Die zehn göttlichen Erkenntniswege der Dasha Maha Vidyas (Teil 1)
Tantra ist unter anderem für die besondere Verehrung des weiblichen Teils Gottes bekannt, »Maha Shakti« in Sanskrit. Auf dem Weg zum höchsten Absoluten wählt der Tantra-Praktizierende eine der zehn Facetten Maha Shaktis, um seinem Ziel, der Erleuchtung, auf die von ihm bevorzugte Weise näherzukommen. Jede dieser zehn Facetten oder »Dasha Maha Vidyas« verbindet die Manifestation mit dem allerhöchsten Göttlichen und stellt daher die Möglichkeit dar, ein einzigartiger Erkenntnisweg für den Praktizierenden zu werden. Dieser erste Teil des Artikels widmet sich den ersten fünf der Dasha Maha Vidyas und dem Potenzial, das in ihnen verborgen liegt.
Der hinduistische Tantrismus spricht von »Shiva« und »Maha Shakti« als dem männlichen und weiblichen Prinzip des Universums. Das Shiva-Prinzip stellt dabei den mit dem Bewusstsein in Verbindung stehenden Teil des Absoluten dar, während Maha Shakti die sich als Energie äußernde Kraft ist, die die gesamte Manifestation durchdringt. Sie ist der Heilige Geist, der die Trinität mit Vater und Sohn komplettiert. Maha Shakti hat gemäß der tantrischen Tradition wiederum zehn spezifische Aspekte, die bestimmte Aufgaben der göttlichen Mutter übernehmen. Jeder dieser zehn Aspekte spiegelt sich in jedem Detail der Schöpfung, in jedem Baum, in jedem Blatt und in jeder Zelle wider. Gleichzeitig hat jeder dieser zehn Aspekte auch seinen Anteil an der Resorption der Schöpfung. Anders gesagt, äußert sich die göttliche Mutter in zehn verschiedenen Hypostasen, die im Tantra in der personifizierten Form von zehn unterschiedlichen Göttinnen verehrt werden kann. Um jede einzelne dieser zehn Göttinnen, die in Sanskrit auch »Dasha Maha Vidyas«, die zehn großen Erkenntniswege oder die zehn Großen Makrokosmischen Kräfte genannt werden, kennenzulernen und mit ihnen in Einklang zu treten, führt der Tantra-Praktizierende Meditationen, Rituale und Übungen der Aufmerksamkeit und Transfiguration aus, um sich so der ausgewählten Göttin zu nähern und ihre Gnade zu empfangen. Im Gegenzug verhilft die Göttin dem Praktizierenden zu mehr und mehr Selbsterkenntnis. Zunächst nimmt der Praktizierende dabei die entsprechende Göttin im vermeintlich Äußeren wahr, um sie dann durch Identifikation, »Samyama« in Sanskrit, mit ihr im eigenen inneren Wesen zu erleben.
Damit diese Identifikation auf leichte Weise gelingt, ist es hilfreich, eine genaue Vorstellung von jener Großen Makrokosmischen Kraft zu haben, mit der wir in Einklang treten möchten. Auf diese Weise fällt uns der Bezug zur göttlichen Mutter leichter. Jede einzelne der Göttinnen aus dem »Dasha Maha Vidya«-Kanon personifiziert daher, was für uns sonst ohne ihre bildlichen Darstellungen abstrakte Wirklichkeit bliebe. Auf diese Weise fällt es dem Praktizierenden leichter, mit höheren spirituellen Wahrheiten in Berührung zu kommen und eine persönliche Beziehung zur jeweiligen Göttin aufzubauen, sodass er ihre kosmische Wahrheit direkt in sich selbst erfahren kann. Die spirituelle Praxis mit den zehn Großen Makrokosmischen Kräften ist daher weniger eine äußere Anbetung, sondern vielmehr eine innere Verehrung in Form von Meditation, Identifikation und Hingabe.
