Sarah Rubal - Die Heimkehr der Göttin

Sarah Rubal – Die Heimkehr der Göttin

Unsere mythische Heldinnenreise (Teil 2)

Die alternative Heldenreise der Frau wurde im ersten Teil bis zu dem Punkt des Verrats beziehungsweise des Verlusts geführt. Nun beginnt die Suche der Frau nach sich selbst, der Austritt aus dem Labyrinth, die Transformation in der Unterwelt ihrer Persönlichkeit im Austausch mit ihren archetypischen Kräften und der Göttin und die Gründung einer neuen natürlichen Ordnung.

 

4. Das Labyrinth der Seele

Die Ent-Täuschung löst die Krise aus und ab jetzt irren wir durch das Labyrinth unserer eigenen Glaubenssätze, Prägungen und Überzeugungen. Wir sind erfüllt von Selbstzweifeln, von Angst, von Kummer und Schmerz. Die Einsamkeit frisst uns auf. Die Illusion der Einheit der Paarbeziehung wurde zerstört. Das Gefühl des Getrenntseins ist stark und so irrt die Frau nun durch ein Labyrinth. Wer bin ich eigentlich? Und was ist das für eine Welt, in der ich da lebe? Eine Welt, die mir sagt, ich könnte sein, wer ich will, und mich doch immer wieder in Rollenmuster zwängt, die meine Freiheit beschneiden, ja, die mir sogar Gewalt antun? Von Porno bis Prostitution, von Alltagssexismus bis häusliche Gewalt und Femizid die Welt ist voll von dem, was das Patriarchat Frauen antut, während es uns erzählt, wir seien frei. Auch emotionale Gewalt, psychischer Missbrauch oder schlicht Vernachlässigung sind Teil dieser Täuschung.

Jetzt kann die Frau nicht mehr wegsehen. Sie irrt umher und sucht verzweifelt einen Ausweg, um die Ordnung in ihrer Welt wieder herzustellen. Fatalerweise gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten. Sie kann sich einfach wieder in die nächste Paarbeziehung stürzen. Sie kann trinken, Drogen nehmen, sich betäuben, sich mit Arbeit ablenken. Sie kann vor der Wahrheit davonlaufen. Oder sie trifft die Entscheidung, das Labyrinth verlassen zu wollen.

»Wenn wir uns im Labyrinth befinden, dann ist die Welt ein dunkler Ort. Alles besteht aus Schmerz, Zweifeln und Angst.«

Die Krise wird immer stärker und mit ihr die Verwirrung der Frau. Sie sucht nach einem Ausweg, aber aufgrund des Mangels an Vorbildern, auch in Form von Storytelling und gelebten Archetypen gelingt es ihr zunächst nicht, einen Ausweg zu finden. Wir kennen Frauen, die nach der Trennung von ihrem Mann in Krisen geraten. Auch das kennen viele Frauen. Ihr Mann geht fremd, die Kinder verhalten sich nicht so, wie sie sollen, und an allem ist die Frau schuld. Sogar an ihrem eigenen Leid gibt man ihr die Schuld. Sie soll sich nicht so anstellen, sich nicht gehen lassen, andere bekommen das doch auch hin.

In der Popkultur wird diese Station der weiblichen Heldenreise durch Britney Spears symbolisiert, die sich die Haare abrasiert und von allen für verrückt erklärt wird. Rose und Jack irren auf der Titanic durch das sinkende Schiff, Bella wird von Vampiren verfolgt, Kassandra hat ihren Anfall. Das Buch »Girl on the Train« beginnt mit der Krise, dem Moment, in dem Rachel Watson im Zug sitzt und ihren Ex-Mann beobachtet, ohne sich vollständig an die Vergangenheit zu erinnern oder ihn zu durchschauen. In Rückblenden/Erinnerungen werden dann die vorangegangenen Stationen erzählt. Effi Briest ist den Gaslighting-Techniken ihres Ehemannes ausgesetzt.

