Die zehn göttlichen Erkenntniswege der Dasha Maha Vidyas (Teil 2)
Schon gelesen? Göttinnen im Tantra, Teil 1
Die Verehrung des Weiblichen hat im Tantra Tradition. Dies zeigt sich auch in den zehn Erkenntnispfaden der »Dasha Maha Vidyas«, die die spirituellen Wege mit dem Ziel der Evolution und Erleuchtung darstellen. Die Fortsetzung des Artikels aus Tattva Viveka 94 präsentiert die zweite Hälfte des Kanons der tantrischen Göttinnen mit ihren spezifischen Eigenschaften und Wirkungsbereichen.
Im ersten Teil des Artikels haben wir bereits gesehen, wie wir uns in unterschiedlichen Lebenssituationen an verschiedene Große Makrokosmische Kräfte wenden und so immer die passende Hilfe und Unterstützung erhalten können. Muss etwas transformiert werden, wenden wir uns an Kali. Haben wir uns verlaufen oder wissen wir nicht, welchen Weg wir in unserem Leben einschlagen sollen, wenden wir uns an Tara. Sehnen wir uns nach einer erfüllenden Liebesbeziehung, ist Tripura Sundari die Göttin, an die wir uns wenden können. Letzten Endes führen jedoch alle zehn Maha Vidyas, alle zehn Erkenntniswege, zum selben Ziel: der Offenbarung des höchsten Selbst.
Sehen wir uns nun die restlichen fünf Großen Makrokosmischen Kräfte an: Chinnamasta, Dhumavati, Bagalamukhi, Matangi und Kamalatmika.
Die zehn Großen Makrokosmischen Kräfte – Dasha Maha Vidyas
6. Chinnamasta
Eine der wohl Furcht einflößendsten Göttinnen des Dasha-Maha-Vidya-Kanons ist die Große Makrokosmische Kraft des Mutes, Chinnamasta. Nicht nur, dass sie in ihren bildlichen Repräsentationen kopflos dargestellt wird (dazu weiter unten mehr), erstaunt, sondern auch die damit in Zusammenhang stehende Implikation, dass unser physischer Körper und unser Verstand endlich sind, unser Bewusstsein jedoch darüber hinaus existiert, kann für den Betrachter befremdlich anmuten. Diese Darstellung alleine deutet bereits darauf hin, dass der spirituelle Weg des Tantrikers darauf abzielt, einen Zugang zum universellen Bewusstsein jenseits des »verkopften« rationalen Denkens zu erhalten.
Die Loslösung von der Identifikation mit unserem Körper und unserem Mental ist die Kraftsphäre der Göttin Chinnamasta.
Chinnamasta, deren Symbol ein abgeschlagener Kopf ist, fordert von ihren Verehrern, den Verstand und das Ego zu transzendieren und sie in reines Bewusstsein aufzulösen. All das, was wir zu wissen glauben, alle logischen Schlussfolgerungen, unsere Identifizierung mit den verschiedenen Rollen, die wir in unserem Leben spielen, sind nichts weiter als Begrenzungen, die wir uns selbst auferlegen. Von den weltlichen Begrenzungen des einfachen Verstandes befreit, realisiert das Bewusstsein schließlich seine wahre Natur jenseits von Tod und Leid. Wir brauchen den Verlust unseres Körpers und unserer Gedanken nicht zu fürchten, denn sie sind lediglich die Begrenzungen unserer wahren Identität. Dabei ist der einzige Weg zu unserem höheren Bewusstsein das Opfern der Identifikation mit unserem Verstand und damit mit allen Gedankenprozessen rund um unser Selbstbild und die »Ich-bin-mein-Körper«- beziehungsweise »Ich-bin-meine-Gedanken«-Idee. Der abgeschlagene Kopf symbolisiert die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Körper und Geist, zwischen Körper und Bewusstsein, sowie die Befreiung aus den Fesseln der Identifizierung mit dem Körper und dem Mental. In diesem Prozess trennen wir uns von unserer gewöhnlichen Identität und opfern unser Ego für eine höhere Realität.