Aus dieser Tradition heraus wird auch verständlich, warum Tantra oft mit der Verehrung der göttlichen Mutter, des weiblichen Aspekts der Gottheit, assoziiert wird: Tantra bejaht die Manifestation, die aus der Energie, Shakti, entspringt und auf diese Weise täglich von uns erfahren werden kann. Gleichzeitig erkennt es dennoch auch den gleichbedeutenden männlichen Teil des Universums, Shiva, an.
»Tatsächlich unterstützen sich das männliche und weibliche Prinzip gegenseitig und sie können zusammen verehrt werden.«
Tatsächlich unterstützen sich das männliche und weibliche Prinzip gegenseitig und sie können zusammen verehrt werden. Gemeinsam entspringen Shiva und Maha Shakti der allerhöchsten und absoluten Realität Gottes. Da Maha Shakti sowohl mit dem Allerhöchsten als auch mit der Manifestation verbunden ist, kann sie den Tantriker auf seinem Erkenntnisweg von der konkreten materiellen Welt bis zum reinen Bewusstsein leiten. Genauso wie Maha Shakti mit dem Grob-, aber auch mit dem Feinstofflichen verbunden ist, sind es auch ihre zehn göttlichen Aspekte, die Dasha Maha Vidyas. Jede einzelne von ihnen führt den Praktizierenden, der sich an sie wendet, auf direktem Weg zurück zur Quelle der Existenz, zu Gott selbst.
Die zehn Großen Makrokosmischen Kräfte lassen sich in wohlwollende und schreckliche Göttinnen einteilen, denn einige dieser Großen Makrokosmischen Kräfte sind nicht nur inspirierend, sondern auch ziemlich Furcht einflößend, und es bedarf einer gehörigen Portion Mut, ihnen gegenüberzutreten. Darüber hinaus sind ihre symbolischen Erscheinungsformen nicht zwingend dazu gedacht, uns Vergnügen zu bereiten, sondern eher dazu, uns herauszufordern und unseren Geist wachzurütteln. So können sie beispielsweise unsere Gedankenprozesse neutralisieren und uns von den Mustern unseres Verstandes befreien. Aufgrund dieses immensen Einflusses auf unser Wesen ist es wichtig, nicht nur oberflächlich an die zehn Großen Makrokosmischen Kräfte heranzutreten, sondern uns inständig der göttlichen Mutter hinzugeben, um in den vollen Genuss ihrer Gnade zu kommen, um dann mit der Transformation unseres Wesens von ihr gesegnet zu werden.
Die zehn Großen Makrokosmischen Kräfte oder Dasha Maha Vidyas bilden eine vollständige Gruppe, können aber auch einzeln verehrt werden. So wird beispielsweise Tripura Sundari, die dritte der Großen Makrokosmischen Kräfte, in Südindien als die göttliche Mutter selbst verehrt. Im Norden und Westen Indiens, in Tibet und Kaschmir sowie in buddhistischen Ländern wird diese Ehre Tara, der zweiten Großen Makrokosmischen Kraft, zuteil. Im Norden und Osten Indiens, in Bengalen und Assam ist hingegen die Große Makrokosmische Kraft Kali diejenige, die die meiste Verehrung erfährt.
Im Folgenden widme ich mich nun der Vorstellung jeder einzelnen Großen Makrokosmischen Kraft, ihrer Eigenschaften und Wirkungsbereiche.
Die zehn Großen Makrokosmischen Kräfte – Dasha Maha Vidyas
1. Kali
Jede Große Makrokosmische Kraft hat bestimmte Eigenschaften, anhand derer wir sie beschreiben und erfahren können. Diese Eigenschaften mögen nicht immer auf den ersten Blick eine Verbindung aufweisen. Oft offenbart sich ihr Zusammenhang erst mit der Zeit und eher auf eine intuitive als intellektuelle Weise. Wie bereits erwähnt, sind nicht alle der zehn Großen Makrokosmischen Kräfte gleichermaßen für jeden von uns sofort zugänglich. Eine der eher herausfordernden Göttinnen ist die Große Makrokosmische Kraft der Zeit und Transformation, Kali. Kali ist die Bühne der Manifestation, denn außerhalb von Zeit und Raum wäre die Schöpfung undenkbar.