Foto von Susan Q Yin auf Unsplash

Das Labyrinth hat viele Aspekte. Es erinnert uns daran, dass wir das Gefühl haben können, im Kreis zu laufen, und immer wieder in denselben Situationen landen, doch in Wirklichkeit nähern wir uns dem Punkt der Mitte an und finden ihn irgendwann. Es kann sich anfühlen wie eine Unendlichkeit, doch irgendwann erreichen wir jenen Punkt. Ein anderer Aspekt ist, dass es Frauen gibt, die nicht aus dem Labyrinth herausfinden, weil sie tief in sich nicht bereit sind, die Überzeugungen aufzugeben, die sie hierhin gebracht haben. Sie können ihr altes »Ich« nicht sterben lassen und sind deshalb dazu verdammt, im Labyrinth zu bleiben.

Wenn wir uns im Labyrinth befinden, dann ist die Welt ein dunkler Ort. Alles besteht aus Schmerz, Zweifeln und Angst. Wir irren umher, haben jede Orientierung verloren und das Gefühl, dass wir wie ein Spielball von den Stürmen des Lebens herumgeworfen werden. Das kann uns bitter machen und zornig, vor allem aber ist es sehr erschöpfend. Wir haben das Gefühl, dass es keinen Ausweg gibt. Wir laufen und laufen, laufen gegen unsere Probleme an, doch wir drehen uns im Kreis. Die Stimmen, die wir hören, scheinen uns zu verhöhnen, wir finden keine Ruhe, liegen nächtelang wach, zerquält und verzweifelt.

»Dieses Brennen, dieses Abstreifen der alten Haut ist ein unendlich schmerzhafter Prozess.«

Wir flüchten uns in Alkohol, Drogen, Ablenkungen, wir betäuben uns mit Arbeit, Sport und Stress bis zur Bewusstlosigkeit und irgendwann ist uns alles egal. Das Leben ist gegen uns und es ist sinnlos, wir wissen selbst nicht mehr, wieso wir weitermachen. Die Krise wird immer stärker und stärker und der Wunsch in uns, einfach aufzugeben, wird immer größer. Doch dort, in der Dunkelheit, dort sind wir nicht allein. Die große Mutter in Gestalt der Hekate sucht uns auf, mit ihren Fackeln, sie bringt Licht, Trost und Hoffnung. Sie lädt uns ein, auf uns selbst zu vertrauen. Sie sagt uns: »Es gibt einen Weg hinaus! Alles, was es braucht, ist deine Entscheidung.« Wenn der Schmerz groß genug ist, dann wird die Frau die Entscheidung treffen, das Labyrinth verlassen zu wollen, auch wenn das bedeutet, dass sie alles verliert, was sie zu besitzen glaubt. Der Weg hinaus aus dem Labyrinth kostet das Leben, das alte, vertraute, unnütz gewordene Ich der überkommenen Überzeugungen, damit ein neues, wahreres Ich geboren werden kann. Es ist ein echter Tod, eine tiefe Transformation, die Annäherung an den Nullpunkt.

Sarah Rubal - Die Begegnung mit dem Wächter
5. Die Begegnung mit dem Wächter

Mit der Entscheidung allein, das Labyrinth zu verlassen, ist es nicht getan. Nun schweben wir im luftleeren Raum, sind irgendwo zwischen Leben und Tod, im Raum, wo alles möglich ist. Das ist ein zugleich beängstigender als auch beunruhigender Zustand. Lebe ich? Oder bin ich schon tot? Plötzlich steht die Frau vor jemandem, der sie auf die Probe stellt. Er sagt ihr: »Du kommst hier nicht vorbei.« Er steht zwischen dem, was die Frau sich so sehr wünscht, und was er von ihr verlangt, ist, dass sie es einfordert, dass sie Einlass zu jenem Bereich des Göttlichen verlangt, an dem sie Heilung findet. Ein unangenehmes Gefühl. Worum geht es? Was immer es ist, das die Frau möchte – Heilung, Freiheit, Erkenntnis – sie muss es beanspruchen und sie muss laut, mit aller Kraft, in das Universum schreien, dass es zu ihr gehört, dass sie es besitzen darf, dass sie würdig ist, eingelassen wird.

Die Frage, die sich an dieser Stelle stellt, ist: »Wie sehr willst du es wirklich?« Die Frau muss alles ablegen, was sie über sich zu wissen glaubt. Von hier aus geht es nur nackt weiter, schutzlos. All ihre Waffen, all ihre angehäuften Gewissheiten, sie muss sie abstreifen. Alle »Wahrheiten« der Oberwelt gelten hier nicht mehr. Ist sie bereit, sie loszulassen? Übertritt sie diese Schwelle, ist nichts mehr, wie es war, es gibt kein Zurück mehr. Deshalb prüft der Wächter sie. Meistens ist es jemand, den wir nicht besonders gut leiden können, eine unangenehme Begegnung, jemand, der uns durch und durch durchschaut und all unsere Ablenkungs- und Selbsttäuschungsmanöver durchschaut. »Ich bin ein Opfer« oder »immer gerate ich an die falschen Männer«, sind solche Selbsttäuschungen.

