Sabine Lichtenfels und Dr. Dieter Duhm

Sabine Lichtenfels und Dr. Dieter Duhm – Und sie erkannten sich

Wie eine angemessene sexuelle Beziehung zwischen den Geschlechtern zu mehr Frieden auf Erden führen kann

Als langjährige Aktivisten und Gründer der Gemeinschaft Tamera setzen sich Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels für die Heilung von Liebe und Sexualität ein und engagieren sich für die Aufhebung der Trennung von Eros und Religion. Darüber schrieben sie vor wenigen Jahren das Buch „Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt«. Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt daraus.

»Himmel und Erde sind aus einer ursprünglichen Brautnacht hervorgegangen.«

Wir, die Autoren dieses Beitrages, leben seit 40 Jahren zusammen. Wir trafen uns vor 40 Jahren in Süddeutschland und haben uns instinktiv miteinander verbunden, tiefer, als wir es damals wussten. Es war nicht einmal Liebe auf den ersten Blick, sondern eher eine langsame und kontinuierliche Treue, die schließlich auch die schwierigsten Bewährungsproben bestanden hat. Was ist es, das zwei Menschen für immer zusammenführt? Je näher wir uns kamen, desto mehr spürten wir, dass wir es mit einem Thema der ganzen Welt zu tun hatten. Was zwischen zwei Liebenden geschieht, geschieht in der einen oder anderen Form überall auf der Erde. Denn nichts quält uns mehr als die Verzweiflung in der Liebe, und nichts ist schöner als eine Liebe, die in Erfüllung geht.

Wir haben beides durchlaufen, aber es gab einige Dinge, die uns immer fester zusammenbrachten: Das war unsere gemeinsame Freude an der sinnlichen Liebe – auch mit anderen, und die Erfahrung, dass daraus keine Eifersucht entstand. Dann unser gemeinsames Engagement in der Friedensbewegung und schließlich unser absoluter Glaube aneinander. In dieser ungewöhnlichen Kombination beschlossen wir gemeinsam, ein Projekt für die Heilung der Liebe einzuleiten. Irgendwo steht der schöne Satz geschrieben: »Himmel und Erde sind aus einer ursprünglichen Brautnacht hervorgegangen.« Wäre das nicht eine schöne Grundlage für einen neuen Schöpfungsbericht? Er begänne nicht mit dem Sündenfall von Adam und Eva, sondern mit ihrer Liebe.

Unabhängig von allen Geschlechterthemen unserer Zeit, unabhängig von unserer momentanen sexuellen Identität steht im Kern der menschlichen Gesellschaft das Zusammenleben der Geschlechter. Ihre Anziehung oder Abstoßung, ihre sexuellen Signale und Verkabelungen, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen ziehen sich wie ein geheimes Nervensystem durch die ganze menschliche Gesellschaft. Mann und Frau – die beiden Hälften des Menschen sehnen sich nacheinander, verfehlen sich, bekämpfen sich und suchen sich, bis sie sich gefunden haben. Sie müssen sich finden, nicht nur zu zweit, sondern weltweit, denn erst dann kann die tiefste aller Wunden heilen, die Wunde in der Liebe.

Dieter Duhm: Eros und Religion

Eine heilende Bewegung wird durch die ganze Evolution gehen, sobald die ersten Menschen und Gemeinschaften in der Lage sind, die sexuellen und die spirituellen Kernkräfte des Lebens harmonisch zu verbinden. Die Kräfte von Religion und Spiritualität standen in der bisherigen Kulturtradition außerhalb der leiblichen Kräfte von Sex und Eros. Ungeheuer tief ging die Spaltung zwischen Geist und Körper in fast allen religiösen Strömungen. Die im Namen Gottes vollzogene Abkehr vom Körper und alleinige Hinwendung zum Geist ist die historische Reaktion auf die Schwierigkeiten mit der sinnlichen Liebe. Kirchenvater Augustin hat in seinen »Bekenntnissen« diesen Vorgang gründlich beschrieben. Er war vom Dämon des Sexus so sehr verfolgt, dass er sich nur noch durch ein totales Verbot dagegen behaupten konnte. Hier liegt der wahre Ursprung für die Verachtung der Sexualität: Sie war schlicht zu mächtig. Vor diesem psychologischen Zusammenhang erscheinen die von allen Großreligionen verordneten grausamen Bestrafungen weiblicher Sexualität, die Steinigungen, Hexenverbrennungen und vieles andere in einem neuen Licht.

