Ilan Stephani

Ilan Stephani – Die Nüchternheit der sexuellen Ekstase

Ein Plädoyer dafür, jeden Moment unseres Daseins voller Lebendigkeit und Ekstase zu erleben

Unsere Kultur ist geprägt von kollektiven Traumata. Menschen leiden unter Minderwertigkeit und Selbstzweifel. Das macht auch vor der Sexualität nicht halt. Ilan Stephani möchte die Unterscheidung von Sex und Nicht-Sex aufheben, denn alles Leben ist orgasmisch. Dazu braucht es aber eine bestimmte Nüchternheit, um die Ekstase zu etwas Alltäglichem und immer Erlebbarem zu machen.

Tattva Viveka: Ilan, du bist dafür bekannt, dass Sexualität für dich ein wichtiger Schlüssel auf dem Weg zu einem gesunden und ekstatischen Leben ist. Was ist deine Arbeit?

Ilan Stephani: Meine Arbeit spiegelt schon sehr wider, wie ich auch privat unterwegs bin. Es ist eigentlich die große Angst davor, das Leben zu verpassen, bevor es vorbei ist. Mit anderen Worten, meine Arbeit mit Menschen – und auch mit mir – gilt wirklich der Frage »Wie gehen wir damit um, dass in unserer Seele der Wunsch brennt, ganz und gar lebendig sein zu wollen? Dass wir uns wirklich spüren wollen?«. Und gleichzeitig leben wir aber seit ungefähr 4.000 Jahren in einer Kultur, die so ziemlich alles tut, um unlebendig zu sein. Tragischerweise werden wir sehr lebendig geboren und das, was wir dann als Erziehung, Konditionierung, Anpassung oder Zivilisation beschreiben, können wir zusammenfassen als ein graduelles Unlebendigerwerden. Mit anderen Worten, wenn ich mit anderen Menschen arbeite und mit ihnen etwas übe, trainiere oder lerne, ist das eigentlich kein Lernen, es ist das Verlernen dessen, was wir in dieser Kultur gelernt haben.

Ich gehe davon aus, unser Nervensystem kennt den Rückweg, und unser Kopf kennt ihn nicht.

Sexualität ist für mich aus verschiedenen Gründen heraus ein Schlüsselthema, unter anderem deshalb, weil wir in dieser Kultur in Bezug auf Sex sehr viele Dinge lernen, die uns eher unlebendiger machen. Das zu verlernen, finde ich, ist ein wichtiger Ansatz – also nicht an sich zu arbeiten, um weiterzukommen, sondern aufzuhören, sich verbessern zu wollen, weil wir zu unserer Vollständigkeit zurückfinden. Ich bin keine vollständige Kopie, sondern ein vollständiges Original. Wenn wir uns dazu bekennen, ein Original zu sein, im Sex wie in allem anderen, bekommen wir oft so viel Angst, dass wir lieber daran festhalten, in den Augen von Papa und Mama und dem Ex-Freund richtig zu sein. Und an dem Punkt geht es darum, gemeinsam zu üben und notfalls auch dazu bereit zu sein, den Weg alleine zu gehen. Das ist ein bisschen das Paradox, aber auch die Polarität oder die Einheit meiner Arbeit, die sehr über den Körper funktioniert. Ich gehe davon aus, unser Nervensystem kennt den Rückweg, und unser Kopf kennt ihn nicht.

Die Hölle, vor der wir Menschen zu Recht Angst haben, ist das Nichtspüren und nicht das Spüren.

TV: Du gehst also davon aus, dass es eine ursprüngliche Lebendigkeit gibt, die etwas Spontanes und Undomestiziertes hat?

Ilan: Ja, das finde ich schön ausgedrückt. Es gibt in dieser spontanen Lebendigkeit Aspekte, die in dieser Kultur fast unbekannt sind. Spontaneität heißt, ich habe kein Problem damit, dass das Leben anders läuft, als ich es geplant habe. Denn ich bin ja selbst anders, als ich es geplant habe. Wenn keine Reibung zwischen der Lebendigkeit und mir existiert, dann habe ich keine Angst mehr davor, dass das Leben mich überrascht oder dass ich mich überrasche. Die Hölle, vor der wir Menschen zu Recht Angst haben, ist das Nichtspüren und nicht das Spüren. Das Spüren von Trauer, Schmerz oder Angst, Liebe oder Ekstase ist nicht das Problem.