Chinnamasta wird nicht nur mit einem abgeschlagenen Kopf dargestellt, sie hält ihn darüber hinaus in einer ihrer Hände und trinkt das aus der offenen Wunde fließende Blut. Allein dieser Anblick mag für den Betrachter abschreckend wirken, doch scheint die Göttin selbst glücklich, ja gar glückselig, was man an ihrem Gesichtsausdruck erkennen kann. Sie steht für die Freude der Transzendierung des eigenen Körpers und des Verstandes und nicht für den Schmerz über deren Verlust. Aus diesem Blickwinkel könnten wir sagen, dass der Kopf nicht tot ist, sondern sogar lebendiger als zuvor.
»Das Bewusstsein ist nicht auf den Körper und das Mental begrenzt. Es kann sehr wohl ohne sie funktionieren.«
Das Bewusstsein ist nicht auf den Körper und das Mental begrenzt. Es kann sehr wohl ohne sie funktionieren. Daher wurde das auf den Körper begrenzte Bewusstsein in verschiedenen spirituellen Traditionen unter anderem auch als Käfig oder Grab bezeichnet. Im Körper ist das Bewusstsein auf die Erfahrung der Sinne beschränkt. Losgelöst von Körper und Verstand erfährt das Bewusstsein die Freiheit der Unendlichkeit, die das gesamte Universum mit einschließt. Auch wenn die Vorstellung des Verlusts des Körperbewusstseins erschreckend zu sein scheint, sollte uns stattdessen die Vorstellung, lediglich auf den eigenen Körper und die Gedanken begrenzt – und damit Zeit und Tod unterworfen – zu sein, viel eher beängstigen. Die Große Makrokosmische Kraft Chinnamasta ist diejenige, die uns aus der Gefangenschaft unserer Sinne, unseres Körpers und unseres Mentals befreit und sich für den ihr ergebenen Tantra-Praktizierenden als die große Befreierin und Retterin manifestiert.
Der Göttin Chinnamasta gegenüberzutreten und sie in das eigene Leben einzuladen, erfordert außerordentlichen Mut, den sie dem Tantriker gleichzeitig im Gegenzug für seine Zuwendung schenkt. Denn wer sehnt sich schon danach, sich Auge in Auge mit einer kopflosen Göttin vorzufinden, die so grausam ist, dass sie sich selbst ihren eigenen Kopf abgeschlagen hat? Wer gibt freiwillig seine Identität und Identifikation mit dem physischen Körper auf, um in das Unbekannte jenseits des mentalen Verstandes einzutauchen? Doch wer es wagt, sich entschlossen an die Göttin Chinnamasta zu wenden, wird mit Mut, Tapferkeit und Tatkraft belohnt.
Besonders wichtig in ihren Darstellungen ist ihr abgeschlagener Kopf, den sie in einer ihrer Hände hochhält und mit dem sie den mittleren Blutstrom trinkt, der aus ihrem offenen Hals fließt. Der mittlere Blutstrom steht für den Hauptenergiekanal jedes menschlichen Wesens, in Sanskrit »Shusumna Nadi«. In einer anderen Hand hält sie das Schwert, das den Kopf vom Körper abgetrennt hat und das die Unterscheidungsfähigkeit zwischen allem, was echt ist, und allem, was illusorisch ist, – zwischen Wahrheit und Illusion – symbolisiert. Sie hat zwei Begleiterinnen, die jeweils aus einem weiteren Blutstrom trinken, der links beziehungsweise rechts des Hauptblutstroms entspringt. Der rechte Blutstrom steht für den solaren Energiekanal eines menschlichen Wesens, oder »Pingala Nadi« in Sanskrit, und der linke Blutstrom steht für den lunaren Energiekanal eines menschlichen Wesens, oder »Ida Nadi« in Sanskrit.