Hier liegt der wahre Ursprung für die Verachtung der Sexualität: Sie war schlicht zu mächtig.

Zur neuen Matrix gehört definitiv und für immer ein neues Verhältnis von Eros und Religion. Mit Religion meine ich nicht das, was uns überliefert worden ist, sondern ich meine eine Form des wiedervereinten Lebens. Religion und Eros kommen beide aus derselben Urquelle des Lebens. Dort sind die himmlische Liebe und die erotische Liebe für immer vereinigt. Dazu ein Zitat von Walter Schubart aus seinem Buch »Religion und Eros«: »Das Religiöse und das Geschlechtliche sind die beiden stärksten Lebensmächte. Wer sie für ursprüngliche Widersacher hält, lehrt die ewige Zwiespältigkeit der Seele. Wer sie zu unversöhnlichen Feinden macht, zerreißt das menschliche Herz. Und es ist zerrissen worden! Wer über Religion und Eros nachsinnt, muss den Finger an eine der schmerzlichsten Wunden legen, die in der Tiefe des Menschen blutet.«

An der religiösen Urquelle erfahren wir dasselbe Ur-Glück wie an der erotischen.

Wenn wir auf die Sexualgeschichte und die Religionsgeschichte der Menschheit schauen, erkennen wir die durchgehende Diskrepanz der beiden Lebenskräfte. Solange dieser Gegensatz besteht, wird es keinen planetarischen Frieden geben können. Religion und Eros müssen zusammenkommen. Religion ohne Eros wird kalt, dogmatisch und fanatisch. Eros ohne Religion wird verschlingend oder langweilig. In der Zusammenkunft von Eros und Religion lösen sich die Grenzen beider auf, beide gewinnen einen neuen Inhalt. An der religiösen Urquelle erfahren wir dasselbe Ur-Glück wie an der erotischen. Es wird auf einem geheilten Planeten keine Religion mehr geben, die sich gegen den Eros wehrt, und auch keine mehr, die sich gegen andere Religionen abgrenzt. Man wird es nicht einmal »Religion« nennen, denn es ist das Heilige schlechthin, aus dem alles Leben kommt, und dieses Heilige ist überall auf der Erde dasselbe.

Ich gehöre keiner bestehenden Religion an. Ich komme aus einer christlichen Familie, bin aber schon als junger Mann aus der Kirche ausgetreten. Trotzdem sehe ich Erneuerungsbewegungen in der christlichen Kirche wie auch in anderen Religionen, mit denen wir im Namen einer humanen Welt kooperieren können. Die großen Weltreligionen haben die sexuelle Liebe bekämpft, aber ursprünglich kommen sie – wie alle Religionen – aus einer menschheitlichen Grunderfahrung. Es ist die Erfahrung einer heiligen Urmacht in der Schöpfung, die wir »Gott« genannt haben. Diese heilige Kraft existiert immanent im Leben und in allen Wesen. Alle sind mit ihr verbunden, alle sind an die heilige Matrix des Einen Lebens angeschlossen, sonst könnten sie nicht leben.

Sabine Lichtenfels und Dr. Dieter Duhm

In der Wiedervereinigung des Erotischen mit dem Heiligen steckt ein Schlüssel für die Neugeburt einer humanen Menschheit. Wir können diese Wiedervereinigung des Erotischen mit dem Heiligen, diese ursprüngliche Brautnacht des »Hieros Gamos« (heilige Hochzeit) bei einem einzelnen Partner erleben, aber gemeint ist sie darüber hinaus für das Zusammenleben der Geschlechter insgesamt. Hier, in den Tiefen der Seelen und der Leiber, ereignet sich die geistige Wandlung, die Metanoia, der »gnostische Sprung«, zunächst für Einzelne, dann für die ganze Welt. Und hier, tief im Leib, liegt auch die Sehnsucht allen Fleisches nach Erlösung und Erfüllung. Hier ist ganz real der Punkt, an dem sich entscheidet, ob die Apokalypse zum Untergang oder zur Heilung führt. Es gibt einen Punkt in der Beziehung der Geschlechter, an dem sich entscheidet, ob auf Erden Krieg oder Friede sein wird – dieser Punkt dreht sich um die endliche Anerkennung unserer eingefleischten sexuellen Natur und um die endliche Anerkennung jener weiblichen Quelle, die nichts als Wärme und Liebe verströmt, wenn sie nicht mehr bedroht und verleugnet wird.

