassen, Rollen, Erwartungen und Programme gehen zu lassen. Auch wenn natürlich manchmal ein »Programm«, eine »Routine« angenehm, willkommen und auch passend ist – es gibt kaum etwas in der Sexualität, was aus meiner Sicht keinen Platz hat, außer Schmerzen oder Erniedrigung.1Schmerzen, sexuelle und andere, erzeugen Panzerungen, also Verhärtungen, im Körper. Wir ziehen uns zusammen und verlieren dadurch Sensitivität. Der Körper verdichtet sich, auch seelisch werden wir enger. Techniken, die Schmerzen und Erniedrigung, also psychische Schmerzen, beinhalten, führen also langfristig nicht zu Heilung, sondern zu Panzerung. Panzerung wiederum schränkt unsere Persönlichkeit und unseren Entwicklungsradius ein, denn Schmerzen bleiben im Körpergedächtnis gespeichert, ebenso natürlich wie Lust. Wir werden schmerzvoller. Andererseits ist es ebenso wichtig, den anderen ganz loszulassen: Wir können nur den Raum öffnen, wenn wir dem Gegenüber (das kann auch ich selbst sein) ohne Erwartungen begegnen, das schließt auch die Erwartung von Verschmelzung ein. Wir können uns nur auf die Reise begeben und schauen, wohin sie uns führt – Resonanz und Einklang zu erwarten, steht uns da ebenso sehr im Weg wie andere Normen. In diesem Ansatz haben also auch »verpatzte« Begegnungen, Missklänge, missverstandene Körper-Gespräche wertfrei ihren Raum – sie führen nicht zu Enttäuschung oder unterschwelligen Vorwürfen, sondern allenfalls zu Gelächter über eine schräge, vielleicht misslungene Situation. Denn die Bereitschaft war da, die Offenheit, die Ehrlichkeit und die Transparenz. Nicht zuletzt bedingt dieser Ansatz auch, mein Gegenüber (auch mich selbst) nach einer Begegnung wieder in den eigenen Raum gehen zu lassen. Ein Erleben von Verschmelzung und Heilung zu integrieren, ohne das Verschmelzen in den Alltag hinüberziehen zu wollen. Mich also von meinem Gegenüber auch wieder zu differenzieren, in meinen eigenen Raum zurückzukehren, den/die andere/n bei sich lassen zu können. Denn wir können nicht das Abenteuer zueinander antreten, wenn wir schon ganz beieinander sind. Auch hier ist es eine Spannung des Aushaltens von Nähe und Distanz, von ich und wir, wo beide Seiten ihren Wert und ihre Wichtigkeit haben. Und eine Randbemerkung: Vielleicht klingt das nun nach einer sehr sachten und leisen Körpersprache. Unsere Körper haben aber viele Tonlagen und Klänge. Mal wispern sie zueinander oder schnurren vor Behagen, knurren und bewegen sich gar in leicht kannibalisch angehauchter Lust, quietschen vor Vergnügen, grunzen etwas ungehalten und vieles mehr. Ich plädiere nicht für eine Form von Tempo oder Intensität, sondern für ein Horchen und Lauschen auf den Moment. Denn Momente sind einzigartig und stehen für sich allein.

Sprache

Unsere deutsche Sprache macht uns solche Ansätze wahrlich nicht immer leicht. Denn Sprache beschreibt nicht nur Realität, sie schafft auch Realitäten und filtert unsere Wahrnehmung. Da haben wir also das Geschlecht, also etwas Schlechtes, in der Gegend der Scham, und unsere Sprache suggeriert dann ein Eindringen, wenn es um den Geschlechtsverkehr geht. Nun ja, wer möchte schon ein Eindringling sein? Oder, dass jemand in einen eindringt? Dann haben wir Geschlechtsverkehr. Kommt vielleicht sogleich die Polizei und regelt den Verkehr? Entschuldigung, wenn ich so in Sie eindringe, gnädige Frau/gnädiger Herr? Wir können also auch ganz gut eine neue Sprache finden, eine Sprache, die das, was wir eigentlich kommunizieren und austauschen möchten miteinander, auch benennt. Also nicht eindringen, sondern vielleicht durchdringen; Schoß anstatt Scham; Gegut anstatt Geschlecht. Orgasdarf anstatt Orgasmus. Und viele von uns haben in der Tat auch ihre eigene intime Sprache entwickelt, die ihrem Erleben und Sein andere Qualitäten eröffnet als unser Schuldeutsch.