Die symbolische Beschreibung ihres Aussehens ist zum Fürchten: Sie ist tiefschwarz, trägt eine Girlande aus Totenschädeln um den Hals, sie streckt ihre Zunge weit heraus und lacht laut auf. Sie hat vier Arme und vier Hände. In einer davon hält sie einen abgeschlagenen, vor Blut tropfenden Menschenkopf, in der anderen das Schwert, das diese Tat vollbracht hat. Ihre weiteren Hände formen zwei Gesten oder »Mudras« in Sanskrit: Die eine Hand schenkt eine Segen verleihende Geste, die andere Gebärde soll die Angst des Praktizierenden, der sich ihr nähert, vertreiben. In ihrer Darstellung tanzt Kali auf einem Friedhof, oft sogar direkt auf einem Leichnam. Ihre schwarze Haut symbolisiert die Ewigkeit und den Tod – sie inspiriert den Tantriker, das Reich des Bekannten zu transzendieren. Der abgeschlagene Kopf und die dazugehörige Waffe weisen auf den Tod des Egos und das Unterscheidungsvermögen zwischen dem, was vergänglich ist, und dem, was ewig ist, hin. Kalis Gnade beendet die Identifikation mit dem physischen Körper und dem Ego: Der Gedanke, dass wir nur Fleisch und Persönlichkeit sind, entpuppt sich als reine Illusion. Demnach ist Kali keine »Vorgartengöttin«, sondern erscheint uns als angsteinflößend, bedrohlich und höchst intensiv. Doch sie ist gleichermaßen faszinierend.
Kali, die Große Makrokosmische Kraft der Zeit und Transformation.
Der Name Kali kommt von »Kala«, was übersetzt Zeit bedeutet. Kali regiert daher nicht nur jeden einzelnen Augenblick, sondern ebenso die Ewigkeit. In ihrer Essenz ist die Ewigkeit unbeweglich und unveränderbar, doch in der Manifestation treibt uns die Zeit zu immerwährendem Wachstum und Transformation an.
»Durch den wiederholten Zyklus von Leben und Tod, von Werden und Vergehen realisieren wir schließlich die Wahrheit der Ewigkeit.«
Durch den wiederholten Zyklus von Leben und Tod, von Werden und Vergehen realisieren wir schließlich die Wahrheit der Ewigkeit. Kali lehrt uns, dass, wenn wir unsere Anhänglichkeit an die Geschehnisse in unserem Leben aufgeben, wir die Zeit transzendieren und ihre wahre Natur als Ewigkeit erkennen. Eine schnelle und tiefgründige Transformation sowie die Erkenntnis der eigenen ewigen Existenz sind ihre Gaben.
Wo wir Neues erschaffen wollen, müssen wir zunächst Platz machen und Altes aussortieren. Wollen wir unser Wohnzimmer neu einrichten, müssen wir zunächst unsere alten Möbel auf den Sperrmüll bringen. Wollen wir uns selbst neu erschaffen, müssen wir uns zunächst von unserem alten »Ich« verabschieden. So stehen Zerstörung und Schöpfung in einem zyklischen Zusammenhang. Eins folgt dem anderen, bevor der Zyklus wieder von Neuem beginnt. Kali zerstört alles, was nicht wahr, nicht authentisch, nicht echt ist.
Durch sie lernen wir, das Unwesentliche vom Wesentlichen zu unterscheiden und uns von allem, was nicht essenziell ist, zu lösen. Leben und Tod sind die Rhythmen der Zeit. Kali ist das Leben, das im Tod existiert, und der Tod, der im Leben existiert. Am Ende stirbt nur die Illusion von unserem begrenzten, verzerrten, ja sogar illusorischen Selbstsinn. Im Gegenzug schenkt uns Kali ewiges Leben. Daher erscheint sie Furcht einflößend für den gewöhnlichen Verstand, der sich von ihr bedroht fühlt, nicht jedoch für unsere Seele, die Kalis universelle Wahrheit und Gnade in allem erkennt.