Gesehen werden heißt in diesem Sinne geliebt werden.

Die Heilung der Liebe ist nicht beschränkt auf die geschlechtliche Liebe. Sie umfasst ein neues Verhältnis zu allen Mitgeschöpfen. Wir brauchen eine neue Einordnung unserer Menschenwelt in die Gesamtwelt des Lebens, um uns vom Urschmerz der Trennung zu heilen. Letztlich geht es um die Wiederverbindung mit »Omega«, dem göttlichen Zentrum aller Dinge. In der »Begegnung von Zentrum zu Zentrum vollzieht sich die Liebe« (Teilhard de Chardin). Je mehr sich unsere Augen öffnen, desto mehr sehen wir im Liebespartner die Umrisse eines heiligen Wesens. Ich habe festgestellt, dass dieses Wesen überall durchscheint, wo Vertrauen entsteht. Jede menschliche Seele scheint dieses Wesen als eigenen entelechialen Kern (Zielgestalt) in sich zu tragen. Gesehen werden heißt in diesem Sinne geliebt werden.

Die Gemeinschaften der Zukunft könnten aus Menschen bestehen, die diese Gestalt aneinander gesehen haben. Zwischen ihnen kann es keine Feindschaft geben. Tatsächlich war es diese innere Gestalt, die wir alle in der glückseligen Zeit der ersten Liebe aneinander entdeckt hatten. Für den jungen Mann ist das umschwärmte Mädchen der pure Himmel: »Errötend folgt er ihren Spuren und ist von ihrem Gruß beglückt …« (Schiller) Wir haben in solchen Erlebnissen etwas aufeinander projiziert, was tatsächlich in uns war. Wir haben einander verklärt, und in dieser Verklärung steckte die Ahnung einer kommenden Wollust, einer körperlichen und einer seelischen. Nach allen Enttäuschungen haben wir immer wieder die Möglichkeit, uns zu dieser Gestalt der Liebe emporzuarbeiten, bis wir keine Projektion mehr brauchen, weil sie sich in realer Liebe verwirklicht hat.

Die Erregung

Der Eros ist eine numinose Macht, er bombardiert uns aus dem Inneren mit einem Verlangen, dem wir kaum entrinnen können. Die Erregung kann so stark werden, dass Menschen die Kontrolle verlieren und ihre Gier mit Gewalt befriedigen wollen; es kann aber auch das Gegenteil eintreten: dass wir im »entscheidenden« Augenblick nicht mehr in der Lage sind, »es« zu tun. Die sexuelle Impotenz tritt oft gerade bei denjenigen auf, die am heftigsten von der erotischen Macht ergriffen worden sind. Es ist nicht ein Mangel an sexueller Energie, sondern im Gegenteil: der Überschuss eines Verlangens, das noch nicht umgesetzt werden kann, weil es an eine innere Schranke stößt, die wir kaum benennen können.

Hinter dem Wort »Schüchternheit« steckt oft ein gewaltiger, namenloser innerer Aufruhr. Als ich mit 20 Jahren meine erste große Liebe in München besuchte, ahnte ich die kommende sexuelle Begegnung, meine erste im Leben, aber ich konnte nicht. Für mich war sie eine Göttin. Verehrung und Sex passten noch nicht zusammen. Wir haben noch einen Wein getrunken, dann musste ich mich schnell verabschieden. Alles Weitere wäre noch zu viel für mich gewesen. Ich habe dann ein Bild gemalt, das unsere bebende Erregung darstellt, ich nannte es die »Weinglasüberreichung«. Ich erinnere mich noch heute an die Strophen eines Gedichts von Hugo von Hofmannsthal: »Jedoch, wenn er aus ihrer Hand den leichten Becher nehmen sollte, so war es beiden allzu schwer, denn beide bebten sie so sehr, dass keine Hand die andre fand und dunkler Wein am Boden rollte.« Diese Szene habe ich damals gleich nach dem Erlebnis gemalt.