Sexualität als Heilkraft – Naturwissenschaftliches

Zu guter Letzt möchte ich ein paar naturwissenschaftliche Erkenntnisse über Sexualität als Heilkraft teilen. Denn ich finde das wissenswert, ermunternd und auch witzig. Hier ist die Rede von ganz alltäglicher Sexualität, das heißt geschlechtlichen (Inter-)Aktionen, die sich vielleicht nicht in einem erweiterten verschmolzenen, zuhörenden und lauschenden Raum abspielen. Vorweg dies: Sexualität ist medizinisch gesehen ein Heilmittel und krankheitsvorbeugend. Das menschliche sexuelle System wird primär neuronal gesteuert, das Nervensystem steuert das Hormonsystem. Sex findet also tatsächlich »im Kopf« statt oder nimmt zumindest seinen Ursprung im Hirn. Die hormonelle Steuerung geht vom Stammhirn und Zwischenhirn aus, während der Orgasmus auf der spinalen Ebene ausgelöst wird. Das limbische System im Hypothalamus steuert die emotionale Ebene sowie die Evaluation von Lust und Unlust. Alle Sexualhormone werden auf der Basis von Cholesterin gebildet. (Und nein, ein erhöhter Cholesterinspiegel steigert leider nicht die Libido!) Die Basis von sexueller Aktivität, von Libido, ist Testosteron, bei Männern wie auch bei Frauen. Im weiblichen Körper wird Testosteron in Östrogen umgewandelt. Östrogen ist DAS Attraktivitätshormon – Männchen im Tier- und Menschenreich werden durch Östrogene »magisch« angezogen. Dies ist ein wesentlicher Schachzug der Evolution, die Erhaltung der Art wird dadurch gesichert, denn Männchen werden von fruchtbaren Weibchen angezogen.  Während der sexuellen Aktivität selbst werden verschiedene weitere Botenstoffe freigesetzt: Noradrenalin und Adrenalin steuern die sexuelle Erregung. Dopamin ist das »Belohnungshormon« nach geglückter Aktion/Interaktion und erzeugt Glücksgefühle (Schokolade hat ebenfalls die Eigenschaft, zu Dopaminausschüttung zu führen, anders als beim Sex sind die gesundheitlichen Nebenwirkungen jedoch langfristig nicht zu empfehlen😊). Oxytocin schließlich ist das Bindungshormon, das durch Nähe, Kuscheln, aber auch Orgasmen ausgeschüttet wird und den Wunsch nach Bindung und Nähe weiter verstärkt.2Ein 2010 publiziertes Buch von Marnia Robinson, einer Juristin (Das Gift an Amors Pfeil) postuliert, dass Orgasmen die Oxytocin-Ausschüttung hemmen und dass Orgasmen bindungsschädlich und daher zu vermeiden seien. Dies ist naturwissenschaftlich nicht haltbar und widerlegt. Zudem wäre die menschliche Gattung schon seit Tausenden von Jahren ausgestorben, wenn dies wahr wäre: Zum Beispiel waren die Frauen in frühen Jäger- und Sammlerinnen-Gesellschaften unbedingt auf Männer für die Versorgung und den Schutz der Kinder angewiesen. Hätten Männer wegen Orgasmen und mangels Bindung die Frauen verlassen, hätten Frauen und Kinder sich weder ernähren noch schützen können und nicht überlebt, und die menschliche Gattung hätte keine Zukunft gehabt. Neben den wohltuenden psychischen Wirkungen gibt es auch medizinische Studien, die nahelegen, dass Oxytocin präventiv für Krebs bei Frauen wirkt (Die Welt 2011, Danielle Bengsch). Eine im Jahr 1997 veröffentlichte Studie des Forscherteams um George Davey Smith von der Universität Bristol im British Medical Journal kommt zum Schluss, dass zwei wöchentliche Orgasmen bei Männern über 45 das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu versterben, um 50 Prozent senken. Mit anderen Worten: Sexuelle Aktivität ist nicht nur ein Ausdruck von Gesundheit, sondern Sex und Orgasmen fördern die Gesundheit. Im Journal of Sexual Medicine, Oktober 2009, bestätigt der italienische Forscher Emmanuele A. Jannini, Professor für Endokrinologie, Andrologie und Sexualmedizin der Universität Rom, diese Ergebnisse: Für ihn ist Sex der beste Weg, sich fit zu halten. Die Herzfrequenz und der Blutdruck sind im Durchschnitt beim Sex etwa so hoch wie bei einem strammen Spaziergang, wie ihn viele Ärzte zur Gesundheitsvorsorge für das Herz-Kreislauf-System empfehlen. Im selben Journal kommen Prof. J. Bitzer, Basel, und andere zum Schluss, dass Sex gefahrlos medizinisch empfohlen werden kann, um die Gesamtgesundheit und die sexuelle Gesundheit eines Menschen und Paares zu fördern. Sie schlussfolgern, dass auch die psychologischen Impulse, die durch die Produktion von Androgenen ausgelöst werden, gesundheitsfördernd sind.