2. Tara
Die zweite Große Makrokosmische Kraft heißt Tara. Denjenigen, die sich bereits mit dem Buddhismus beschäftigt haben, wird sie als buddhistische Gottheit begegnet sein, denn sie ist die wichtigste Göttin dieser Tradition. Im chinesischen Buddhismus ist sie auch unter dem Namen Kwan Yin bekannt. Im Gegensatz zu Kali wird Tara meistens als eine wohlwollende Göttin angesehen. Vor allem erscheint sie ihren Verehrern als die Retterin in der Not. Der Name Tara wird auf die Sanskrit-Wurzel »tri« zurückgeführt, was so viel wie »überqueren« bedeutet: zum Beispiel das Überqueren eines Flusses, eines Meeres, eines Berges oder sonst einer schwierigen Situation. Der Praktizierende kann sich in Notfällen an die Göttin Tara wenden oder wenn er an einem Scheideweg nicht weiterweiß.
»Tara ist diejenige, die uns leitet. Sie ist das rettende Wissen, das uns sicher ans andere Ufer führt.«
Tara ist diejenige, die uns leitet. Sie ist das rettende Wissen, das uns sicher ans andere Ufer führt. In diesem Sinne ist Tara auch der uns leitende Morgenstern, nach dem wir uns richten können, wenn wir verloren zu sein glauben.
Ähnlich wie Kali als die Verkörperung der Zeit, die zur Schöpfung beitrug, hat auch Tara ihren Anteil an der Entstehungsgeschichte. Tara ist die Verkörperung des göttlichen Wortes oder wir könnten auch sagen der Urschwingung, »Pranava« in Sanskrit. Das mag uns aus der Bibel bekannt vorkommen, denn dort heißt es ebenso: »Am Anfang war das Wort.« Aus dieser Urschwingung hat sich mit Erscheinen der Großen Makrokosmischen Kraft Tara die gesamte Manifestation gebildet. Sie repräsentiert das Wort, den Klang und die Gedanken, die wir mit ihrer Hilfe zu transzendieren vermögen. Jene, die nach Eloquenz sowie poetischen und literarischen Fähigkeiten streben, sind gut beraten, sich an Tara zu wenden. Auch jene, die Wissen erwerben oder weitergeben wollen, finden in Tara eine Verbündete. Sie hilft dem Praktizierenden, wissend und weise zu werden und so den Ozean der Unwissenheit und Ignoranz – das sogenannte »Samsara« (in Sanskrit) – zu überqueren. Mit der von ihr erworbenen Weisheit können wir die Essenz der Dinge erkennen, welche die perfekte Glückseligkeit ist, »Ananda« in Sanskrit. In ihrer schrecklichen, zornigen Form wird Tara auch Ugra Tara genannt. Diese Hypostase schenkt uns den Sieg in jeder Debatte und jedem Wissenswettbewerb, doch dafür fordert sie unsere uneingeschränkte Verpflichtung zur absoluten Wahrheit, »Satya« in Sanskrit. Taras Gabe an ihre Verehrer ist die göttliche Gnade, die jedes Karma unterbricht und uns verhilft, auf dem spirituellen Weg einen wahren Sprung nach vorne, auf Gott zu, zu machen. Als Große Makrokosmische Kraft des Mitgefühls erbarmt sie sich aller, die sich ihr bedingungslos anvertrauen.
Tara verkörpert das Mitgefühl und die göttliche Gnade.