»Zwar hat der Feminismus große Fortschritte erlangt, doch in unserem Alltag haben viele Frauen ihre Mitte und ihre eigene weibliche Rolle noch nicht gefunden.«

Vielen Frauen gelingt das nicht. Sie schrecken zurück, behalten ihre Rüstungen lieber an, bleiben im Schmerz, irren weiter durch das Labyrinth. Die Frau trifft auf jemanden (oder etwas), das oder der ihr klar macht, dass ein Opfer notwendig ist, um das Labyrinth zu verlassen. Sie muss ihre alten Rollen abstreifen, ebenso alles, was sie über sich selbst zu wissen glaubt. In dem Augenblick, in dem wir entscheiden, das Labyrinth zu verlassen, taucht ein Licht in der Dunkelheit auf. Es ist die Fackel Hekates, die gekommen ist, um uns bei unserer Transformation zu helfen. Mit unserer Entscheidung rufen wir sie herbei und von hier an begleitet sie unseren Weg. Als Beispiel stellen wir uns eine Frau vor, die versucht, sich mit einem sexistischen Chef und einem faulen Partner einzurichten. Sie trifft auf eine Mentorin, die ihr klar macht, dass sie so nicht weitermachen kann. Wir entdecken diese Station auch in Literatur und Film: Rose und Jack schaffen es nicht gemeinsam auf das Rettungsboot, Bella erfährt von den Quileute, welche Bedrohung die Vampire darstellen, Kassandra wird von Paris eine verschleierte Frau als Helena vorgestellt.

Sarah Rubal - Das Sprengen der Ketten
6. Das Abstreifen der alten Haut

Wenn der Schmerz groß genug ist, dann ist die Frau bereit, das zu tun, was der Wächter verlangt. Sie streift alles ab, was sie ausmacht, brennt ihre alte Haut, ihr altes Sein nieder, rasiert sich den Schädel kahl, bis sie nackt dasteht. Alles, was sie einst in der Oberwelt ausmachte, ist vergangen. Sie ist nicht mehr »schön« im Sinne von »sexy«. Sie ist nicht mehr »reich«, nicht mehr »berühmt«, nicht mehr »begehrenswert«. Sie ist nicht mehr »die Frau von dem und dem« oder die »Mutter von dem und dem«.

An jenem Tag, an dem der alte Mann mich im Schwimmbad belästigte, geschah noch etwas. Ich war zu dieser Zeit in einer längeren On-Off-Beziehung mit einem Mann, den ich seit meiner Jugend kannte. Mal war es brennende Leidenschaft zwischen uns, mal war es nichts als toxische Beziehungsgewalt. Ich war zu diesem Zeitpunkt längst so weit, dass ich wusste, dass ich es war, die diese Geschichte in meinem Leben hielt, aber ich hatte Angst davor, loszulassen. Ich war fast 40, ich sehnte mich so sehr danach, geliebt zu werden, eine Partnerschaft zu haben, dass ich die Augen vor all den hässlichen Sachen zwischen uns verschloss und an den guten festhielt.

Dieses Brennen, dieses Abstreifen der alten Haut ist ein unendlich schmerzhafter Prozess. In unserem Leben ist das der Moment, in dem alles auf den Kopf gestellt wird. Wir verlieren Menschen, die auf einmal nicht mehr unsere Freunde sein wollen, weil sie mit diesem »Brennen« nicht zurechtkommen. »Ich verstehe dich nicht mehr« oder »ich weiß gar nicht mehr, wer du bist«, sagen sie. »Ich glaube, du hast dich verloren.« Stimmt! Das ist der Moment, an dem die Magie beginnt. Wenn das Leid groß genug ist, ist die Frau dazu bereit. Sie verlässt ihre Rollen, was zu Irritationen in der Außenwelt führt. Jetzt gilt sie als verrückt oder rebellisch.