Chinnamasta und ihre zwei Begleiterinnen stehen auf einem intim miteinander verschlungenen Liebespaar, Kama und Rati. Kama ist der Gott der Liebe und Rati ist die Göttin des leiblichen und sinnlichen Vergnügens. Zusammen personifizieren sie das Verlangen, sich fortzupflanzen, welches das Ego immer wieder dazu zwingt, sich zu reinkarnieren. Chinnamasta steht triumphierend auf dem Liebespaar und zeigt so ihren Sieg über all das niedere Verlangen und die sexuellen Triebe und deren Transformation in erhabene erotische Energien und deren Kontrolle im Sinne von Brahmacharya, der erotischen Kontinenz (siehe auch meinen Artikel in Tattva Viveka Sonderheft Nr. 2, Heilige Sexualität, Sexualität im Tantra).
7. Dhumavati
»Dhuma« bedeutet Rauch. Dhumavati ist also diejenige, die aus Rauch besteht. Ihre Natur ist nicht die Erleuchtung, sondern die Verdunkelung oder Verhüllung. Indem sie jedoch das Bekannte verhüllt, enthüllt sie das Unbekannte. Die Göttin Dhumavati ist die älteste unter den Dasha Maha Vidyas und wird als Witwe porträtiert. Sie ist die Einzige der Großen Makrokosmischen Kräfte, die ohne männliches Gegenstück beschrieben wird. Sie ist Shakti ohne Shiva und beinhaltet daher alle Möglichkeiten in sich selbst. Dhumavati verkörpert jede Form der Ablehnung und steht mit Armut, Krankheit, Elend und Leid in Verbindung. Daher wird sie auch als das große Unglück angesehen, das wir alle in unserem Leben fürchten. Sie hat eine gekrümmte Statur und ist als lästige und streitsüchtige Gestalt bekannt. Oft wird sie auch als Hexe dargestellt. Dieser äußere Mangel an Reichtum, Fülle und Schönheit führt jedoch dazu, dass der ihr ergebene Verehrer seine Erfüllung im Inneren sucht, jenseits des sowieso begrenzten physischen Universums.
»So lässt uns die Frustration im Außen die innere Wahrheit suchen.«
So lässt uns die Frustration im Außen die innere Wahrheit suchen. Dhumavati bringt Dunkelheit in einen Aspekt unseres Lebens und löst damit gleichzeitig neues Potenzial aus, in eine andere Richtung zu wachsen. Damit ist sie das Glück, das uns in Form von Unglück ereilt.
Dhumavati ist auch bekannt als die Große Makrokosmische Kraft der glückseligen Leere, in der sich alle Formen aufgelöst haben und nicht weiter differenziert werden können. Diese Leere ist frei von jeder Dualität von Subjekt und Objekt. In Wahrheit ist die Leere oder der immaterielle Zustand reines Bewusstsein. Daher ist Dhumavati reines, perfektes und volles Bewusstsein, in dem kein einziges Objekt mehr existiert. Die Leere ist kein bloßes Nichts, sondern das Ende der Bewegungen des Verstandes. Dhumavati ist die ultimative Stille selbst. So wie die Wellen auf einem See den unruhigen Verstand mit all seinen chaotischen Gedanken repräsentieren können, steht das ruhige Wasser des Sees mit seiner spiegelglatten Oberfläche für den von Gedanken befreiten Verstand.
Alle negativen Kräfte des Lebens wie Enttäuschung, Frustration, Demütigung, Scheitern, Verlust, Kummer und Einsamkeit liegen im Einflussbereich der Großen Makrokosmischen Kraft Dhumavati. All diese negativen Erfahrungen überwältigen den gewöhnlichen Verstand, doch der Tantriker nutzt sie als Möglichkeit, um seine weltlichen Wünsche zu transzendieren. Wer in diesen Erfahrungen die große Göttin Dhumavati und ihre Lektionen erkennt, wird mit wahrer Erkenntnis gesegnet. Dhumavati verleiht ihren Anhängern große Geduld, Ausdauer, Kraft zu vergeben und Losgelöstheit. Durch die Gnade Dhumavatis wird der unvollkommene, vergängliche, unglückliche und verwirrte Zustand der gewöhnlichen egoistischen Existenz enthüllt, um dann vom Praktizierenden transzendiert zu werden. Diese negativen Erfahrungen helfen uns, uns aus dem Bann der oberflächlichen Freuden der physischen Welt zu lösen. Erkennen wir sie als die Weisheit der Göttin Dhumavati an, können wir ihr Potenzial nutzen und sie in Energien der Freude transmutieren.