Im Verhältnis der Geschlechter hat sich im Laufe der Generationen eine wechselseitige Projektion aufgebaut, die noch nicht mit der gegenwärtigen Realität übereinstimmt. Verehrung und Wollust wollen zusammenkommen. Im Leib der Menschheit steckt seit langem eine große Erregung. Wenn sie kein gesundes Ventil findet, kann auf Dauer nur Unheil entstehen. Diese Erregung kündet von einer kommenden Lust und Wollust auf beiden Seiten. Wir stehen vor dem Tor der »verbotenen Lust«, vor dem Tor der sogenannten »Sünde«, die in der kirchlichen Literatur oft als »Erbsünde« bezeichnet wird, die sexuelle Vereinigung von Adam und Eva. Heute durchschauen wir die Zusammenhänge. Wir wollen den Eros von jeder Sünde befreien, ohne ihm den Reiz zu nehmen, den er als Sünde besaß.

Bejahung der sexuellen Wildnatur

Der französische Jesuitenpater Teilhard de Chardin hat uns einen erstaunlichen Satz hinterlassen: »Das Lebendigste des Greifbaren ist das Fleisch, und für den Mann ist das Fleisch die Frau.« Dieser Satz stammt von demselben Mann, der die große »Hymne an das Weibliche« geschrieben hatte. Was hat er mit diesem Satz gemeint – und was wird heute damit assoziiert? Es geht um die Bedeutung des »Fleisches« in der Begegnung der Geschlechter. Fleisch ist hier ein Wort für das Innerste des Leibes, seine nackteste und authentischste Bewegung im Zustand der Lust, die »orgonotische Urbewegung« (Wilhelm Reich). Sie gehört zu den Grundfunktionen des Lebendigen. In diesem Zustand bilden die Leiber zweier Liebender eine energetische Einheit, beseelt von den Heilströmen und Freudeströmen des Lebens und der Schöpfung. Ist es nicht erstaunlich, dass ein katholischer Jesuitenpater das gewusst hat?

Es kann in der Welt keinen Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist.

Ich bringe noch ein weiteres Zitat aus der Literaturgeschichte, ebenso überraschend wie das vorige. Es stammt von dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer: »Wenn man mich fragt, wo denn die tiefste Erkenntnis jenes inneren Wesens der Welt, das ich den Willen zum Leben genannt habe, zu erlangen sei oder wo er die reinste Offenbarung seiner selbst erlangt, so muss ich hinweisen auf die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge, Ziel und Zweck alles Daseins.« (aus seinem Buch: Die Welt als Wille und Vorstellung)