Ein Echo dieser Station finden wir bei der mesopotamischen Göttin Ištar, die in die Unterwelt reist, um ihren Mann zu befreien und erst eingelassen wird, nachdem sie ihre Kleidung, ihren Schmuck und all ihre Waffen ablegt. Erst dann darf sie weitergehen. Von hier geht es nur nackt weiter. Wir sind jetzt bereit, radikale Veränderungen durchzuführen. Das alte Selbst haben wir hinter uns gelassen. Rose aus »Titanic« kann nie wieder in ihr altes Leben zurück, sie kann sich nicht einmal sicher sein, dass sie den Untergang der Titanic überlebt, obwohl sie zur privilegierten 1. Klasse gehört. Bella aus Twilight entscheidet sich für Edward (und gegen Jacob) und Kassandras Bruder Troilos wird von Achill ermordet und sie nennt ihn fortan »das Vieh«.

7. Der Urgrund der Knochenmutter

Wer das Brennen übersteht, der gelangt zum Urgrund der Knochenmutter. Hier steht die Zeit still, hier ist der Nullpunkt. Dort sitzt sie, die alte Weise, die alles kennt und alles gesehen hat. Sie kennt all jene, die dir vorausgegangen sind, kennt jedes Leben, jedes Leid, das je beweint wurde, jeden Verlust, jeden Schmerz. Die Frau kommt nackt dorthin, mit geschorenem Haar. Ein großes Weinen ist dort, bei der Knochenmutter, das ganze Weinen der Welt, um all das Leid, das Männer in die Welt getragen haben und das Frauen erduldet haben, doch hier ist auch der Anfang für alles neue, wahre Leben. Eine Weile darf die Frau dort sitzen, darf bei der alten Knochenmutter einen Blick hinter den Spiegel werfen, sehen, wie das Netz des Lebens alles zusammenhält, wie ihre DNA mit der ihrer Vorfahrinnen verwoben ist und wie ihre Töchter ihr Erbe tragen. Erschreckend und schön ist es, was sie dort erfährt. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Ist sie verrückt? Oder tot?

»Was soll ich jetzt tun?«, fragt sie die Knochenmutter.
»Etwas von dir muss hierbleiben«, sagt die Knochenmutter.
»Aber ich habe doch schon so viel verloren«, sagt die Frau.
»Und dennoch«, sagt die Knochenmutter.

Und hier, am Scheideweg, am Scheitelpunkt der Welt, beginnt der Heilungsaspekt der Transformation. Die ersten Abschnitte waren der Reinigung und Befreiung gewidmet, die sich oft schmerzhaft und chaotisch anfühlten. Aber jetzt ist die Frau der Welt »entrückt« und damit auch den Rollen, die man ihr aufdrückt. Sie sieht die Oberwelt aus der Perspektive der Unterwelt und erkennt, was alles dort nicht stimmt. Die Schärfe, mit der sie das erkennt, wird sich später wieder mildern, doch hier ist sie unbestechlich. Sie identifiziert all die Lügen, die man ihr erzählte, um sie zu kontrollieren, auch die Lügen jener, die sie lieben, wie ihre Eltern. Hier trinkt sie aus dem Becher der Wahrheit, den die Knochenmutter ihr hinhält. Er ist Gift und Medizin zugleich, so wie alle potenten Heilmittel.

»Die Frau erkennt, dass sie etwas aufgeben muss, meistens die Vorstellung von Glück, die ihr anerzogen wurde.«

Die Frau gelangt innerlich (und äußerlich) an einen Ort der Wahrheit, wo sie erfährt, dass ihre Erfahrungen nicht auf sie allein beschränkt sind, sondern archetypisch bedingt sind für Frauen, die sich aus den patriarchalen Rollenmustern befreien wollen. Zwar hat der Feminismus große Fortschritte erlangt, doch in unserem Alltag haben viele Frauen ihre Mitte und ihre eigene weibliche Rolle noch nicht gefunden, sondern leben die nach, die durch eine nach wie vor männlich geprägte Gesellschaft vorgegeben werden, was zu einem Gefühl der Entfremdung und fehlenden Resonanz führt.