Wir verkaufen uns alle, dass wir supergut dastehen, weil wir heimlich wissen, dass wir es nicht tun.

TV: Du sprichst von gesellschaftlicher Konditionierung. Wenn wir meinen, gesellschaftlicher Konditionierung oder der Meinung anderer nicht zu entsprechen, können Scham- und Schuldgefühle aufkommen. Wie kann ehrliche Selbsterforschung da helfen?

Ilan: Ich würde sagen, wenn unsere Scham- und Schuldgefühle hochkommen, ist das so etwas wie ein Alarmsignal im Nervensystem, das sagt: »Jetzt bist du an einer heißen Spur dran!« Das ist dein Alarmsignal für eine Ehrlichkeit, die du so gestern noch nicht hattest, in dieser Tiefe dir selber gegenüber. Wir könnten das bis zu dem Punkt treiben, wo wir nicht mehr das Bedürfnis haben, einander genügen zu wollen: »Ich habe kein wirkliches Problem damit, dass ich deine Erwartungen – in der Außenwelt – enttäusche.« Aber das, was ich von dir in mich eingebaut habe, nämlich einen Ersatz dafür, dass ich nicht mehr selber voll und ganz zu mir stehen kann, ist das Problem. »Also sag du doch bitte, dass ich es wert bin, zu existieren.« Ich bin süchtig, diesem inneren Bild zu entsprechen. Wenn wir auf der Ebene von ehrlicher Selbsterforschung reden, wird uns bewusst, dass wir uns vor uns selbst schämen. Da hängen Ehrlichkeit und Schamgefühl zusammen, denn wir verkaufen uns alle, dass wir supergut dastehen, weil wir heimlich wissen, dass wir es nicht tun.

Es ist viel zu ungesund, an sich zu zweifeln.

TV: Diese Scham gegenüber sich selbst ist ja auch ein Minderwertigkeitsgefühl oder ein Gefühl von »Ich bin es nicht wert, zu existieren«. Welche Erfahrung hast du da mit den Gruppen und den Menschen gemacht, mit denen du arbeitest? Wie weit ist das verbreitet?

Ilan: Oh, das sind von 100 Prozent ungefähr 110 Prozent, die davon betroffen sind. Ich würde sagen, es ist ein zwangsläufiges Kulturprodukt. Eine Kultur, die Menschen in eine Form von Normierung bewegen will, muss im ersten Schritt einen energetischen Mangel erzeugen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Meine körperliche Energie und meine orgasmische, ekstatische Bereitschaft, das Leben zu genießen, quellen nicht den ganzen Tag vor sich hin, und dann kommt die Kultur und sagt: »Ilan, hier oben [zeigt auf die Stirn] bitte ein paar dünne Glaubenssätze einbauen, dass du es nicht wert bist.« Das funktioniert nicht, weil die Energiefontäne, die wir sind, das Ganze über Nacht wieder auseinandernehmen würde. Es ist viel zu ungesund, an sich zu zweifeln. Diese Dinge, die wir später als Glaubenssätze bezeichnen, können nur so tief greifen, weil vorher wirklich ein energetischer Grundkollaps in unserem Nervensystem passiert ist. 

Ilan Stephani

Unser energetisches Durchschnittsniveau, das, was wir als gesund und als okay bezeichnen, ist eine energetische Depressionskatastrophe von absolut kollektivem Ausmaß. Das heißt, wir verlieren in dieser Kultur auch ein bisschen das Gefühl dafür, wofür wir hier eigentlich angetreten sind. Wenn wir das gar nicht mehr auf dem Schirm haben, wie lebendig, echt und mutig Menschen eigentlich sind, dann hören wir irgendwann auf, so bewusst darunter zu leiden. Da fängt dann das Nichtspüren an. Dann sitzen wir in der Falle, weil wir dann eine Haltung annehmen wie: »Ich wäre gerne mal satt, gebt mir genug Brotkrumen.« Als wir auf die Welt kamen, sagten wir: »Ich will satt sein, gebt mir ‘ne Torte.« Das ist irgendwie klüger. Dieses Leben hält Torten bereit. 