Die Göttin Dhumavati führt den Tantriker durch äußeres Leid zu innerer Wahrheit.
Dhumavati wird als ausgemergelte und hagere alte Frau dargestellt. Mit ihrem faltigen Gesicht, ihren fehlenden Zähnen und ihrer krummen Nase wirkt sie äußerst unattraktiv. In manchen Darstellungen wird sie sogar mit Reißzähnen porträtiert. Sie trägt alte und schmutzige Kleidung und ihre Brüste hängen herunter. Dhumavati sitzt auf einem Wagen, vor den jedoch keine Zugtiere gespannt sind – ein weiteres Symbol für die Ausweglosigkeit der Situationen, in denen sie angerufen werden kann. Ihr Symboltier ist die Krähe, die zumeist auf ihrem Wagen abgebildet ist oder darauf Platz genommen hat. Die Krähe als Aasfresser steht für den Tod und in Zusammenhang mit dunklen, negativen Mächten, Unheil und schwarzer Magie. In einer Hand hält sie einen Worfelkorb, ein landwirtschaftliches Gerät, mit dem die Spreu vom Weizen getrennt wurde, und mit der anderen macht sie die Geste des Wissens. Der Worfelkorb deutet auf ihr Unterscheidungsvermögen zwischen der inneren Essenz und der äußeren illusorischen, weil vergänglichen, wie Wellen auf dem Ozean der Leere nur kurzweilig erscheinenden Realität hin.
»Als hässliche Form von Maha Shakti lehrt sie den Tantriker, hinter die scheinbare Schönheit zu blicken und die innere Wahrheit zu entdecken.«
Als hässliche Form von Maha Shakti lehrt sie den Tantriker, hinter die scheinbare Schönheit zu blicken und die innere Wahrheit zu entdecken. Als Hexe ist sie für die Tantriker keine negative Entität, sondern sie macht uns mit der von uns als negativ empfundenen Seite des Lebens bekannt, befreit uns damit jedoch zugleich von unseren Anhaftungen und offenbart uns unsere innere Realität.
8. Bagalamukhi
Schönheit kann uns vom Fleck weg so stark faszinieren, dass wir alles andere vergessen, sie kann uns den Atem rauben und uns mit offenem Mund erstarren lassen. Genau dies ist die außerordentliche Kraft der Göttin Bagalamukhi. Sie stoppt auf der Stelle jeden Gedanken, jede Emotion und jede Tat, die nicht göttlich integriert sind. »Bagala« bedeutet übersetzt Seil oder Zaum, »Mukhi« hingegen steht für Gesicht. Die Große Makrokosmische Kraft Bagalamukhi ist also diejenige, die mit ihrem Gesicht (oder Blick) jeden Widersacher sofort bezwingt.
Bagalamukhi steht, ähnlich wie Tara, in enger Verbindung mit der Sprache. Sie verleiht ihren Verehrern die Kraft der Sprache, die andere verstummen oder nach Worten ringen lässt. Sie verkündet die ultimative Wahrheit und hat daher den Erfolg in jeder Diskussion oder Auseinandersetzung auf ihrer Seite. Niemand kann sie in dieser Hinsicht besiegen. Ihre Waffe, die jeden Konflikt und jede Verwirrung beendet, ist das spirituelle Wissen.
»Die höchste Form des spirituellen Wissens ist die Antwort auf die Frage ›Wer bin ich?‹.«
Die höchste Form des spirituellen Wissens ist die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«. Wir meinen, eine Vielzahl von externen Dingen zu wissen, uns entgeht dabei jedoch, dass wir uns selbst beziehungsweise unser höchstes Selbst nicht kennen. Was wir als uns selbst bezeichnen, ist mehr oder weniger eine Ansammlung vergänglicher Gedanken, Emotionen und Wahrnehmungen, mit denen wir uns identifizieren, aber nicht die wahre Natur unseres Bewusstseins. Wenn wir mit unserem Verstand immer und immer wieder zu der Frage »Wer bin ich?« zurückkehren, beenden wir das Herumwandern unserer Gedanken und lassen alle anderen Fragen und Bestrebungen unwichtig erscheinen.