Taras Aussehen ähnelt in einigen Darstellungen dem von Kali. Sie hat eine dunkelblaue Haut, trägt eine Girlande aus Köpfen um den Hals und schmückt sich mit acht Schlangen. In ihren Darstellungen tanzt sie ebenso wie Kali auf einem Leichnam und in ihren vier Händen hält sie einen abgeschlagenen Kopf, ein sichelförmiges Schwert, eine Schere und eine Lotusblüte. Ihre dunkle Hautfarbe ist ein Hinweis auf ihre unmanifestierte Natur, den latenten Urklang des Universums. Die acht Schlangen repräsentieren die acht traditionellen übernatürlichen Kräfte oder »Siddhis« in Sanskrit, die durch Taras Gnade erlangt werden können. Die Schere symbolisiert ihre Fähigkeit, alle Anhaftungen des Tantrikers zu durchtrennen, und die Lotusblume steht für ihr offenes Herz, das gleichzeitig ihr unendliches Mitgefühl symbolisiert.
Andere Darstellungen von der Großen Makrokosmischen Kraft Tara unterscheiden sich beispielsweise in der Erscheinung ihrer Hautfarbe. So finden wir auch die weiße, grüne oder vielfarbige Tara und im Buddhismus, und je nach universeller Funktion, werden den Aspekten Taras weitere Farben zugeordnet.
3. Tripura Sundari
Eine weitere Große Makrokosmische Kraft, die zu den bekannteren Göttinnen gehört, ist Tripura Sundari. Sie ist die makrokosmische Kraft der Liebe, Schönheit, Harmonie und Perfektion. Wer sie verehrt, verehrt das Göttliche in der Manifestation. Denn die äußere Schönheit, die Form, spiegelt die innere Schönheit, das Sein, wider. Wahre Schönheit ist immer mehr als die äußere Form, die sich mit der Zeit verändern kann. Daher ist wahre Schönheit nicht an eine Form oder ein Objekt gebunden, sondern ist eine Wahrnehmung des reinen, unbefleckten Bewusstseins, das in seiner unreinen, mit Gedanken und Emotionen überladenen Form die Schönheit der Dinge verschleiert. Tripura Sundari stellt die ultimative Schönheit durch reine Wahrnehmung dar, die unser höchstes Selbst »Atman« in jedem Moment offenbart.
Während »Sundari« mit Schönheit übersetzt werden kann, bedeutet »Tripura« so viel wie »aus den drei Städten« (»Pura« = Städte, »Tri« = drei). Gemeint sind hier die drei Welten und unsere drei Körper der physischen, astralen und kausalen Ebene. Gleichzeitig deutet diese Dreiteilung auch auf die drei Bewusstseinszustände, den Wachzustand, den Traumzustand und den Tiefschlaf hin, die sie regiert. Einer ihrer weiteren Namen ist Rajarajeshvari, die Herrscherin aller Herrscher oder die höchste Herrscherin des Universums. In ihrer Hypostase als Bala (das junge Mädchen) oder Shodasi (die Sechzehnjährige) zeigt sie sich spielerisch, charmant und voller Unschuld. Als junges Mädchen leitet sie vor allem die jungen Tantriker auf ihrem Weg und stellt dabei die Unschuld des Anfangs und den Enthusiasmus des Beginnens dar, die wir uns auf unserem gesamten spirituellen Weg bewahren sollten.
Liebe, Schönheit und Harmonie sind die Einflussbereiche von Tripura Sundari.
Gleichzeitig ist Tripura Sundari jedoch auch die Göttin der Liebe und des Verlangens. In ihrer Form als Lalita offenbart sie ihre sinnlich-erotische Seite, die sich allerdings nicht nur auf die zwischenmenschliche Ebene beschränkt. Jeder Handlung, jeder Tat geht ein Verlangen voraus und so erschien auch bei der Entstehung des Universums zunächst der Wunsch des Einen, des ewig Ganzen, sich zu expandieren und sich aus seiner formlosen Transzendenz in die formfüllende Manifestation zu entfalten. Tripura Sundari stellt eben jenen Wunsch, jenes Verlangen dar, aus dem die gesamte Manifestation entspringt. Gleichzeitig repräsentiert sie jedoch auch den Wunsch des Schöpfers, jedes einzelne Teilchen der Manifestation wieder in sich, in der Ur-Einheit zusammenzubringen. Für uns Menschen spiegelt sich dies vor allem in innigen Liebesbeziehungen wider. Denn der Wunsch, sich mit dem geliebten Wesen zu vereinen, ist nichts anderes als eine Reflexion des Verlangens des Schöpfers, sich mit seiner Schöpfung wiederzuvereinen.