Hier treffen wir auf Baba Yaga, der kein Leid auf der Welt fremd ist und bei ihr dürfen wir sitzen und klagen, eine Weile zumindest. Wir verschwinden aus der Oberwelt, sind nicht mehr sichtbar, hier, am tiefsten Punkt. In einer Geschichte würde diese Station von einer Frau repräsentiert werden, die einige Tage auf einer Akutstation in der Psychiatrie verbringt, wo sie einige schmerzhafte Wahrheiten über sich selbst und das Leben lernt. Im Film und in der Literatur wird es drastisch: Die Titanic sinkt endgültig, Bella erkennt, dass sie niemals sicher sein wird, wenn sie an Edwards Seite bleibt, Kassandra wird von Aeneas verlassen.

Sarah Rubal - das Opfer
Foto von Chris Ensey auf Unsplash
8. Das Opfer

Wer aus der Reise in die Unterwelt etwas mitnehmen möchte, der muss einen Teil von sich dalassen. Die Frau hat nichts mehr, keine Kleider, keinen Schmuck, nicht einmal mehr Haare. Also muss sie etwas von sich heraustrennen und übergeben. Es kann ein Stück ihrer Seele sein oder ihres Körpers. Vielleicht ist es ihre Fruchtbarkeit. Vielleicht der Kinderwunsch. Vielleicht der Glaube an ihre Unverletzbarkeit, die Beziehung an ihre Mutter oder der Glaube an eine funktionierende Partnerschaft mit einem Mann. Es ist etwas Unwiederbringliches, etwas, das sie nie wieder erhält und das ihr Leben für immer verändert. Sie wird zögern. Sie wird hadern. Doch sie ist schon so weit gekommen. Sie wird das Opfer bringen.

In meiner Reise war es der Wunsch, eine Partnerschaft mit einem Mann zu leben, denn das bedeutete immer, dass ich Kompromisse einging, nur um nicht allein zu sein. Das Opfer, das ich brachte, war die tiefe Sehnsucht nach romantischer Liebe, mein »Moby Dick«, dem ich mein ganzes Leben lang schon nachjagte, ein großes Opfer.

Die Frau erkennt, dass sie etwas aufgeben muss, meistens die Vorstellung von Glück, die ihr anerzogen wurde. Eine Partnerschaft oder Erfolg im Beruf allein können sie beispielsweise nicht glücklich machen, solange sie sich selbst nicht gefunden hat. Sie muss es wirklich loslassen, dem großen Sterben anheimgeben. Von hier gibt es keine Wiederkehr, hier gibt es kein »Vielleicht« oder »Ich weiß nicht«. Der Trank aus dem Becher der Wahrheit hat die Frau gestärkt. Sie ist jetzt, todesmutig, bereit, dieses Opfer zu bringen. Sie schneidet einen Teil von sich selbst heraus und opfert ihn blutig auf dem Altar der Wahrheit. Das Opfer hat oft etwas mit versteckten Scham- und Schuldgefühlen zu tun. Es sind Dinge, die wir uns selbst nicht eingestehen wollen, die wir leugnen und ignorieren, auch vor uns selbst.

Wir opfern unser »falsches« Selbst, damit unser neues sich manifestieren kann. Wir erinnern uns hier an die griechische Persephone, die die Hälfte des Jahres in der Unterwelt verbringen muss. In unserer Gegenwart kann diese Phase so aussehen: Eine Frau macht den Missbrauch in ihrer Familie öffentlich und erträgt die Anfeindungen und die Isolation. Literatur und Film erzählen uns diesen Abschnitt so: Jack ertrinkt im eiskalten Atlantik (würde er überleben, würde Rose nur wieder eine neue Rolle annehmen, statt sie selbst zu werden), Bella enttäuscht ihren Vater und Kassandra trennt sich von Aeneas.

Sarah Rubal - Blick in den Spiegel
Foto von Amir Geshani auf Unsplash
9. Der Blick in Inannas Spiegel

Wer ein Opfer bringt, der wird belohnt. In diesem Fall kann sich die Frau nun so sehen, wie sie wirklich ist. Sie darf einen Blick in den magischen Spiegel der Wahrheit werfen. Sie sieht sich als die göttliche Inkarnation, die sie immer war, bevor die Glaubenssätze des Patriarchats sie unterdrückten und sie von ihrer Anbindung an die Große Mutter trennten. Sie sieht ihre Schönheit, sie sieht, dass sie unbesiegbar ist, weil sie bis zu dieser tiefsten Höhle vorgedrungen ist, weil sie keine Angst vor der Wahrheit hatte. Sie erkennt, in welcher Lüge sie all die Zeit in der Oberwelt gelebt hat, und sie erkennt den gewaltigen Verlust, den das Patriarchat den Frauen aufgebürdet hat, über so viele Generationen hinweg. Sie erkennt, dass sie Teil einer jahrtausendealten Schwesternschaft ist. Sie erkennt ihr eigenes, unsterbliches, unverletzliches Ich, stark, weiblich, unzerstörbar, mit unendlicher Schöpferkraft, jenes Ich, das die Männer so sehr fürchten und von dem sie sie mit aller Macht zu entfremden versuchten.