Wie gesagt: Es kann in der Welt keinen Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist. Es gibt vor allem einen Punkt in der Beziehung der Geschlechter, an dem sich entscheidet, ob auf der Erde Krieg oder Friede sein wird. Ich meine den Punkt der fleischlichen Begierde und der Wollust, wo in animalischer Freude der Leib geliebt und genossen wird. Man hat sich »zum Fressen gern«. Hier fließt ein Starkstrom, der alles andere überschwemmen kann, die Leidenschaft des Fleisches. Ob aus einer »animalischen« Vereinigung Glück oder Unglück hervorgeht, hängt davon ab, in welchem Geist sie vollzogen wird. Das Zauberwort für das Glück heißt »Kontakt«. Kontakt ist ein tiefes Wort, es kommt aus dem lateinischen »contingere« und bedeutet wörtlich »zusammenhängen«. Wo sich zwei Seelen leiblich im Sinne dieses Kontakts begegnen, da entsteht Liebe, sexuelle Liebe. Das ist der Punkt, wo Sex und Liebe zusammenkommen – im Urgrund des Eros. Es ist diese wilde, geile, unwiderstehliche Kraft, die bislang aus unserem Kulturkanon verbannt wurde. Im Namen der Wahrheit und der Liebe muss sie endlich angenommen und bejaht werden. Glück oder Unglück einer Gesellschaft hängen auch davon ab, inwieweit sie in der Lage ist, zu ihrer eigenen Triebwelt ein positives Verhältnis zu finden. Solange die wilde Seite des Eros verdrängt wird, wird sie untergründig weiterschwelen und zu unkontrollierten Eruptionen führen. Auf dem Grund unserer Gesellschaft gärt ein Bodensatz von sexueller Gewalt, von Sadomasochismus und Schlachtungsfantasien, deren fürchterliche Auswirkungen sich bisher in allen Kriegen gezeigt haben. Alles, was in sadistischen Onaniefantasien oder brutalen Comics erdacht wird, ist auch irgendwo und irgendwann auf der Erde getan worden. Die Enthüllungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass solche Barbareien bis in die höchsten Stufen der Gesellschaft gepflegt werden. Im Kraftfeld verdrängter Sexualität entsteht ein furchtbares Verlangen nach Grenzüberschreitung, perverser Befriedigung und sexueller Gewalt. Dieses Verlangen wartet nur darauf, die passende Gelegenheit zu finden. Die ganze Kriegsgeschichte der Menschheit möge auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Sabine Lichtenfels und Dr. Dieter Duhm

Wo der Mensch versucht, elementare Kräfte seiner Natur zu unterdrücken, werden sich diese Kräfte irgendwann in Gewalt verwandeln und unendliche Grausamkeiten erzeugen, wie sie in der Geschichte der letzten Jahrtausende oft genug verübt worden sind und heute weltweit weiterhin verübt werden. Die Lebensenergie verwandelt sich in Todesenergie. Die Opfer waren fast immer Frauen. Heute kommen im Rahmen der globalen Kinderpornografie noch unzählige Kinder dazu. Wir haben heute ein weltweites Feld von sexueller Gewalt auf unserer Erde: die Folge unserer Verfehlung in der Steuerung der sexuellen Lebenskräfte. Sollte jemals auf unserem Planeten eine echte Friedensbewegung entstehen, dann soll sie nicht mehr die vielen sexuellen Entgleisungen beklagen, sondern sie muss herausfinden, wie die Erde von der sexuellen Gewalt befreit werden kann. Sie hat dann an einem ungewöhnlichen Thema zu arbeiten. Die Unterdrückung elementarer Sexualkräfte führt zu weiteren Perversionen, die vor allem an Tieren begangen werden. So werden beseelte Wesen, Kühe und hochintelligente Schweine, als »Nutzvieh« betrachtet und für die Fleischproduktion gezüchtet. In »Schlachthöfen« werden sie dann für den menschlichen Konsum vorbereitet. Allein der Begriff des »Fleisches« hat im kollektiven Unbewussten der pornografischen Gesellschaft fatale Assoziationen erzeugt. Fleisch ist nicht mit der Vorstellung einer Liebkosung, sondern mit der Vorstellung des Schlachtens verbunden. Dies gilt nicht nur für das Fleisch der Tiere. Liegt nicht schon in der Schlachtung eine spürbare sexuelle Komponente? Ich habe schon als Kind meine sexuellen Regungen gespürt, wenn ich sah, wie Schweine geschlachtet wurden. In falsch geschalteten Männerhirnen haben sich Assoziationen zwischen Weib und Schwein entwickelt, über die wir kaum zu sprechen wagen. Wäre nicht diese kollektive und historische Entgleisung passiert, so hätte sich gegenüber dem lebendigen Fleisch eine vollkommen andere Haltung entwickelt, eine Haltung der Liebe und Verehrung, denn im Fleisch steckt das ganze Wunder des Lebens. Ich weiß nicht, ob Männer, die das Fleisch der Frau lieben gelernt haben, noch in der Lage wären, Schweine zu schlachten. Die wilde Lust kommt ebenso aus der göttlichen Quelle wie die Liebe, sie ist ein Teil der heiligen Matrix. Diese Kraft konnte in den großen Religionen nicht angenommen werden, sie wurde in die Gosse geworfen. Dort müssen wir sie aufheben, von allen Vorurteilen reinigen und in angemessener Weise feiern.