Die Minderwertigkeit, die wir später psychisch oder mental erleben, ist eigentlich ein energetischer Mangelzustand, den wir gelernt haben und den wir körperlich gesehen wieder verlernen können und verlernen wollen. Es braucht halt eine Form von Besessenheit – also zumindest in meinem Fall. Ich sage immer dazu, ich bin ganz bestimmt ein harter Fall. Zur Vorsicht einfach, um Leute vorzuwarnen. Wir müssen auch alle gemeinsam besessen sein, sonst hat das nicht genug Juice.

TV: Ich fand den Vergleich gerade so schön mit der Torte und den Brotkrumen. Inwieweit würdest du das auf das Thema Sexualität anwenden?

Ilan: So eins zu eins. Tatsächlich glaube ich, Sexualität ist ein schönes Beispiel dafür, und es ist vielleicht auch das beste Beispiel. Es ist das, wo wir ja in dieser Kultur auch alle noch so rummunkeln: »Ja, die anderen mit den anderen Partnern, den anderen Vibratoren und den anderen Sexstellungen, die haben irgendwie alle ein ganz tolles Sexleben. Und du kannst das auch haben, du musst nur ein bisschen mehr an dir arbeiten.« Im Sex erzählen wir uns schon noch von dem Schimmern dieser Urerinnerung, wie frei und wie glücklich Ekstase ist. Wir sagen auch, im Sex ist Ekstase möglich. Aber dann wieder: »Jetzt zweifle bitte an dir, verändere dich, beneide die anderen und bezahle am besten an irgendwen viel Geld, damit die dich in dieses tolle Sexleben reinbringen.« 

Und je mehr Stress wir aufgeladen haben, desto schwieriger ist der Zugang zur Ekstase.

Das ist ein sehr geeigneter Wassertropfen, der den ganzen Ozean spiegelt, könnte ich sagen. Eine Ebene, die in unserer Kultur Stress auslöst, ist die Vergangenheit der Kriege, der Patriacharte, also alles Dinge, in denen menschliche Kulturen sich noch nie über lange Zeit stabil reguliert im Vertrauen aufeinander beziehen konnten. Das heißt, wir haben speziell Sexualität und speziell Frausein, Mannsein, Anderes-Geschlecht-Sein mit Stress aufgeladen. Und je mehr Stress wir aufgeladen haben, desto schwieriger ist der Zugang zur Ekstase. Das heißt, Sex hat zum einen ein extrem hohes Potenzial an Glück und Selbstgewissheit und gleichzeitig eine solche Ladung an kollektivem Trauma. Da ist viel zu holen und viel zu heilen, für alle Geschlechter, kein Geschlecht ist ausgenommen und keine sexuelle Orientierung ist ausgenommen.

TV: Kannst du noch was zu diesem Energetischen sagen? Was verstehst du darunter?

Ilan: Im Wesentlichen kommen wir auf die Welt und haben geöffnete Meridiane, geöffnete Nadis. Wir erleben die Innenwelt, das, was innerhalb meiner Hautgrenze eingeschlossen ist, als etwas, durch das Wellen von Empfindung gehen können. Und wenn jemand meinen Fuß kitzelt, dann schüttele ich mich bis zu den Haarspitzen, weil das so kitzelt. Also ich habe dieses Gefühl von Energie, aber in meinem ganzen Körper. Diese Ganzkörperlichkeit taucht später nie wieder auf. Wir gehen mit schmerzendem Rücken die Treppe hoch, das machen höchstens noch die Oberschenkelmuskeln. Aber nachdem wir uns den ganzen Tag verausgabt haben, hätten wir gerne abends multiple Ganzkörperorgasmen. Tagsüber sind wir fragmentiert und abgespalten, aber in abgegrenzten Bereichen taucht Ganzkörperlichkeit wieder auf. Ich denke, wir haben gar keinen Mangel an Ganzkörperorgasmen im Sex, wir haben einen Mangel an Ganzkörperlichkeit in unserem Alltag und im Sex fällt es uns auf. 