Frauen in und nach der Menopause

Für uns alle gilt gleichermaßen, dass mit zunehmendem Alter die Hormonproduktion absinkt. Diese Absenkung beginnt mit etwa 25 Jahren und nimmt bei Männern graduell ab. Bei Frauen wird die Östrogenproduktion durch die Wechseljahre radikal und von heute auf morgen abgebaut. Was passiert nun in den Wechseljahren? Im weiblichen Körper reduziert sich die Östrogenproduktion in der Menopause um über 90 Prozent. Dank der nach wie vor vorhandenen Testosteronproduktion haben aber auch post-menopausale Frauen ihr internes »Östrogenkraftwerk« – anders jedoch als in jungen Jahren wird das Östrogen erst DURCH die sexuelle Aktivität freigesetzt. Mit anderen Worten: DURCH sexuelle Aktivität wird Östrogen freigesetzt, während in jüngeren Jahren das Östrogen mit dazu beiträgt, erst einmal sexuell aktiv zu werden. Ein radikaler Wandel, der auch einen radikalen Identitäts- und Verhaltenswandel mit sich bringt!

Wie wir gesehen haben, ist Östrogen auch ein Attraktor; evolutionsbiologisch eine sinnvolle Strategie, denn so werden »Männchen« unbewusst von »Weibchen« angezogen, die reproduktionsfähig sind. Frauen verlieren durch die Wechseljahre diese hormonelle Anziehung auf Männer. Was in vielen Frauen – und Männern – zu Identitätsfragen führt, denn die unbewusste biochemische Anziehung entfällt. Frauen – und oft ihre Partner/innen – müssen sich sexuell neu erfinden und finden. Die hormonellen Veränderungen haben zur Folge, dass Frauen in und nach der Menopause erst einmal weniger Libido erleben. Die gute Nachricht aber ist, dass Frauen DURCH die sexuelle Aktivität selbst ihre Libido wieder steigern können. Oder wie ein schönes französisches Sprichwort sagt: »L’appetit vient en mangeant – der Appetit kommt beim Essen.« Sexuelle Aktivität in und nach der Menopause ist also die »heilende Medizin«, welche die Libido von Frauen hormonell erhöht und aufrechterhält. Mit anderen Worten: Auch wenn es für viele Frauen in der Zeit des Wandels Disziplin braucht, um sexuell aktiv zu bleiben, lohnt sich der Einsatz unbedingt, vom Lustgewinn her wie auch von den positiven langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen her.

Männer und das Älterwerden

Auch Männer durchleben natürlich Phasen des sexuellen Wandels, meist nicht gleich abrupt wie Frauen. Dennoch nimmt bei vielen Männern die Libido mit dem Altern etwas ab. Erektionen sind vielleicht nicht mehr so stark oder bleiben phasenweise aus. Dies ist in einer Welt, die auf »jung und stark« ausgerichtet ist, nicht immer einfach. Jedoch ist es eine Tatsache. Es lohnt sich auch hier, die zeitgeistlichen Normen loszulassen, anstatt sich den Normen unterlegen oder nicht genügend zu fühlen. Denn Sex hat viele Formen, mit und ohne Penetration – und Penetration ohne Erektion gehört mit zu den erfüllenden und sinnlichsten Erfahrungen für viele Praktizierende.

Fazit

Für Frauen und Männer gilt: Sexuelle Aktivität auch im Älterwerden und im Alter hält nicht nur gesünder, verlängert das Leben und reduziert das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern führt, hormonell und emotional bedingt, auch zu mehr Glück, Bindung und Lebensfreude. Forscher vom University College in London haben 2005 in einer groß angelegten Studie nachgewiesen, dass subjektives Glückserleben das Stresshormon Cortisol im Blut maßgeblich reduziert und zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beiträgt. Eine Forschergruppe von der University of Maryland School of Medicine kommt zu einem ähnlichen Schluss, nämlich dass die Wände von Blutgefäßen davon profitieren, wenn jemand häufig lacht, es also lustig hat: Das Endothel, gewissermaßen das Innenfutter der Blutgefäße, wird durch Gelächter geweitet und dadurch geschmeidig gehalten.3Spiegel Wissenschaft 19.4.2005. Was könnten wir anderes daraus ableiten, als dass … ja dass es gesund ist, klug, lebensfördernd, glückserzeugend, uns sexuell zu betätigen? Also, worauf warten wir noch? 😊
Sabina Tschudi

Zur Autorin

Sabina Tschudi leitet zusammen mit ihrem Mann Johannes Schröder Body De-Armoring® in Europa. Sie ist Humanwissenschafterin, studierte Sexualtherapeutin, Medizinfrau und seit fast 40 Jahren auf dem Spirituellen Sonnentanzweg der Süßen Medizin aus den USA unterwegs. Sabina Tschudi lebt in der Schweiz.

bodydearmoring.ch

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