Die Akzeptanz der Wildnatur, die Akzeptanz der fleischlichen Wollust, die Akzeptanz unserer göttlichen Animalität ist eine Bedingung für eine Welt ohne Krieg. Wenn Vertrauen zwischen den Geschlechtern entsteht und wenn dieses Vertrauen bis in die intimsten Regionen der Wollust hineinreicht, wenn dieser Vorgang nicht nur zufällig und kurz zwischen zwei Partnern stattfindet, sondern ein integraler Bestandteil einer neuen erotischen Kultur geworden ist, dann entsteht wirklich etwas Neues. Das Hologramm der Angst hat sich in ein Hologramm des Vertrauens gewandelt. Neue Botenstoffe werden im Körper der Menschheit ausgeschüttet. Es wird physiologisch kaum noch möglich sein, einander umzubringen. Durch die Verdrängung und Verheimlichung der animalischen Gelüste kam eine Lüge in die Welt, die seitdem in der Form eines latenten Geschlechterkrieges weiterwirkt. Der patriarchale Kampf gegen Weib und Leib hat in Frauen wie auch in Männern tiefe Wunden hinterlassen. Jahrtausende hindurch war es einer Frau kaum möglich, ihre sexuelle Urnatur zu offenbaren, ohne ihren guten Ruf oder gar ihr Leben zu riskieren. Um diese Urnatur noch einmal mit anderen Worten zu beleuchten, möchte ich einige Sätze zitieren, die Clarissa Estès in ihrem Buch »Die Wolfsfrau« geschrieben hat:

»Auf dem tiefsten, unerforschten Grund ihrer weiblichen Psyche kann jede Frau auf eine Urkraft stoßen, die dort verschüttet liegt: ihre naturgegebene Wildheit, voller richtiger Instinkte, leidenschaftlicher Kraft und alterslosem Wissen. Diese Quelle weiblicher Urenergie gilt es für die moderne Frau wiederzufinden. (…) Wir alle sind von einer Sehnsucht nach wilder Ursprünglichkeit erfüllt. Aber es gibt kaum ein kulturell akzeptiertes Mittel, das diese Art von Heißhunger stillt. Man hat uns Scham vor diesem Verlangen anerzogen, und so haben wir gelernt, unsere Gefühle hinter langen Haarmähnen zu verbergen. Aber ein Schatten der wilden Frau verfolgt uns bei Tag und auch bei Nacht. Wo wir auch hingehen, ein Schatten trottet hinter uns her – und immer einer auf vier Beinen.«

Sabine Lichtenfels: Der Sex und das Heilige

Sexualität ist eine mächtige Quelle für das Empfangen und die Zeugung des Lebens. In der Sexualität kommen wir im Urgrund der Schöpfung an. Sexualität ist tiefste Einheitserfahrung im Fleisch. Das Tier in dir darf sein! Und es steht nicht im Widerspruch zu deiner großen geistigen und göttlichen Seele, die du auch bist. Das Wunder der Sexualität vollzieht sich nicht nur bei der Zeugung von Lebewesen. Jede Wirklichkeit geht aus einem solchen Wunder hervor. Die Berührung von Himmel und Erde ist von durch und durch sinnlicher Natur! In dem Maße, wie die Menschheit die Sexualität aus dem heiligen Raum verbannte, konnte es zu der grausamen Entstellung ihres eigentlichen Wesens kommen. In dem Maße, wie das Animalische verleumdet wurde, konnte sich der Krieg auf der Erde durchsetzen.

In vielen Frühkulturen wurde das Animalische als göttliche Kraft verehrt. Was wir für primitiv hielten, erweist sich als zukunftsweisend. Wenn das Tier in uns zu lange unterdrückt wird, wird es grausam. Dann bleibt immer etwas in den Kerkern unseres Unterbewussten gefangen und bricht hervor, sobald unsere moralischen Systeme brüchig werden. Erst wenn das Animalische als göttliche Kraft wieder voll anerkannt ist, kann und wird die Befreiung und Befriedung der Seele stattfinden, und ihre Sehnsucht findet Erfüllung. Es lohnt sich, bei diesen Worten einen Moment innezuhalten und die Mitteilung, die darin liegt, aufzunehmen. Sexualität führt uns, wenn sie in vollem Vertrauen vollzogen wird, an unseren göttlichen Ursprung.