Ilan Stephani

TV: Was meinst du, was sind die größten Missverständnisse, die es heutzutage in Bezug auf Sexualität in unserer Gesellschaft gibt?

Ilan: Schöne Frage! Ich meine, die Liste ist sicherlich unvollständig und ein bisschen wie meine persönliche Hitliste der Missverständnisse. Die Hitliste der sexuellen Katastrophen in dieser Kultur: Erstens würde ich sagen, so zu tun, als gäbe es Sex und Sexualität. Wir haben diesen Stress beim Thema Sex, und in anderen Bereichen glauben wir, diesen Stress so nicht zu haben. Wenn wir das jetzt sexuell nennen, dann kreieren wir so was wie »Jetzt ist alles anders! Jetzt ist alles special!«. Aber das ist es nicht. Wenn wir beide miteinander reden und ich mit dir in den Stress gehe, statt zu atmen und meinen Bauch spüren zu können, dann brauchen wir beide mit Sex oder Intimität gar nicht erst anzufangen. Dann sollten wir uns auch nicht live treffen, weil dann mein Nichtspüren nur noch stärker wird. Sex braucht eine Grundentspannung, damit ich mich mit mir sicher fühlen kann, was bedeutet, ich bin genug und ich bin richtig. Das bedeutet auch, dass ich mich mit dir sicher fühlen kann und uns miteinander ein Raum gezeigt werden wird, wenn wir spontan und ohne Erwartungen bleiben und wir langsam werden. Dieser Raum wird uns von unseren Körperinnen, von unserem Nervensystem, von unseren Instinkten gezeigt. Es ist der Raum, der wirklich sehr, sehr leicht in den Genuss und vielleicht auch noch in die Orgasmen führt. Darum geht es aber gar nicht. Es ist ein Nachteil, dass wir immer zwischen Sex und Nicht-Sex unterscheiden, weil wir dadurch einen riesigen Abstand zwischen Dingen haben, die eigentlich alle dasselbe meinen: Lebendigkeit, egal in welcher Situation.

Ein weiterer Aspekt ist die Vorstellung, dass wir für Sex etwas lernen müssten. Das würde ich gerne umformulieren in »Für deinen perfekten Sex musst du einfach nur alles verlernen, was du gelernt hast«, denn darunter hast du eine orgasmische Urlebendigkeit. Ob diese dann im Sex oder im Nicht-Sex auftaucht, ist nicht entscheidend. Da finde ich wichtig, dass wir in den Konzepten weich bleiben.

Ich finde es tragisch, wenn wir glauben, Sexleben fängt an, indem man mit den Partnerinnen oder Partnern Sex hat. Ich kann das mit dem Kosmos, mit mir oder zum Beispiel mit dem Essen haben, weil ich so gerne esse und dabei in absolute Glückseligkeit rauschen kann. Wir können das Prinzip Orgasmus aus Genitalien und Sex herauslösen. Orgasmen sind energetische Grundphänomene, die jeder lebende Körper ständig hat. Im Gähnen, im Lachen, im Sex, im Nicht-Sex haben wir ständig eine Art von Energie. Sie bewegt sich autonom durch mich hindurch aus einer Selbstorganisation heraus. Aus Freude daran, dass Energie sich über Lebendigkeit freut, bewegt sie sich in einen anderen Zustand. Das ist der Moment, den wir als Orgasmus erleben: ein Zulassen, dass Energie ungestört in uns fließen kann, ruhen kann und sich verwandeln kann. Es ist so was wie eine elegante Selbstorganisation von Lebensenergie in mir, der ich nicht im Wege stehe. Das Nicht-im-Weg-Stehen ist das Angenehme. Das bezeichnen wir als Orgasmus. Das sollte nicht als rein sexuelles Phänomen gehandelt werden, weil es das einfach nicht ist.