In ihrer Ikonografie wird Tripura Sundari folgendermaßen beschrieben: Ihre Haut strahlt wie die aufgehende Sonne. Auch sie hat vier Arme. In ihren Händen hält sie einen Bogen aus Zuckerrohr und fünf Blumenpfeile, eine Schlinge und einen Haken. Sie ist jung und bildschön und sitzt auf einem Lotus, welcher in Shiva, ihrem Geliebten, der ausgestreckt auf einem Bett liegt, wurzelt. Das Bett selbst hat vier Pfeiler, auf denen es steht. Diese werden von den vier männlichen Göttern Brahma, dem Schöpfer, Vishnu, dem Erhalter, Rudra, dem Zerstörer, und Maheshvara, als die Summe dieser drei Gottheiten, verkörpert. Tripura Sundaris rosiger Teint weist auf ihre Freude, Erleuchtung und ihr Mitgefühl hin. Der Bogen repräsentiert den Verstand und die Pfeile die Sinne. Sie trifft uns mit ihren Pfeilen und löst so unendliches Vergnügen und die Erkenntnis in uns aus, dass alle Formen der Schöpfung Aspekte unseres reinen Bewusstseins sind. Ihre Schlinge deutet darauf hin, dass sie die Fähigkeit besitzt, die ihr hingegebenen Verehrer mit ihrer Schönheit einzufangen. Ihr Haken entfernt alle Anhaftungen an äußere Erscheinungen. Alle fünf Formen von Shiva – der liegende sowie die vier Bettpfosten – repräsentieren je ein Element der Manifestation, nämlich Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther, die von der Großen Makrokosmischen Kraft Tripura Sundari zum Leben erweckt werden.
4. Bhuvaneshvari
Neben der Göttin der Zeit, Kali, bildet die Große Makrokosmische Kraft Bhuvaneshvari, die Göttin des Raumes, die Grundlage der Manifestation. Sie wird auch die Herrscherin des Universums genannt. Das gesamte Universum ist ihr Körper und sie schmückt sich mit allen darin existierenden Wesen. Aus ihrem kosmischen Mutterleib, dem Raum, wird alles geboren.
»Die göttliche Mutter erschafft den Raum, um alle Dinge darin zu gebären.«
Die göttliche Mutter erschafft den Raum, um alle Dinge darin zu gebären. Auf ähnliche Weise erschafft sie auch den Raum in unserem Bewusstsein, um so die göttliche Natur in uns zu gebären. In ihr erblicken die Dinge die Manifestation und gedeihen und wachsen. Kali und Bhuvaneshvari sind zwei sich ergänzende Kräfte. Die erstere schränkt während des Schöpfungsprozesses die Ewigkeit ein und schafft somit die Zeit. Im Befreiungsprozess schenkt sie uns unsere Ewigkeit zurück. Die zweite schränkt die Unendlichkeit ein und schafft damit den konkreten Raum. Im Befreiungsprozess lässt sie uns unsere Omnipräsenz realisieren. So erschaffen Kali und Bhuvaneshvari die Bühne, auf der sich alle Gesetzmäßigkeiten und Prozesse des Lebens manifestieren. Bhuvaneshvari ist die Leinwand, ihre Ausdehnung und der Film selbst. Als Ausdehnung verkörpert sie die Himmelsrichtungen, jede mit ihrer spezifischen Qualität. Der Osten steht für den Anfang, der Norden für die Erleuchtung, der Westen für die Reife und der Süden für die Vollendung. Auf ähnliche Weise repräsentiert Kali die Zeit-Qualitäten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Demnach enthält sowohl der Raum die Zeit als auch die Zeit den Raum.