Auf einer äußeren Ebene verleiht uns die Große Makrokosmische Kraft Bagalamukhi die Kraft des Stoppens oder des Lähmens, »Stambhana« in Sanskrit, um all jene zu stoppen oder zu lähmen, die uns anzugreifen (oder von der Erkenntnis fernzuhalten) versuchen. Sie besitzt auch die Kraft der Faszination oder der Hypnose. Auf einer inneren Ebene meistern wir mit ihrer Hilfe die Kontrolle unserer Gedanken und Energien. Bagalamukhi lehrt dem Tantriker auch die völlige Kontrolle über jede körperliche Bewegung und vermittelt die Fähigkeit, diese willentlich zu unterbinden. Eine solche Kontrolle kommt von der eigenen Selbsterkenntnis, da wir uns allzu oft mit unseren Taten und Bewegungen identifizieren.
Bagalamukhi bezwingt ihren Widersacher, das Ego.
Bagalamukhi ist eine weitere Furcht erregende Form von Maha Shakti. Ihr wird die Farbe Gelb zugeordnet. Sie hüllt sich in gelbe Kleidung und trägt gelben Schmuck sowie gelbe Blumen. Mit ihrer linken Hand hält sie die Zunge eines Widersachers fest, während sie ihn mit ihrer Keule in der rechten Hand schlägt. Die gelbe Farbe symbolisiert ihre helle und reinigende Energie. Gelb steht auch für das Leuchten des spirituellen Wissens, das die Dunkelheit überwindet. Ihr Gegner zu ihrer Linken ist das Ego. Sie zieht die Zunge des Egos heraus, denn diese ist mit Geschwätz, Spekulationen und negativen Sprachmustern assoziiert, die für den Ego-Verstand kennzeichnend sind. Solange wir noch solche Gewohnheiten pflegen, müssen wir uns auf den Zorn der Großen Makrokosmischen Kraft Bagalamukhi gefasst machen.
9. Matangi
»Mata« lässt sich ins Deutsche mit »Gedanke« übersetzen. Matangi ist das Wort als Verkörperung des Gedankens und steht ebenso mit dem Zuhören in Verbindung. Während wir bei Tara, der zweiten Großen Makrokosmischen Kraft (siehe Teil 1 dieses Artikels, erschienen in Tattva Viveka Nr. 94), auf das Wort als unmanifestierte Form gestoßen sind, stellt die Göttin Matangi das manifestierte Wort dar. Sie verleiht Wissen, Talent und Expertise. Das gesprochene Wort und jede Äußerung des inneren Wissens, einschließlich aller Formen der Kunst, der Musik und des Tanzes, sind ihre Wirkungsbereiche. Ihr Instrument ist die Vina, ein altindisches Saiteninstrument. Damit symbolisiert sie ihre Herrschaft über die Musik und den hörbaren Klang im Allgemeinen. Sie ist eine Außenseiterin oder Künstlerin, die gegen die verbreiteten Normen der Gesellschaft aufbegehrt. Sie regiert über das Außergewöhnliche. Mit ihrer Hilfe übertreten wir die Grenzen des Gewöhnlichen und der gesellschaftlichen Konventionen, um so über uns hinauszuwachsen.
Als Außenseiterin oder gar Ausgestoßene, »Candala« in Sanskrit, gehört sie der untersten Kaste Indiens an. Die Mythologie bringt sie mit Resten übrig gebliebener Nahrung in Verbindung, die im Hinduismus traditionell als äußerst unrein gelten. Eine ihrer Formen entsteht gar aus den Essensresten der Götter Shiva und Parvati. Darüber hinaus verehren ihre Anhänger sie, indem sie ihr Essensreste darbieten, was sonst ein absolutes Tabu im Hinduismus ist. Für gewöhnlich wird den hinduistischen Gottheiten nur das beste Essen offeriert, jenes, das als besonders rein gilt oder von dem bekannt ist, dass die Göttin es bevorzugt.
Somit steht sie für das unreine, gesprochene Wort, das von Natur aus bereits begrenzt ist, da es nie die vollkommene Wirklichkeit abbilden kann. Wenn wir Wörter benutzen, um Dinge zu beschreiben, reduzieren wir sie dadurch auf etwas Profanes, Weltliches, Menschliches. Der höhere Wert dieser Dinge geht dabei oft verloren. Matangi regiert über alle sprachlichen Äußerungen und verleiht dem Tantriker die Kraft, Wörter auf die richtige Weise anzuwenden (die Fähigkeit der Eloquenz) und hinter sie, in die wahre Essenz der Dinge, zu blicken. Gleichzeitig ist die Große Makrokosmische Kraft Matangi die manifestierte Kenntnis des höchsten Selbst Atman und damit jenseits des mit Worten Beschreibbaren.
Sprache ist außerdem Ordnung in hohem Maße (ein weiteres Charakteristikum Matangis) und eröffnet uns die Möglichkeit, Ideen, Gedanken und Erfahrungen an andere weiterzugeben. So kann auch jeder spirituelle Lehrer seine Schüler mithilfe von Sprache in neue Erkenntnisse einweihen. Dafür verwendet er Matangi. Sie stellt die Lehren des spirituellen Lehrers und seiner Tradition dar. Ihr verdanken wir die Kontinuität spiritueller Unterweisung in unserer irdischen Welt. Wenn wir sie ehren, ehren wir gleichzeitig auch den spirituellen Lehrer. All jene, die andere unterrichten wollen, und insbesondere jene, die zu den Massen sprechen wollen, sollten sich an die Göttin Matangi wenden. Sie regiert über alle Arten von Wissen, Beratung und Lehren.
Gleichzeitig ist ihr Wirkungsbereich, die Sprache, das ordnende Prinzip für alle Wörter. Aus einer bestimmten Aneinanderreihung, aus einer bestimmten Ordnung entsteht die Sinnhaftigkeit des Gesprochenen. Ebenso entsteht aus der Eingliederung jedes Menschen in das große Ganze des Universums sein Sinn und Zweck des Lebens. Die Göttin Matangi regiert über diese höhere Ordnung, diese höhere Weisheit, über die Integration jedes menschlichen Wesens in das göttliche Universum.
»Sind wir harmonisch in die Abläufe des Universums eingegliedert, folgen wir unserem Dharma, unserer Bestimmung, dem Sinn und Zweck unseres Daseins.«
Sind wir harmonisch in die Abläufe des Universums eingegliedert, folgen wir unserem Dharma, unserer Bestimmung, dem Sinn und Zweck unseres Daseins. Eine Ordnung folgt immer auch bestimmten Gesetzen und Regeln. Im Fall der göttlichen Ordnung, über die die Große Makrokosmische Kraft Matangi herrscht, handelt es sich jedoch nicht um eine einschränkende Ordnung, sondern im Gegenteil um den Ausdruck höchster göttlicher Kreativität. Diese Kreativität äußert sich in der Art und Weise, wie wir unser Dharma leben. Plötzlich macht alles einen Sinn, weil wir mithilfe Matangis die göttliche Perspektive auf unser Leben und dessen göttliche Ordnung einnehmen können. Wir realisieren, dass wir schon immer in diese göttliche Ordnung eingebettet waren und es auch immer sein werden.
Der Wirkungsbereich der Göttin Matangi sind die Künste.
Matangi erscheint in einem dunklen Smaragdgrün. Dies ist die Farbe der höheren Intelligenz und der tiefgründigen Weisheit. Neben ihrer Vina trägt sie ähnliche Waffen und Utensilien wie die Große Makrokosmische Kraft Tripura Sundari (siehe Teil 1 dieses Artikels, erschienen in Tattva Viveka Nr. 94). Dazu gehören ein Bogen aus Zuckerrohr, Blumenpfeile, eine Schlinge und ein Haken. Sie ist bildhübsch und faszinierend. Oft wird sie mit einem Papagei dargestellt, der die Kraft ihrer Sprache symbolisiert. Sie sitzt auf einem Thron aus Edelsteinen.
10. Kamalatmika
Die zehnte und letzte der Göttinnen aus dem Dasha-Maha-Vidya-Kanon ist Kamalatmika. »Kamala« heißt übersetzt so viel wie Lotus und der Lotus ist die heiligste Pflanze der Hinduisten. Kamalatmika ist die Große Makrokosmische Kraft der Fülle und des Reichtums. Sie steht mit Fülle, Schönheit, Fruchtbarkeit, Liebe und Hingabe in Verbindung. Sie wird oft mit der Göttin Lakshmi gleichgesetzt und mit der römischen Göttin Venus oder der griechischen Göttin Aphrodite verglichen. Die göttliche Mutter erfüllt in ihrer Hypostase als Lakshmi alle Wünsche ihrer Verehrer. Sie repräsentiert Erfüllung, göttliche Gnade und Liebe.
Kamalatmika hat Ähnlichkeiten zu Tripura Sundari (siehe Teil 1 dieses Artikels, erschienen in Tattva Viveka Nr. 94). Beide regieren über Liebe, Schönheit und die Erfüllung von Wünschen. Doch während Sundari ihre Kraft auf subtiler Ebene äußert, macht Kamalatmika ihren Einfluss im Außen für uns sichtbar. Kamalatmika bringt uns dazu, Form im Außen zu erschaffen – Tripura Sundari erlaubt uns hingegen, die äußere Welt in unser inneres Bewusstsein zu absorbieren. Kamalatmika ist also jene Große Makrokosmische Kraft mit der maximalen Manifestationskraft des Göttlichen in der materiellen Welt. Nichtsdestotrotz residiert Kamalatmika im Himmel, dem Königreich der himmlischen Wonne, wo allein alle Wünsche erfüllt werden können. Kamalatmika unterstützt alles, was wir wirklich anstreben. Sie kann sowohl für die Erfüllung gewöhnlicher weltlicher Ziele als auch für spirituelle Erkenntnisse angerufen werden. Doch sollten die gewöhnlichen Wünsche, die wir durch sie zu erfüllen versuchen, immer Teil unserer Suche nach göttlicher Erfüllung in unserem Leben sein und keine reine Bedürfnisbefriedigung.
Kamalatmika steht für die materielle und spirituelle Fülle.
Kamalatmika ist die Form der göttlichen Mutter, die in unserer heutigen Gesellschaft am meisten (wenn auch unbewusst) verehrt wird, da wir uns hauptsächlich der Schönheit und Fülle im Außen bewusst werden. Die meisten von uns jagen Vergnügen, Reichtum, Begabung oder Ruhm nach, die allesamt nur oberflächliche Aspekte des Wirkungsbereichs von Kamalatmika sind. Diese natürliche Verbindung zu Kamalatmika können wir jedoch nutzen, um ihre höchste Form anzustreben.
»Das Höchste im Leben ist die Hingabe an das Göttliche.«
Das Höchste im Leben ist die Hingabe an das Göttliche. Wenn wir diese Hingabe an das Göttliche äußern, werden wir unvergleichliche Schönheit und Fülle in allem finden. Darüber hinaus lehrt uns Kamalatmika, dass wahrer Reichtum nicht das ist, was wir besitzen, sondern das, was wir geben. Das, was wir suchen, wird uns letzten Endes gegeben. Daher ist es von außerordentlicher Bedeutung, unsere Wünsche weise zu wählen. Wir sollten nichts weniger als das Göttliche suchen, die unendliche, ewige und perfekte Existenz, Bewusstsein und Glückseligkeit, und uns nicht mit vergänglichen Zielen begnügen. Dies ist die wahre Verehrung von Kamalatmika, die jede äußere Suche, jeden äußeren Wunsch des Tantrikers beendet. Durch Kamalatmikas Gnade sehen wir die Schönheit in allen Dingen. Die Qualität unseres Bewusstseins ist unser größter Reichtum, nicht die Dinge, die wir im Außen besitzen und die wir sowieso nicht festhalten können. Als Teil der Verehrung von Kamalatmika wird das Entfalten der inneren Wahrnehmung gesehen, die uns die außerordentliche Schönheit in der einfachen Präsenz der Natur und Mutter Erde wahrnehmen lässt.
In ihrer Darstellung sitzt Kamalatmika auf einem Lotus und gewährt mit einer Hand ihren Segen und mit einer anderen vertreibt sie die Angst des Praktizierenden. In ihren anderen zwei Händen hält sie Lotusblumen oder in manchen Abbildungen auch Goldmünzen und einen Topf voll mit Wasser. Typischerweise wird sie mit zwei Elefanten dargestellt, die sie von oben mit Wasser aus ihren Rüsseln benetzen. Der Lotus ist ein Symbol innerer Entfaltung. Das Wasser steht für spirituelle Gnade, Liebe und Verbundenheit. Als Göttin steht Kamalatmika für die Fülle in all ihren Formen.
Das Selbst offenbaren
Mit Kamalatmika schließt sich der Kreis der Dasha Maha Vidyas, der zehn Großen Makrokosmischen Kräfte. Von Kali, Tara und Tripura Sundari über Bhuvaneshvari, Tripura Bhairavi und Chinnamasta bis hin zu Dhumavati, Bagalamukhi, Matangi und schließlich Kamalatmika haben wir uns das ewig Weibliche, Maha Shakti, in seinen zehn Facetten angesehen. Sie alle haben ihre spezifischen Wirkungsbereiche und helfen dem Tantriker auf seinem spirituellen Weg vom Ego zum höchsten Selbst. Dieses Ziel ist auf unterschiedlichem Wege erreichbar. Doch alle zehn Wege unterscheiden sich lediglich darin, wie das Ziel erreicht wird. Das Ziel, die Offenbarung des höchsten Selbst, bleibt auf jedem der zehn Wege das gleiche.
So kann der Tantriker sich diejenige Große Makrokosmische Kraft auswählen, die am meisten mit ihm resoniert. Mit ausdauernder spiritueller Praxis, mit Hingabe und Verehrung der ausgewählten Göttin kommt der Praktizierende seinem Ziel Schritt für Schritt näher, diese vor allem im Inneren seines Wesens zu erkennen. Die Hingabe an eine der Großen Makrokosmischen Kräfte mag am Anfang durch Neugierde ausgelöst werden, wenn der Tantriker die bildlichen Darstellungen einer der zehn Göttinnen kontempliert. Einmal entfacht, wird das Feuer der Bewunderung von kontinuierlicher Praxis und Kontemplation am Leben gehalten. Und so führt der Weg einer der Dasha Maha Vidyas auch zu den anderen neun, da sie sich am Ende im selben Ziel treffen: der Offenbarung des höchsten Selbst und des Erkennens des göttlichen Funkens in uns.
Dies war der zweite und letzte Teil des Artikels, indem die zweiten fünf Göttinnen dargestellt wurden. Den ersten Teil mit weiteren fünf Göttinnen findest du hier:
Stefanie Aue – Göttinnen im Tantra, Teil 1
Erschienen in Tattva Viveka 95.
Zur Autorin:
Stefanie Aue ist Redakteurin der Tattva Viveka. Als Sozial- und Medienwissenschaftlerin sowie Yogalehrerin und Tantra-für-Frauen-Gruppenleiterin gilt ihr Interesse gesellschaftlichen und individuellen Transformationsprozessen.
Der Artikel ist unter Mitarbeit von Chloe Hünefeld entstanden.
Weiterführende Literatur:
Chinnaiyan, Kavitha M. MD (2017): Shakti Rising. Embracing Shadow and Light on the Goddess Path to Wholeness. New Harbinger Publications, Inc. Oakland.
Kinsley, David R. (1997): Tantric Visions of the Divine Feminine: The Ten Mahavidyas. University of California Press. Berkeley and Los Angeles.
Kinsley, David R. (1986): Hindu Goddesses. Visions of the Divine Feminine in the Hindu Religious Tradition. University of California Press. Berkeley and Los Angeles.
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