Ilan Stephani

Des Weiteren haben wir natürlich diese schlimmen Missverständnisse durch patriarchale Verletzungen von Männern und Frauen und allen anderen Geschlechtern. Seit 4.000 Jahren sollen wir entscheiden, ob wir Männer oder Frauen sind. Das ist gewaltsam, denn ich bin weder das eine noch das andere. Da ist ganz viel Verletzung und Demütigung in Bezug auf die Vielfalt unserer Geschlechter passiert. In heterosexuellen Beziehungen sind die Frauen durch diese Angst vor den männlichen Übergriffen, die in Patriarchaten vorkommen, oft sehr blind dafür, wie sehr sich die männliche Sexualität und die Männer wünschen, die Frau sexuell zu erreichen. Sie wollen ihr Sicherheit schenken statt Unsicherheit. Das hat nichts mit Männern an sich zu tun, sondern mit Männern in Patriarchaten, also mit männlicher sexueller Konditionierung. Es ist diese große Angst davor, von einem Mann überwältigt und schlimmstenfalls vergewaltigt zu werden, die mal eben in allen Frauen steckt, einfach vererbt, kollektives Trauma, kulturelles Trauma. Es ist ein Drama, wie sehnsüchtig Männer in dieser Kultur herumlaufen, um Frauen zu erreichen, weil sie in ihrer Kultur nicht mehr als – ich nehme jetzt mal ein ganz pathetisches Wort – sexuelle Heilungsmenschen wahrgenommen werden können. Viele Männer sind Menschen, die total bereit sind, in eine andere Generation und in ein anderes sexuelles Zeitalter hineinzugehen. Diese Großzügigkeit der männlichen Sexualität ist für Frauen sehr unsichtbar, und ich glaube, für Männer ist zwar sichtbar, aber nicht nachzuvollziehen, wie sehr sich Frauen im Patriarchat gedemütigt und abgewertet fühlen. Das ist, glaube ich, für Männer sehr schwierig wahrzunehmen, weil Männer sagen: »Wir lieben euch! Was sollen wir denn noch tun? Wir rennen hier rum und sagen, wir lieben euch, und kaufen euch Blumen rauf und runter, wir bezahlen jedes Abendessen, ihr seid toll, ihr seid perfekt!« Es sitzt ganz tief in Frauen drin, dass sie nicht genug sind. Vielleicht, weil sie im Endeffekt ganz häufig zu wenig Vaterenergie oder was auch immer in ihrer Kindheit hatten. Ich glaube, dass das neben vielen anderen Punkten im Sex oft zu Missverständnissen führt. Da sind einige Stressschichten, die uns im Sex womöglich auf die Füße fallen. 

TV: Ich finde es sehr bemerkenswert, dass diese Unterscheidung in Sex und Nicht-Sex schon ein Teil des Problems ist. Dann wäre ja das ganze Leben eine sexuelle Erfahrung?

Ilan: Es ist alles eine sexuelle Orgie. Deswegen habe ich so viel Spaß, jetzt ist alles klar! Ja, aber tatsächlich glaube ich – das ist jetzt rein hypothetisch –, wenn sich ein Säugling in seiner strampelnden, vergnügten, freien Art durch seine Lebendigkeit von Moment zu Moment hindurchspürt und -atmet und wir uns als Erwachsene mit den sexuellen Highlights von Verschmelzung, Sternstunde und Orgasmus danebenlegen, dann wäre es maximal vergleichbar oder der Säugling hätte immer noch die Nase vorn. An sexueller Ekstase ist über das konkret Angenehme hinaus nützlich, dass wir bei der Gelegenheit merken, wie das Leben in Fülle sein kann. 

Ilan Stephani

So ist Leben eigentlich gedacht. Auch dafür ist es wichtig, zu erkennen, dass dieser gute Orgasmus mir etwas gezeigt hat: In mir, in dir, in der Welt sind erstaunliche Empfindungen möglich. »Diese Spur aus wiedererwachender Lebendigkeit, die werde ich nicht loslassen, bis ich es mehr und mehr in mein ganzes Leben gezogen habe.« Insofern sage ich oft, wir brauchen einen nüchternen Umgang mit Ekstase. Denn die Nüchternheit ist dieses Disziplinierte. Wenn ich mit Menschen arbeite, kommen wir sehr oft in sehr geöffnete, intensive Zustände. Ich fordere sie dann auf: »Konzentriere dich! Das hier ist real! Jetzt geh nicht darin unter, dass hier tolle Musik, eine geile Gruppe oder eine super Übung ist. Das ist es nicht! Das, was du erlebst, bist du! Jetzt halt dich fest. Nimm es mit. Denn morgen ist ein Montag. Und wenn du am Montag wieder funktionierst, dann wär’s besser gewesen, du hättest am Wochenende keinen Spaß gehabt. Hör auf, die Dinge exklusiv zu machen, die dein Geburtsdesign sind.«