Wenn sie dazu bereit ist, darf sie einen Blick in den Spiegel werfen. Sie darf sich selbst erkennen, mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Verletzungen und ihrem Potenzial. Davon erzählt uns die Geschichte von Inanna, die in die Unterwelt zu ihrer Schwester Ereskigal reist und dafür große Herausforderungen auf sich nimmt. Was die Frau von dort mitnimmt, ist das unbestechliche Vertrauen in sich selbst, in ihre Kraft, in ihre Macht. Niemand kann ihr das jemals wieder nehmen. Sie weiß jetzt, wer sie ist und das ist mehr wert als all das, was sie auf dem Weg hierher aufgegeben hat. Jetzt erst beginnt die wahre Magie ihres Seins.

Eine mögliche Geschichte der Jetztzeit wäre eine Frau, die bereit ist, endlich auch Wut und Zorn zuzulassen und ihren Vergewaltiger zur Rede zu stellen, was ihr einen anderen Blick auf sich selbst ermöglicht. In Literatur und Film wird es spannend: Rose ist sich unsicher, ob sie auch sterben möchte, kämpft aber dann um ihr Überleben. Bella erkennt, dass sie Edward liebt und für diese Liebe bereit ist, alles zu opfern, und Kassandra zieht sich in den IDA-Berg zurück.

Sarah Rubal - Matriarchat
Foto von Julia Caesar auf Unsplash
10. Die Heimkehr in den Schoß der Göttin

In all dieser Erkenntnis weint und trauert die Frau, sie trauert um all das, was verloren ist und das, was sie gefunden hat und sie wird zugleich durchströmt von unendlichem Glück, denn endlich, endlich ist sie angebunden. Da ist sie die Liebe, die Mutterliebe, die Liebe, nach der sie so lange gesucht hat. Sie kehrt heim in den Schoß der Großen Göttin, die immer da war und immer da sein wird, jene, von der wir alle kommen und zu der wir alle zurückkehren. Sie erfährt die Liebe, nach der sie sich immer gesehnt hat, vollkommene Einheit. Sie ist eine Tochter der Göttin, in all ihren Aspekten, die Jungfrau, die Mutter, die alte Weise, die Knochenmutter. Sie ist eins mit der Welt und dem Universum. Alle Wunden der Frau, alle Traumata, sie heilen, verschwinden. Aller Schmerz endet.

Das kann ganz plötzlich, ohne äußeren Anlass, geschehen. Weil sich in der Frau etwas zutiefst gewandelt hat, wandelt sich nun auch das Außen. Ihre energetische Signatur ist eine andere. Sie ist heil, sie ist transformiert, eingehüllt in die Liebe der Großen Mutter. Das Motto dieser Stufe ist »Selbstliebe«. Denn die Liebe, die wir uns selbst entgegenbringen, ist nichts anderes als die Liebe der Großen Mutter. Wir erkennen, dass wir uns selbst lieben, nähren und heilen können und dürfen. Das ist die wichtigste Lektion von allen.

Die Frau erkennt, dass sie nicht allein ist, sondern angebunden an eine nichtpatriarchale, allumfassende Kraft der Weiblichkeit, die alles durchströmt. Sie spürt eine mütterliche Gegenwart und eine Verbindung zu anderen Frauen, die die gleiche Reise antreten wie sie und sucht die Nähe zu ihnen.

In einer Geschichte könnte das so aussehen: Eine Frau in einer unglücklichen Beziehung lernt, sich selbst zu lieben. Als Blockbuster und Literaturklassiker sieht diese Station folgendermaßen aus: Rose wird gerettet, Bella kann Edward retten, Kassandra bekommt Zwillinge.