Bhuvanesvari strahlt wie die aufgehende Sonne in die Weite des Raumes.
Bhuvaneshvari verkörpert den Kosmos (»Bhuvana« in Sanskrit) in ihrem göttlichen Wesen. Wer sie verehrt, erhält eine kosmische Sichtweise, und sie ist es, die den Tantriker von der Engstirnigkeit in Bezug auf Gedanken und Glaubenssätze befreit. Die Göttin hilft uns, jenseits aller Identifikation mit Glauben, sozialer Klasse, Rasse, Geschlecht, Nation, Religion und Status zu blicken und schließlich zu einem universellen Verständnis zu gelangen. Als solche ist Bhuvaneshvari eine äußerst wichtige göttliche Kraft für unsere gegenwärtige Zeit der gegensätzlichen und spaltenden Glaubenssätze, welche die Welt eher zerstören, als sie zu einen. Mit Bhuvaneshvari erhalten wir eine höhere Sichtweise und ein globales Verständnis. Wenn wir diese höhere Sichtweise sowie die Unendlichkeit, die darin liegt, vergessen und uns zu sehr mit unwichtigen Kleinigkeiten aufhalten, kann es leicht passieren, dass wir in der begrenzten Form der Welt und ihrer Gegenstände hängen bleiben. Auf diese Weise verschleiert die Große Makrokosmische Kraft Bhuvaneshvari die Unendlichkeit ihres Raumes für diejenigen, die sich mit dem Gegenständlichen zufriedengeben, in einer einzigen großen Illusion, »Maya« in Sanskrit. Bhuvaneshvari wird vor allem von Tantrikern verehrt, da sie durch sie auf bewusste Weise die Schöpfung und die Illusion, Maya, wahrnehmen.
In ihrer Darstellung ähnelt Bhuvaneshvari der Großen Makrokosmischen Kraft Tripura Sundari (siehe vorheriger Abschnitt). Ihre Haut strahlt wie die aufgehende Sonne mit einem jugendlichen Glanz, der auf die gerade erst frisch erschaffene Schöpfung verweist. Die weiche und zarte rote Seide, die ihren Körper umhüllt, vermittelt die Süße und Sanftheit ihres Wesens. Sie gehört zu den Göttinnen, die uns angenehm erscheinen. In zwei ihrer vier Hände trägt sie eine Schlinge und einen Stachel. Mit den anderen beiden bildet sie Mudras, die die Angst der Praktizierenden vertreiben soll, und verleiht ihren Segen. Ihre Schlinge symbolisiert ihren festen Griff, der sich in der Manifestation in Schwerkraft und Kohäsion äußert, während sie mit dem Stachel die sich in alle Richtungen ausbreitende Expansion vorantreibt. Wie Tripura Sundari sitzt sie auf einem Thron, der von den fünf Shiva-Hypostasen gestützt wird. Von dort regiert sie das gesamte Universum und jede Bewegung darin.
5. Tripura Bhairavi
»Bhairavi« heißt übersetzt so viel wie schrecklich. Und das beschreibt diese Große Makrokosmische Kraft sehr gut. Das transformierende Feuer ist ihre Stärke. Doch dieses Feuer nehmen wir als beängstigend wahr, da es alle Begrenzungen und Illusionen der egozentrischen Existenz radikal vernichtet. Tripura Bhairavi steht auch für den göttlichen Zorn, der sich jedoch ausschließlich gegen alle Unreinheiten im Wesen des Praktizierenden richtet und gegen alles, was ihn in seinem spirituellen Wachstum behindern könnte. Obwohl sie für viele eine schwierig zu ertragende göttliche Kraft ist, ist sie wichtig sowohl für unsere Führung als auch für unseren Schutz. Durch Tripura Bhairavi äußert sich der göttliche Zorn der göttlichen Mutter gegenüber allem, was ihre Kinder bedrohen könnte.