Diese Nüchternheit der Ekstase ist heutzutage sehr wichtig, denn ansonsten bleiben wir immer eine naive Partykultur, die heimlich deprimiert ist. Interessanterweise erkennen wir, dass Tantra das immer schon wusste. Sie haben immer gesagt, geh in die Ekstase, aber geh nicht in ihr unter. Bleib in dem Boot, um im Ozean zu surfen. Du bleibst mit deinem Bewusstsein da. Du gehst nicht in den Knock-out. Du fällst nicht ins Koma. Wenn du dich wegmachen willst, dann kannst du dir auch Drogen reinziehen. Aber darum geht es hier nicht. Du bist die Droge. Die Nüchternheit ist eine disziplinierte Art von Anwenden und Wiederholen-Wollen.

TV: Was ist dein größter Aha-Moment, den du in Bezug auf Sexualität erlebt hast?

Ilan: Als ich erkannte, dass sexuelle Traumata, auch meine sexuellen Traumata, die Highways in die Ekstase sind. Das hätte ich nie gedacht. Mich hat das Thema Sex immer interessiert, aber nicht, weil ich so besonders sexuell bin, sondern einfach nur, weil ich irgendwie so einen Instinkt dafür habe, dass etwas hier suboptimal läuft. Da ist noch Luft nach oben. Ich fragte mich, wo ich ansetzen soll, um so effektiv wie möglich Einblick in das zu gewinnen, was schiefläuft, aber auch um den Zugang zu dem zu finden, was ich tun kann, damit es wieder gut läuft. Das hat mich unter anderem zu dem Thema Sex geführt. Und ich habe mir in meinen sexuellen Experimenten auch einen Haufen sexueller Traumata reingezogen, das will ich überhaupt nicht schönreden. Trauma ist nicht schön. Trauma ist gefrorene Hölle im eigenen Nervensystem – es ist wirklich Terror. Aber in der Scham und dem Schweigen unterzugehen, ist eine Katastrophe, die wir weitervererben. Und das können wir besser machen als Kultur. Wir können eine traumafreundliche Kultur etablieren, solange wir Traumata produzieren und in uns tragen. 

Ilan Stephani

Das ist mal das Mindeste, denn dann kann ich zeigen und teilen, wo ich sexuell oder in anderen Bereichen verwundet bin. Meine Scham wird zum Beispiel mein Highway in eine Form von Empfindsamkeit, Selbstliebe, Langsamkeit und Intimität hinein. Es hat so viele Aspekte. Beispielsweise habe ich in ganz allgemeiner Traumatherapie gelernt, dass ein Nervensystem Traumastress durch Vibration entlädt. Wenn ich stehe oder liege, schüttele ich mich. Sehr viel später wurde mir klar, wenn ich sexuelle Energie bin, will ich mich eigentlich auch schütteln. Ich habe aber gelernt, dass man so was nicht macht. Als Frau muss man dann stöhnen, als Mann darf man nicht stöhnen. Das muss hier alles schön sexuell aussehen. Mein Nervensystem nutzt sexuelle Lebensenergie, was einfach nur eine Form von Lebensenergie ist, um in diesem gehobenen Energiezustand noch mehr zu vibrieren, noch mehr Stress zu entlassen. Ob wir also von sexuellem Trauma reden oder von Trauma überhaupt, Trauma zu heilen, fließen zu lassen, ist der Highway in eine größere Intimität mit mir selber hinein. Es ist ein größerer Mut, der eben nicht daher kommt, dass ich einen Muskelpanzer habe und »dir das schon besorge, Schätzchen«, sondern der eben daher kommt, dass ich vor mir selber nicht mehr wegrenne. Diese Art von innerer Kraft, die aber an Hingabe statt an Kontrolle gekoppelt ist, lernen wir im Trauma. Wir lernen im Trauma, zwischen Entspannung und Kollaps zu unterscheiden und ein weiches, friedlich gegründetes Gefühl von Leben zu genießen. So können wir orgasmisches Erleben genießen, was ein stärker tragender Strom in meinem Alltag ist als jede Art von Highlight, Urlaub oder Verliebtheit. Das heißt, es gibt sehr viel Körperwissen, sehr viel Lebendigkeitswissen, es gibt sehr viel Wissen über Liebe, Menschlichkeit, Sterblichkeit, Präsenz, auch über Disziplin und über Besessenheit. Hätten wir – auch in Bezug auf sexuelle Traumata – eine freundlichere Kultur, die uns einlädt, darüber zu sprechen und darüber Sex zu lernen, dann ginge es für alle Beteiligten schneller. Trauma ist der Highway, nicht die gute Performance. Geh mit dir oder mit jemand anderem ins Bett. Zieh dich ganz aus, zieh deine Seele ganz aus. Sag es alles, zeig es alles. Alles, wo du nicht genügst. Fang so an. Zerreiße es alles vor dem Vorspiel. Es kann nicht schlimmer werden, denn ich habe sowieso versagt und wir sind sowieso nicht genug. Dann entsteht das Feld ohne Richtig und Falsch und dort treffen wir uns – um Rumi zu zitieren.

TV: Man kann Sexualität auch für ungesunde Zwecke ausbeuten, oder?

Ilan: Ja, ich würde sogar sagen, wenn wir Menschen durch das Verschweigen und Einfrieren unserer sexuellen und anderer Traumata lernen, an unserer eigenen sexuellen Begabung und Vollständigkeit zu zweifeln, dann wird irgendeiner in der Außenwelt ankommen und anfangen, uns auszubeuten. Pornos, Prostitution, unfassbar viele Bereiche, die mit Sex zu tun haben, ernähren den gesamten Kapitalismus. Ohne das würde wahrscheinlich nicht mal die Bierbranche so viel umsetzen. Sexualität wird überall ausgebeutet. Mode, Make-up, nichts ist denkbar, ohne dass Menschen sexuell im Kern an sich zweifeln. Sexuell im Kern nicht an sich zu zweifeln, heißt, eine Definition von Sexualität zu finden, die dich wirklich glücklich macht, die dich wirklich entspannt. Wenn ich mir einrede: »Okay, ich zweifele nie wieder sexuell an mir, ich bin eine Sexgöttin«, assoziiere ich damit wiederum Bilder, die mich total unter Stress setzen, weil es halt einfach nicht mein Stil ist, dabei einen Purzelbaum zu schlagen. Dann lass ich das halt. Also es braucht wirklich eine individuelle Definition von Sexualität und Lebendigkeit. Wenn wir die aber haben, die zu mir in meiner Lebensphase passt und zu dir in deiner Lebensphase passt, dann ist der Weg leichter. Ich bezeichne das oft als ›die Kultur zu untertauchen‹. Eigentlich tauchen wir unter die Kultur, indem wir diese ganzen falschen Schichten einfach mit den Klamotten zusammen aus dem Bett werfen, und zwar am besten alle so früh wie möglich – und dann nie wieder anziehen. 

TV: Du hattest von Präsenz in der Sexualität gesprochen, und jetzt hatten wir das Thema Kontrolle. Wie hängen diese zusammen? Lässt man die Kontrolle eher los, wenn man präsenter wird?

Ilan: Ich finde an dem Wort ›Präsenz‹ schwierig, wie es gehört wird. Es wird oft als eine mentale Tugend wahrgenommen, so ein bisschen wie »Sei ganz präsent. Schau mir einfach in die Augen. Bleib da …«, bis alle so wie hypnotisierte Traumakaninchen einander in die Augen starren und denken: »Endlich habe ich’s gelernt, so macht man Augenkontakt.« Also Präsenz ist erstens etwas Mentales und zweitens etwas, das ich mit der Außenwelt übe beziehungsweise dass ich für ein »Wir« oder für einen Kontakt tue. 

Was unser Nervensystem betrifft, müssen wir uns viel mehr Mühe geben, nicht präsent zu sein. Wir sind Präsenztiere. Aber diese Form von Präsenz schaltet sich erst frei, wenn wir Präsenz körperlich definieren. Präsenz als ganzkörperlicher Zustand bedeutet, im Spüren bleiben zu können, auch wenn das Leben herausfordernde, unerwartete Wendungen oder Situationen mit sich bringt. Insofern halte ich eine Definition von Präsenz für nützlicher, die Präsenz ganzkörperlich versteht. Es ist energetisch, nicht mental. 

Präsenz ist das Design. Finde die Gründe, die dich unpräsent gemacht haben, und lös sie auf. Wenn wir uns dann vorstellen, dass wir als Liebhaber:innen gelernt haben, präsent zu sein, weil es das ist, »worauf Frauen wirklich abfahren« oder »wodurch er sich wirklich sicher fühlt«, dann stieren wir unseren Partner so an und kriegen jede Bewegung so was von mit, dass sich gleich zwei Leute gemaßregelt fühlen. Diese Art von Präsenz ist einfach ein Freeze in den Augenmuskeln. Das ist eine Verwechslung wie Kollaps und Hingabe. Es fühlt sich ähnlich an, weil wir keinen Zugang mehr zu der Essenz haben, die eigentlich gemeint ist. Und eigentlich ist es ein Gegensatz. Was dahintersteht, ist stress- und angstinduziert. Diese Art von Präsenz versuche ich anzuschalten, um zu vermeiden, dass mir die Konsequenzen auf die Füße fallen, wenn ich nicht präsent bin. Das ist aber nicht Präsenz, das ist Vermeidenwollen. 

Wenn ich mit dir im Bett bin, gebe ich mir aus Angst und Stress heraus Mühe, um präsent zu sein. Besser wäre es, zu entspannen, das heißt: »Ilan, dann hör halt auf, präsent zu sein, aber hab ein bisschen mehr Spaß, entspann dich, komm runter, alles läuft blendend. Wir verkacken es einfach beide, okay?« Das, glaube ich, sind die Punkte, die wir oft unbewusst als Stressfaktoren mitschleppen, wenn wir versuchen, besonders präsent zu sein. Ich würde eher sagen: »Werde weniger präsent im Sinne von weniger mindful.«

Ein bisschen leerer oder ein bisschen ausgehöhlter im Kopf und dafür mehr strömend und kribbelnd und schüttelnd im gesamten Körper. Wenn wir diese Art von energetischem Umpolen vornehmen, finden wir uns in einem Grundzustand von Präsenz wieder, in dem wir das Wort gar nicht mehr kennen müssen. Das nehmen wir dann natürlich mit in sexuelle Gegebenheiten, und zwar zum einen, weil wir dann zur sexuellen Situation deshalb Ja sagen, weil wir es wirklich wollen, und nicht aus Torschlusspanik, Angst oder Routine. Zum anderen müssen wir ja präsent sein, um mitzukriegen, wenn Situationen gefährlich werden. Es kann ja sein, dass ich mich mit jemandem einlasse und plötzlich merke, dass das doch kein gutes Match ist. Da muss ich ja präsent sein. Ich kann nicht plötzlich mein Spüren ausschalten und hoffen, dass es schon gut läuft. Hier brauche ich meine Instinkte, damit ich es mitkriege. Das heißt, auch eine ganzkörperliche Präsenz bleibt erst recht da und wird erst recht körperlicher, wenn es unsicher wird, um zu checken, ob das eine Unsicherheit ist, die wir surfen können, oder eine Unsicherheit, wo einer oder beide ein Nein haben. Das ist heutzutage die große Sorge, speziell wenn wir uns die Generationen von sexueller Bildung anschauen. Wo lernen Menschen, präsent zu sein, sodass sie in sexuellen Situationen auf sich selber achten dürfen, die immer auch ein Risiko in sich tragen?

Ilan Stephani

Zur Interviewten:

Ilan Stephani

Leidenschaftliche KörperForscherin und Bestseller-Autorin. Ilan Stephani ist eine Somatische Mystikerin, sprudelnde Ideen-Quelle und liebevolle kulturelle Störfrequenz. Sie widmet sich den Themen Embodiment, Trauma, Sexualität, Gesundheit und Mystik, um individuelle und kollektive Heilung zu unterstützen.

Ilanstephani.com

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