Sarah Rubal - die Wiedergeburt
11. Die Wiedergeburt

Aus dem Schoß der Göttin, aus dem Quell allen Lebens, wird die Frau wieder geboren. Sie erhebt sich, setzt sich neu zusammen, ein neues, ganzes, heiles Ich, unberührt, unverletzt von all den Anfeindungen des Patriarchats, strahlend schön, wird geboren. Sie ist geheilt. Sie ist ganz. Sie ist heilig, heil geworden im Raum der Göttin. Durch sie und mit ihr hat sie sich und ihre Vorfahren, ihre ganze Ahnenlinie geheilt und Segen über ihre Töchter gebracht, die sie vom patriarchalen Fluche befreit hat. Sie muss sie nicht korrumpieren, damit sie in der patriarchalen Welt funktionieren.

Jetzt ist die Frau bereit, sich selbst neu zu erschaffen. Sie hat ihre alten Rollenmuster abgestreift, auch ihre alten Überzeugungen abgelegt und wird als sie selbst wiedergeboren. Sie ist mit sich selbst im Reinen. Mit dem Wissen um ihr neues »Ich«, ihrem neugewonnen Vertrauen in sich selbst kehrt die Frau zurück in die Welt. Sie glüht, vor Kraft und Selbstliebe und für manche ist dieses Licht beinahe zu hell.

Als Geschichte denkbar wäre folgender Plot: Nach einer öffentlichen Bloßstellung im Internet findet eine Frau den Mut, zu ihrer Geschichte zu stehen und ihren Gegnern die Stirn zu bieten. Auch Film und Literatur kennt diesen Abschnitt: Rose nimmt Jacks Nachnamen an und erreicht New York, Bella will sich in einen Vampir verwandeln und Kassandra kehrt nach Troia zurück.

12. Die Herstellung der ursprünglichen Ordnung

Die Frau kehrt zurück in die obere Welt. Dort hat man sich schon Sorgen gemacht. »Was mit der wohl nicht stimmt?« Jetzt stimmt gar nichts mehr. Wie eine Furie fegt sie durch ihr Leben und macht Ordnung. Sie schmeißt alles raus und um, was nicht mehr stimmt, Männer, Job, Freundinnen. Nichts, was nach patriarchalen Regeln wirkt, darf noch in ihrem Leben sein. Es ficht sie nicht mehr an, was jemand über ihren Körper, über ihre Handlungen sagt. Sie ist frei und trägt das Feuer der Göttin in sich. Sie ist geschützt und gehalten in einem unsichtbaren Raum für all jene, die nie im Schoß der Göttin waren. Das Feuer brennt in ihr, doch es verbrennt sie nicht. Sie ist eine Frau der alten Ordnung, jene Ordnung, die war, bevor die Männer sie usurpierten und die Welt in Chaos und Leid stürzten.

»Sie kehrt heim in den Schoß der Großen Göttin, die immer da war und immer da sein wird, jene, von der wir alle kommen und zu der wir alle zurückkehren.«

Es ist wichtig, diese Stufe nicht als »Kampf« oder »Rache« zu verstehen. Es geht vielmehr darum, dass die Frau aufgrund ihrer tiefen, inneren Entscheidung ihre Energie neu ausrichtet und das allein sorgt für mannigfaltige Veränderungen im Außen. Sie belohnt das, was ihr wichtig ist – sie selbst, ihr Körper, ihre Kinder und ihre Projekte – mit Aufmerksamkeit und Liebe und sie entzieht ihre Energie all jenen Zusammenhängen, die sie nur benutzt haben, denen sie dienlich sein sollte und die sie krank gemacht und die Krise hervorgerufen haben.

In Literatur und Film ist beides schon bekannt: Rose lebt ihr Leben frei und unbekümmert, sie lebt ihre Interessen aus, Bella und Edward sind endlich zusammen, Kassandra entscheidet sich gegen Aeneas, weil dieser droht, ein Held zu werden.