Hier liegt unsere heiligste Quelle so offenbar vor uns. Wenn wir diesen Gedanken zulassen, ragt eine andere Gegenwärtigkeit in unser Leben, ein Mysterium. Eine unendliche Liebesmacht strömt aus dieser Erfahrung. Und eine ebenso unendliche Heilkraft. Wenn wir in uns selbst die Heilkräfte des Lebens wieder zulassen, rückt der Liebesakt ins Zentrum unserer Kultur. Aus dieser Wahrnehmung entstehen neue Archetypen – und eine neue Kunst. Wie verbinden sich das Männliche und das Weibliche im heiligen Raum? Dafür wollen neue Ikonen entstehen, die von gegenseitiger Hingabe und Achtung geprägt sind und die in uns und späteren Generationen ein neues Vertrauen wecken. Künstlerinnen und Künstler aller Länder, Poeten und Schriftsteller, vereinigt euch, um diese neuen Ikonen zu schaffen!

Die Urliebe

Der Eros ist der Ursprung, die tiefe Quelle, aus der immer Neuschöpfung geschieht. Mann und Frau sind Ausdruck der polaren Kraft der Welt, die alles Leben hervorbringt. Im Tiefsten ist der gesamte Schöpfungsvorgang ein erotischer Liebesakt. Die Erde entstand aus einem Zeugungsvorgang des männlichen und des weiblichen Aspektes der Welt – wenn wir so wollen, von Gott und Göttin. Das Leben ist das Kind ihrer Liebe. Der männliche Aspekt will immer tiefer eindringen in den Leib, in die Materie, und der weibliche will liebend erkannt und durchdrungen sein. Im Zentrum sind sie eine Einheit.

Die Frau – das Weibliche in uns – ist unmittelbar verbunden mit dem Körperlichen, der Materie. Sie lässt ihren Körper sprechen – für sie ist es der Tempel des Geistes – in der Art, wie sie sich bewegt, wie sie bei einer Pflanze verweilt und plötzlich deren Wesen versteht. Es ist ein hoher Zustand der Gegenwärtigkeit. Die Frau will von ihrem Wesen her einfach lieben. Sie will immer kommunizieren, ihr ganzes Wesen ist auf Kooperation ausgerichtet. In diesem Raum gibt es keine Gewalt und keine Feindschaft, keine Angst und keine Notwendigkeit, sich zu schützen. Es gibt nur Kontakt.

Sabine Lichtenfels und Dr. Dieter Duhm
Bild gemalt von Dieter Duhm

Der Mann – das Männliche in uns – will denkend erfassen, aktiv greifen und begreifen. Der Mann hat seinen Anker im geistigen und metaphysischen Bereich. Von dort wendet er sich der Materie zu, dem Fleisch, dem Weiblichen. Wenn dieser Vorgang ungestört läuft, dann ist Friede, dann entsteht religio: Rückbesinnung auf unsere Quellen, Religion der Verbundenheit.

Alle unsere wahren Liebesbeziehungen sind eingebunden in diesen kosmischen Urvorgang. In jeder wahren sinnlichen Liebesbeziehung spiegelt sich das Ganze, und durch die Einbettung in den universell-sinnlichen Schöpfungsvorgang beginnt eine erotische Kultur zu erblühen. Auf einer Ebene ist die Antwort auf das Elend unserer Zeit sehr einfach: Sie besteht darin, aus der Hypnose der patriarchalen Epoche zu erwachen und die Grundtatsache des Lebens wieder anzunehmen.

Ich bin Seele, ich bin Fleisch

Wird es in einer neuen Kultur noch Religionen geben? Eines ist sicher: In den Tempeln, Kathedralen und Altären der Zukunft werden die Elementarkräfte von Eros und Sexualität nicht mehr unterdrückt, sondern die Heiligkeit des Eros steht im Zentrum der humanen Kulturen, zelebriert und geachtet.

So spricht in mir das ewig Weibliche:

Eros und Religion sind die beiden Grundkräfte, die zusammenkommen müssen, damit Heilung geschehen kann. Denn ich HABE nicht nur eine Seele – ich BIN Seele. Ich bin eine Seele, die der göttlichen Kraft einen Wohnsitz bieten möchte. In der Kabbala nennt man mich Scheschina – die Seele oder das Haus Gottes.

Als Seele habe ich mich in einem Körper beheimatet. Das ist gemeint mit den Worten: Das Wort ward Fleisch. An dieser Spannung zwischen Logos und Eros – Wort und Leiblichkeit – entscheidet sich etwas, an dem die ganze Menschheit entweder aufersteht oder zugrunde geht. Die sexuelle Welt und die göttliche Welt wollen sich in mir als Einheit zeigen. Dieses Wunder möchte in allem Irdischen, Leiblichen, Menschlichen wiedererkannt und gesehen werden. In meinem Fleisch liegt das Geheimnis des Sexus. In dem Moment, wo der Mann dies in mir wahrnimmt, wo er meine Seele leiblich erfassen kann, beginnt mein großes Leuchten. In diesen Momenten werden beide Leiber vom Wunder der sexuellen Liebe durchdrungen. Und sie erkannten sich: In diesem Moment bin ich angekommen!

Liegen aber die spirituellen Regionen der Seele und die sexuellen Regionen des Fleisches zu lange in Konflikt, entstehen in mir Ungeduld und latente Wut. Das ist das große Desaster der männlichen Religionen: Sie haben der Erde und allem Leben die Seele entführt. Ich aber werde geweckt durch die bewusste Berührung meines fleischlichen Aspektes. Dort offenbart sich das gesamte Wunder der göttlichen Welt. Hier zeigt sich auch das wahre Geheimnis der Dauer in der Liebe. Hier erhält alles Weibliche seine ursprüngliche Kraft zurück. Was wir Gott nannten, wird zur Zelebration des Lebens. Die ganze Erde ist ein sich offenbarendes Geheimnis der sinnlichen Liebe! Es geht hier nicht nur um den direkten Sex – das auch –, sondern es geht ganz allgemein um den richtigen Umgang mit der Seele in allem materiellen Leben.

Als Frau bin ich für den Mann die Offenbarung des beseelten Fleisches. Um mich offenbaren zu können, brauche ich den erkennenden Mann. Indem du, Mann, mich erkennst, bist du auch mein Geburtshelfer – so wie ich dir helfen kann, dich an meinem Leib als Liebhaber zu erkennen. In mir entdeckt Adam Lilith und Eva zusammen in einem Leib. Er entdeckt sie wie zum ersten Mal. Und sie fühlt sich von ihm gesehen und erkannt. An dieser Stelle entscheidet sich, ob Krieg oder Friede sein wird. Aus dieser Quelle entsteht das immer neue Leben.

Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm

Zu den Autoren:

Sabine Lichtenfels und Dr. Dieter Duhm sind seit über 40 Jahren ein Paar im Rahmen der freien Liebe. Und sie sind mehr als das: Sie sind Partner im Aufbau eines Projektes, das ebenfalls seit 40 Jahren an dem Modell einer Friedenskultur arbeitet: Tamera, das Projekt der globalen Heilungsbiotope. Im Umfeld ihrer Partnerschaft ist ein großes Netzwerk entstanden, zu dem Gemeinschaften, Friedensinitiativen sowie ökologische, spirituelle und soziale Forschungsprojekte gehören; durch ihr Beispiel und ihre Hilfe wurden Hunderte, ja Tausende von Menschen dazu inspiriert, Alternativen zum kapitalistischen System zu suchen, ihren Weg in der Liebe zu hinterfragen und sich für mehr Wahrheit und Vertrauen zu entscheiden. Durch sie öffneten unzählige Menschen überhaupt die Augen dafür, dass eine andere Welt, ein anderes Leben nicht nur möglich sind, sondern bereits existieren.

Tamera.org

sabine-lichtenfels.com

Bildnachweis: © Adobe Photostock

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