Das göttliche Feuer der Göttin Tripura Bhairavi entfacht im Wesen des Praktizierenden das Streben sowie die Aspiration nach Höherem (»Tapas« in Sanskrit) und löst hinderliche Interessen und Anhaftungen auf. Wenn wir uns voll und ganz einer Sache widmen, schwindet unser Interesse auf natürliche Weise an anderen Dingen. Sie üben keine Anziehung mehr auf uns aus. Tapas steht für dieses wahre Interesse, für das tiefgründige Streben im spirituellen Leben, das dazu führt, dass alles andere seinen Reiz verliert und wir nur noch unsere spirituellen Bestrebungen verwirklichen wollen. Durch das Feuer von Tapas lässt der Praktizierende mit Leichtigkeit alle nicht essenziellen Dinge in seinem Leben los und richtet sich auf das Essenzielle aus. Somit wird Tripura Bhairavi insbesondere zur Unterstützung der eigenen spirituellen Praxis angerufen. Sie hilft dem Praktizierenden in Fastenperioden, in Zeiten des Schweigens, während Meditationsretreats, auf Pilgerreisen oder während jeder anderen spirituellen Anstrengung, die der Praktizierende unternimmt. Wann immer wir uns in unserer spirituellen Praxis einem Hindernis gegenübersehen, können wir uns an die Große Makrokosmische Kraft Tripura Bhairavi wenden und sie um Unterstützung bitten. Mit ihrer Hilfe gelingt es ebenso, notwendige Opfer zu bringen, die uns auf unserem Weg voranbringen. Wer von ihr unterstützt wird, erhält eine besonders effektive Kraft in seinen Handlungen, da er mit aller Energie eine bestimmte Tat ausführen kann, während er alle anderen Handlungsmöglichkeiten dabei ausschließt und diese »opfert«.
Tripura Bhairavi in ihrer Eigenschaft als Kriegerin Durga.
Die Göttin Tripura Bhairavi ist eine der erschreckenden Seiten der göttlichen Mutter. Sie ist die Kriegerin, Durga, die für das wahre Bewusstsein kämpft. Als Chandi oder als die Zerstörerin jedes Widerstandes kann sie angerufen werden, um jegliches Hindernis zu bewältigen und jedes der vier grundlegenden Lebensziele zu erreichen: Kama (Vergnügen), Artha (Wohlstand), Dharma (Pflichterfüllung) und Moksha (Befreiung). Tripura Bhairavis Erscheinung steht sprichwörtlich in Flammen, sie erleuchtet mit ihrem Licht die Manifestation. Auch sie trägt eine Girlande aus Totenschädeln um den Hals. Ihr Gesicht ist strahlend und ihre Brüste sind blutverschmiert. In einer ihrer vier Hände trägt sie einen Rosenkranz (»Mala« in Sanskrit), mit dem sie jeden neuen Zyklus der Schöpfung zählt. In einer weiteren schwingt sie ein Schwert, das alle Form auslöscht. Mit den anderen beiden Händen macht sie die Geste des Wissens und des Segens.
Dies war der erste Teil des Artikels, indem die ersten fünf Göttinnen dargestellt wurden. Den zweiten Teil mit weiteren fünf Göttinnen findest du hier: <https://members.tattva.de/goettinnen-im-tantra-teil2/>
Erschienen in Tattva Viveka 94.
Einen praktischen Zugang zu den Dasha Maha Vidyas bieten die Yoga- und Tantrakurse der Deutschen Akademie für traditionelles Yoga. Mehr dazu unter: traditionelles-yoga.de
Zur Autorin
Stefanie Aue ist Redakteurin der Tattva Viveka und freie Journalistin. Als Sozial- und Medienwissenschaftlerin sowie Yogalehrerin und Tantra-für-Frauen-Gruppenleiterin gilt ihr Interesse gesellschaftlichen und individuellen Transformationsprozessen.
Der Artikel ist unter Mitarbeit von Chloe Hünefeld entstanden.
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