13. Die neue, alte Welt der weiblichen Ganzheit

Jetzt lebt die Frau ihre Wahrheit, die aus ihrer Mitte heraus spricht. Sie kann sich einen Gefährten suchen oder es lassen, doch sie weiß, dass ihr Glück nicht in der Paarbeziehung liegt, sondern in sich selbst. Männer reagieren auf ihre geheilte Weiblichkeit mit Faszination, manchmal auch mit Aggression, doch sie hat keine Angst mehr. Sie hat das Spiel durchschaut. Ungeheilte Weiblichkeit jüngerer Frauen reagiert auf sie mit Manipulationsversuchen, mit der unbewussten Sehnsucht nach der starken, heilen Mutter, die es doch im Patriarchat nirgendwo gibt, alle möglichen Sehnsüchte und Vorwürfe werden an sie adressiert. Es wird versucht, sie in alle möglichen Dramen hineinzuziehen, damit sie wieder hineinpasst, in diese Welt aus Chaos und umgestürzter Ordnung, doch sie lässt sich nicht aus ihrer Mitte bringen. Sie ist sich selbst genug. Sie lebt ihre Wahrheit, ohne zu missionieren. Die Göttin spricht aus ihr und durch sie. Sie ist angebunden an etwas, das so viel größer und älter ist, als alles, was jetzt in dieser Welt ist. Sie kann kämpfen, wenn sie das möchte, doch sie wählt ihre Schlachten weise. Meist beschränkt sie sich auf die stille Bewunderung der Welt, der Schöpfung der Großen Mutter – ihrer Mutter. Was sie ist, war immer da und wird immer sein. Jetzt lebt die Frau ihr eigenes, authentisches Selbst und richtet sich nicht mehr nach anderen.

Sie geht als Vorbild voraus, sie ruht in sich und ihrem Körper, was nicht heißt, dass man sie nicht mehr treffen kann. Aber sie hat jenen Punkt in sich gefunden, ein Gleichgewicht, eine Resonanz mit dem Göttlich-Weiblichen, zu dem sie immer wieder zurückkehrt und das bedeutet, dass man sie nicht mehr ver-rücken kann. Sie selbst ist jetzt das Zentrum ihrer Welt, mit einer großen Gravitationskraft.

Gleich mehrere Göttinnen symbolisieren diesen Abschnitt: Artemis, Vila, Isis – Selbstbestimmung, die Fähigkeit, die eigene Gestalt zu wandeln und sich zurückzuziehen, Freiheit, weibliche Rollen so zu gestalten, dass sie Frauen erfüllen, wenn wir sie schon nicht ganz abstreifen können.

Als moderne Übersetzung können wir uns folgende Situation vorstellen: Eine Frau gründet einen spirituellen Zirkel, zu dem sie Frauen einlädt, um mit ihnen Weiblichkeit zu feiern. So enden auch Filme und Bücher: Rose kehrt als alte Frau zurück und versenkt »Das Herz des Ozeans«, ein Kreis schließt sich, Edward und Bella wollen für immer zusammen sein, auch wenn Bella (zunächst) kein Vampir wird, und Kassandra entscheidet sich für den Selbstmord, weil sie erkennt, dass es in der streng patriarchalen Welt des antiken Griechenlands für sie niemals Freiheit geben kann (im Gegensatz zu unserer Gegenwart).

Sarah Rubal

Sarah Rubal ist Schriftstellerin, Ghostwriter und Drehbuchautorin. Nach einem Studium der Geschichte und Ethnologie in Frankfurt verbrachte sie Zeit bei Indigenen Nordamerikas, insbesondere den Lenape (Delaware). Die Suche nach weiblicher Befreiung in Einklang mit Spiritualität begleitet sie schon seit vielen Jahren. Mit ihren Kindern lebt sie in der Nähe von Frankfurt am Main. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem Kinderbücher zu indigenen Mythen. 

die-heimkehr-der-goettin.de

Artikel zum Thema

TV 97: Sarah Rubal – Die Heimkehr der Göttin, Teil 1

TV 96: Saskia Baumgart – Von Märchen, Heiligen Büchern & anderen Narrativen

TV 96: Dr. Heide Göttner-Abendroth – Die Erstentstehung des Patriarchats – einmal oder mehrmals?

TV 88: Schwerpunkt: Matriarchale Werte

TV 87: Dr. Heide Göttner-Abendroth – Am Anfang war die Mutter

TV 83: Lidia Schladt – Das Erwachen der neuen Weiblichkeit

TV 82: Lucas Buchholz – Ein anderer Blick auf die Welt

TV 81: Bartosz Werner – Transzendentes Träumen

TV 55: Annette Rath-Beckmann – Seherinnen, Priesterinnen, Heilerinnen

© Bilder: soweit nicht anders vermerkt von Adobe Photostock

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen