Langjährige Gemeinschaftserfahrung im ZEGG
Gemeinschaft unterliegt immer bestimmten Entwicklungsprozessen. Ob diese zu mehr Gemeinschaft oder mehr Individualität führen, liegt nicht zuletzt an den Bewohnern vor Ort. Achim Ecker berichtet von fast vier Jahrzehnten, die er im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) im brandenburgischen Bad Belzig verbracht hat, und von den Schwierigkeiten, den Geist der Anfangsjahre in einer sich entwickelnden Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.
Wie es anfing
Um eine friedvolle Welt zu schaffen, ist es wichtig, herauszufinden, warum sie noch nicht friedlich ist. Also suchten wir intensiv nach dem Grund dafür, dass Menschen ihre Liebe verraten und grausam handeln. Wenn es nicht nur einige »böse« Menschen sind, die sich gegen das Gute, Wahre und Schöne verschworen haben, müssen wir unweigerlich auf uns selbst schauen.
»Was tragen wir in uns, das Hass, Feindschaft und Ausgrenzung Andersdenkender bis heute ermöglicht und hervorbringt?«
Was tragen wir in uns, das Hass, Feindschaft und Ausgrenzung Andersdenkender bis heute ermöglicht und hervorbringt? Können wir verhindern, dass das innere Monster wieder ausbricht wie im Faschismus?
Gemeinschaftsleben bedeutete für uns eine Ausbildung, bei der man eine konstruktive Haltung trainiert. Der zunehmenden Individualisierung sollte etwas entgegengesetzt werden, zum Beispiel das »Ich will« hintanstellen und dem »Es will« zu folgen. Uns ging es um die Wiedereingliederung des Menschen in einen sozialen Raum, in dem die Einzelnen erfahren, dass sich nicht alles nur um sie selbst dreht. Stattdessen übernahmen wir soziale Verantwortung.
»Was wir Persönlichkeit nennen, ist die Summe unserer Neins zum Leben.«
Ein bestimmtes Image oder festes Selbstbild zu haben, steht letztlich immer dem Einen, der Liebe im Weg. Thomas Hübl drückte es später so aus: »Was wir Persönlichkeit nennen, ist die Summe unserer Neins zum Leben.« Wir schaffen uns eine Persönlichkeit, einen »Jemand« aus einer Mangelstelle in uns heraus. Dort sind wir nicht genug und entwerfen uns ein Bild, mit dem wir genug sind.
Heute ist dieser Narzissmus prägend geworden für eine Single-Kultur. Gemeinschaft dagegen bedeutet soziale Rückkopplung, die mir ermöglicht, mich immer feiner darauf auszurichten, dass mein Handeln dem Ganzen (und damit auch mir) dient. Was bin ich bereit für das Neue, das kommen soll, zu investieren?
Baustelle auf dem Gelände
Was war an der Gemeinschaft vor dem ZEGG wichtig?
Dieter Duhm ist bis heute ein großer Visionär und Liebender. Seine Vision, sein Geist und sein großes Herz für die Menschen und das Lebendige trugen uns über viele Jahre durch einige der Untiefen unseres Lebens hin zu verbindenden gemeinschaftlichen Erfahrungen. Die Zeit verflog und dehnte sich gleichzeitig ins Unendliche aus. Er war der Versuchsleiter in diesem Experimentallabor, und wir lernten sehr viel von ihm. Er prägte einen geschützten und gehaltenen Raum, in dem wir gesellschaftliche, familiäre und persönliche Muster ablegen und neue Erfahrungen machen konnten. Am Eingangstor der »Bauhütte« vom Gut Rosenhof in Schwand stand eine handgeschriebene Tafel, die die Besucher und Gäste willkommen hieß: »Lieber Besucher, du betrittst das Innere eines Kulturkristalls. Lege beim Eintritt alle geistigen Platten und Vorstellungen ab.« Wir trainierten unsere Ausrichtung auf eine andere Welt, ein anderes Dasein, auf ein Leben in Frieden und Verbundenheit. Wir lernten, uns zu lieben und füreinander einzustehen.
Der politische Gedanke war für mich äußerst wichtig in dieser Zeit, als ich viele meiner mitgebrachten Selbstbilder ablegen und Weltbilder erweitern konnte. Dieter Duhm hatte in seinen häufigen Ansprachen und Vorträgen immer den Blick auf die Welt dabei. Als innerdeutsches Flüchtlingskind hatte er selber Ausgrenzung und Gewalt und eine zerrüttete Gesellschaft erfahren. Diese Erlebnisse schärften seinen Blick und sein Mitgefühl für die Situation so vieler Menschen weltweit. Daraus entwickelte er seinen starken Liebes- und Heilungsimpuls.
Für mich persönlich könnte ich schwer die Kraft mobilisieren, all die Schatten in mir anzuschauen, den angestauten und verdrängten Schmerz darin zu fühlen und hindurchzugehen. Wenn es allerdings denkbar wäre, dass mein Hindurchgehen eine positive Veränderung in der Welt bewirken könnte, dann war allein diese Vorstellung ein starkes Motiv.
»Wir erforschten unsere individuellen Muster, Konflikte und Veränderungen exemplarisch – als Beispiel für die Muster, Konflikte und Veränderungen in der Welt.«
Wir erforschten unsere individuellen Muster, Konflikte und Veränderungen exemplarisch – als Beispiel für die Muster, Konflikte und Veränderungen in der Welt. Wenn ich etwas an meinen Mustern verändere, dann bewirke ich damit mehr als nur meine persönliche Veränderung. Nicht nur wirke ich damit auf meine unmittelbare Umgebung direkt ein, noch mehr wirke ich auf die zutiefst vernetzte Lebenswelt um mich herum und damit auf das ganze Gewebe des Lebens, dessen Teil ich bin (und umgekehrt). Als Folge davon identifiziere ich mich nicht mehr so sehr mit meinen individuellen Problemen, denn ich sehe, dass es kollektive Themen sind, mit denen ich nicht alleine stehe. Das zu erkennen, war hilfreich: Wir lernten, uns als individuelle Ausprägungen des Ganzen zu sehen und zu verstehen.
ZEGG-Gründung
1991 kauften wir dann das ZEGG-Gelände. Die über Deutschland und die Schweiz verteilte Gemeinschaft hatte damit wieder ein Zentrum. Wir nannten es »Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung« nach einem Entwurf von Dieter Duhm von 1978. Er zog zu unserer Überraschung nicht mit nach Bad Belzig. Das löste viel Verunsicherung aus. Wer sollte diese Rolle übernehmen können und wie machen wir den Übergang von einer Gemeinschaft mit einem klaren Leiter zu einer basisdemokratischen (nach Spiral Dynamics2Spiral Dynamics ist eine Theorie der menschlichen Entwicklung, die 1996 in dem Buch »Spiral Dynamics« von Don Beck und Chris Cowan vorgestellt wurde. Das Buch basiert auf der Theorie aus den 50er-Jahren des Psychologieprofessors Clare W. Graves. Der Begriff vMeme bezieht sich auf ein Wertesystem, das als organisierendes Prinzip fungiert und sich durch Meme (sich selbst verbreitende Ideen, Gewohnheiten oder kulturelle Praktiken) ausdrückt. Der vorangestellte Buchstabe v (= value) weist darauf hin, dass es sich um Wertesysteme handelt. Die Farben erinnern an die Lebensbedingungen und Bewusstseinskapazitäten der einzelnen Systeme. sogenannten »grünen Meme«) Gemeinschaft? Es dauerte vier Jahre, bis zur Gründung von Tamera 1995, bis dieser Übergang gelungen war. Es war damals ein wichtiger Schritt, ganz in unsere Verantwortung zu gehen.
Wir hatten mehrmals in der Woche große Plenarsitzungen mit etwa 60 Menschen, auf denen wir alle Entscheidungen besprachen und per Konsens trafen. Diese langen Gemeinschaftsversammlungen nervten viele zunehmend. Für mich persönlich waren sie auch eine Gelegenheit, alle zu sehen und mich zu verabreden. Fast alles wurde mündlich übermittelt. Protokolle gab es damals noch keine.
Ich erlebte viel Freiraum. Das Leben fand auf dem gesamten Platz statt, mit allen und überall. Es war ein dichtes Leben, wo ein Jahr wie fünf war. Ich war begeistert, lernte sehr viel dazu, menschlich vor allem, aber auch handwerklich. Jedes Haus war auch meines. Ich fühlte mich überall willkommen. Wir besuchten uns oft und fast immer ohne Verabredung. Keine Tür war zu. Wir halfen uns, wenn jemand etwas brauchte. Wir waren einfach füreinander da. Keiner war genervt von den Besuchen und wollte »ungestört« sein – zumindest in meiner Erfahrung. Wenn es nicht passte, sagte man es.
Für den Kauf des 14 Hektar großen Geländes hatten wir natürlich Darlehen aufnehmen müssen. Anfangs brauchten wir über vier Millionen DM für den Kauf und notwendige Investitionen. In den weiteren Jahren stieg die Summe und liegt heute bei drei Millionen Euro, dem geschätzten Wert des Platzes. Wir haben ein großes Darlehen von einer Schweizer Stiftung, von den Bewohnern, von Freunden und nur wenig von Banken.
Anfangs hatten wir wenig Geld und bauten nur mit dem, was wir hatten. Die Schreinerei zerlegte die Pressspan-Schränke aus der DDR und baute daraus zum Beispiel Regale und Fensterfassungen. Neues Holz war selten, weil es teuer war. Wir lebten in den Häusern, wie sie waren, wechselten Tapeten, strichen neu, legten billige Teppiche auf alte Böden und darauf Matratzen, das reichte uns. Wir nutzten die Ressourcen, die wir hatten und mitbrachten. Alle brachten alles ein. Wenn wir Geld brauchten, gab es Gemeinschaftsaktionen wie Brezelverkauf, um welches zu verdienen. Wir nahmen auch Arbeit in Massage-Salons und andere Jobs an. Dafür wurde nicht viel Zeit aufgewendet, denn noch brauchten wir nicht viel Geld, unsere Bedürfnisse waren gering.
Lehmbau
Gäste waren Gemeinschaftsgäste. Die GmbH existierte nur auf dem Papier und war wenigen im Alltag bewusst, ebenso wenig die Rolle des Geschäftsführers. Die Gemeinschaft stand für uns in der Wichtigkeit mit großem Abstand vor allem anderen. Wir wussten immer: Wenn es schiefgeht, verkaufen wir das Gelände, können das geliehene Geld hoffentlich zurückzahlen und ziehen als Nomadenstamm durch Europa.
Anfangs stand die Gemeinschaft und die Klärung dessen, was das Zusammen-Sein stört, an erster Stelle – und erst weiter hinten kam das Private: »mein« Zimmer, »mein« Rückzugsraum, »meine« Küche. Ob zuerst die soziale (und erfüllende) Dichte dünner und weniger tragfähig wurde und darum die privaten Bedürfnisse auftauchten oder ob die privaten Bedürfnisse nach langer Abwesenheit wieder auf die Bühne wollten und so die soziale Dichte auflösten, ist wie die Frage nach Henne und Ei.
Wachstum – das Hamsterrad beginnt, sich zu drehen
Allmählich wurde der Seminarbetrieb notwendiger für die Finanzierung des ZEGG und auch der Einzelnen. Bisher dienten die Seminare vor allem der Vermittlung unserer eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem intensiven Gemeinschaftsleben. Es gab nicht viele Seminare jenseits der großen »Tagungen«, wie wir sie damals nannten. Jetzt begannen wir, uns als Seminarzentrum zu etablieren. Unsere Gäste kamen nicht mehr in eine Gemeinschaft, sondern in ein Seminarhaus. Sie erwarteten einen geordneten, sauberen Betrieb mit mehr Komfort und beispielsweise keine gemischtgeschlechtlichen Bäder. Die Ansprüche an die Küche stiegen. All dies bedeutete mehr Arbeit, mehr Ausgaben und mehr Aufwand. Dafür mussten wir mehr Geld einnehmen, also mehr Gäste haben. In der Folge arbeiteten wir mehr und verwendeten weniger Zeit für das Gemeinschaftsleben und die Klärung von Konflikten. Gleichzeitig entstand ein erhöhter Geldbedarf der Einzelnen zum Beispiel für Urlaub und Ausbildungen. Eigentlich logisch, denn mehr Geldbedarf schafft mehr Notwendigkeit zu arbeiten und mehr Alltag, von dem man sich dann auch wieder erholen muss. Diesen Wunsch gab es in den Anfangsjahren nicht oder nur sehr wenig. Alles, was ich damals spannend, anziehend und interessant fand, fand innerhalb der Gemeinschaft statt. So war ein Leben mit wenig Geld erfüllend.
Man kann das ZEGG nicht ohne die Zeit in der »Bauhütte« erklären. Die Liebesgemeinschaft, die damals aufgebaut wurde, trug uns lange Zeit und hat eine Verbindlichkeit und Freundschaft geschaffen, die für das Bestehen des ZEGG wesentlich waren. Das war die Anfangszeit seit 1978 bis etwa 1998. Auch heute noch leben wir von dem sozialen Guthaben, das wir schufen, als wir noch intensiv Gemeinschaft lebten. Kontinuierlich nahmen die »soziale Dichte« und auch die Ausrichtung des »geistigen Raumes« ab. Wir leben sozusagen von den Zinsen und brauchen das »Kapital« auf.
Achim Ecker erklärt einer internationalen Gruppe den Bodenaufbau
Es gab auch äußere Umstände, die zur Veränderung beitrugen, zum Beispiel andauernde Angriffe der Presse und Autonomer Linker, die auf die Dauer zermürbend wirkten. Sie machten uns übervorsichtig und zurückhaltend in dem, was wir dachten, taten und sagten. Es war anstrengend, Neues im Zusammenleben, in Liebe, Beziehung und Sex zu wagen und ständig dafür bekämpft zu werden. Es kam zu einem schleichenden Prozess innerer und dann auch äußerer Anpassung, damit endlich Ruhe war und wir einfach nur leben konnten. Es war leichter, zurückzurudern, näher an die Gesellschaft heranzutreten und der eigenen inneren Trägheit nachzugeben. Neue Menschen lernten ausschließlich dieses »Wohnprojekt ZEGG« kennen, wo man sich mehr in Ruhe ließ. Das war um einiges besser als das, was sie kannten. Die Ausrichtung wich zunehmend einer Beliebigkeit. Einige merkten das, aber das führte nicht zu einer Kursänderung, sondern die, die den Weg anmahnten, wurden ignoriert oder bekämpft. So erging es mir.
Das Muster wird sichtbar – die Evolution von Gemeinschaften
Wir schlitterten schleichend in eine Privatisierung und Rückverbürgerlichung hinein. Heute sind die Häuser und ihr Umfeld »privat«. Mein Lebensraum hat sich verkleinert und meine Möglichkeiten ebenfalls. Dafür sind wir professioneller geworden. Wir fingen an, Arbeit nicht mehr als einen Beitrag zu einer gelebten Vision zu sehen, sondern als etwas, was man mehr oder weniger mag und tut, weil man Geld verdienen muss oder weil man dafür anerkannt wird. Man wollte sich immer mehr individuell »absichern«. Wir vertrauen dem gemeinsamen Getragen-Sein nicht mehr. Wir wollten in der Freizeit lieber mit wenigen Menschen allein sein, wollten ein volleres Bankkonto, Krankengeld und Rentenversicherung. Ökologischer sind wir dadurch nicht geworden.
Weiter ging es mit notwendigen und lange aufgeschobenen Investitionen in den Seminarbetrieb. Zuletzt wurde noch die Gemeinnützigkeit mit ihren vielfältigen Zwängen bewilligt. Ob Fluch oder Segen, das weiß ich nicht. Mehr Menschen wurden angestellt. Das Hamsterrad drehte sich schneller.
Die Photovoltaikanlage des ZEGG
Als Gemeinschaft und Betrieb passten wir uns Rechtsvorschriften an, mal gezwungen, mal im vorauseilenden Gehorsam. Wir stellten sie kaum noch infrage wie in unserer Anfangszeit, sondern empfanden, dass wir – besonders seit der Gemeinnützigkeit – keine Wahl mehr hatten. In den Corona-Zeiten wurde diese unhinterfragte Anpassung extrem und belastete die Gemeinschaft: Wir schlitterten in eine Krise – trotz unseres Wissens über Kommunikation, Projektion3Was dich bei anderen emotional bewegt, aufregt, ärgert oder beschäftigt, verrät immer auch deine eigene Betroffenheit. Je stärker die emotionale Energie, desto wahrscheinlicher handelt es sich um eine eigene Problematik, die nach außen projiziert wurde. Wir bekämpfen dann unsere eigenen projizierten Inhalte bei anderen. Wir nehmen es in Kauf, sie zu verletzen, um unsere Verantwortung nicht annehmen zu müssen. Für Freiheit von Schatten bei einer bestimmten Thematik spricht also, wenn du sie ohne große Betroffenheit (aber eingefühlt) und von verschiedenen Seiten beleuchten kannst. Zugleich braucht es manchmal die Klarheit des heiligen Zorns. und Schuldverschiebung.
Uneingestandene Angstmuster, die nicht mehr gemeinschaftlich bearbeitet werden, spielen dabei eine Rolle. Mit Angst wird regiert, was nicht erst in der Corona-Zeit gut zu beobachten war. In einem Vortrag von 2002 sagte ich:
»Überall, wo Angst im Spiel ist, sind wir beherrschbar. Daher ist die Frage der Überwindung der Angst so wichtig. Angst erzeugt Enge und damit Gewalt und schränkt Kommunikationsmöglichkeiten ein. Gerüchte verbreiten sich und produzieren weitere Angst. Aus Angst- und Konfliktvermeidung entsteht keine Gewaltfreiheit und auch keine bessere Welt, sondern nur Wegschauen. Um friedensfähig zu sein, muss Angst positiv durchgearbeitet sein.«
Alles in allem scheint es einen mächtigen Sog zu geben. Das belegen auch die ICSA4International Communal Studies Association. Eine dreijährig stattfindende akademische Konferenz von internationalen Gemeinschaftsforschern. 2001 fand die Konferenz zum ersten Mal im ZEGG – in einer Gemeinschaft – statt. https://www.icsacommunity.org/. Im Juli 2022 findet sie in Dänemark statt, wo Ecker über diese Entwicklung sprechen wird.-Studien zu historischen Gemeinschaftsprojekten und den Kibbuzim in Israel. Ich besuchte 1998 die Konferenz in Amsterdam und sprach dort über das ZEGG. 2001 fand die ICSA im ZEGG statt, was ein Highlight in unserer Gemeinschaftsgeschichte war. Kibbuzim gibt es seit etwa 100 Jahren – und sie entwickelten sich hin zu immer mehr Privatisierung und Angleichung an die Gesellschaft. Ich habe dieses Muster5Der Australische Forscher Bill Metcalf beschreibt auffällige Trends bei Gemeinschaften: von radikaler zu weniger radikal; älter zu werden als Gemeinschaft; von unorganisiert zu professionell und dem Trend von Gemeinschaft zu Co-Housing. nach der Konferenz im ZEGG »Gemeinschaftsentropie« genannt und mich seither dafür eingesetzt, dem entgegenzuwirken. Heute muss ich erkennen, dass es mir nicht gelungen ist.
Die Frage wäre also: Wie gestalten wir die Entwicklung von Gemeinschaft, dass sie nicht dem Muster folgt? Was für eine Haltung braucht man, um diesen Sog zu überwinden? Welches erfüllende Zusammen-Sein brauchen wir? Für mich war es früher die freie Liebe, die positive und unbeschwerte Einstellung zum Sex gemeinsam mit dem Aufgehoben-Sein in einer authentischen Gemeinschaft von Menschen. Genauso wie die Teilnahme an einem avantgardistischen Projekt mit dem Ziel von Frieden und dem Ende jeglicher Gewalt.
2016 fragte ich meine Gemeinschaft:
»Sind wir heute nicht naiv, wenn wir denken, der eingeschlagene Weg, der immer enger an die Gesellschaft heranführt, (…) mache uns glücklich? Wollen wir diesen Weg wirklich gehen oder sollten wir wieder alles auf ein Maß herunterfahren, an dem wir weniger brauchen? Geht das überhaupt noch? Sind wir nicht schon viel zu sehr am RENNEN im HAMSTERRAD? Wir werden sichtbarer ›über dem Radar‹, aber werden wir damit auch wirksamer? Sind wir noch eine Alternative, oder hat uns die Logik des Kapitalismus schon längst vereinnahmt? Wir werden mehr auf Konferenzen eingeladen, aber wir haben weniger zu sagen, weil wir kaum noch anders sind. Wo ist unser (r)evolutionärer Impuls? Was ist richtig?«
Verantwortung für die Welt
Die Flüchtlingswelle 2015 erinnerte mich daran, dass wir mit dem Einstieg ins Hamsterrad, mit steigendem Umsatz und mit einem höheren Lebensstil auch mehr an der Zerstörung beteiligt sind. So sind wir mitverantwortlich dafür, dass immer mehr Menschen in ihren ausgebeuteten Ländern nicht mehr leben können.
Wir sind so froh über unseren Luxus, den wir uns »verdient« haben und der im Vergleich mit der Gesellschaft bescheiden scheint. Wir vergessen dabei aber, dass er nur aufrechtzuerhalten ist mit der Ausbeutung und dem Leid der Menschen, deren geistige Elite sich in der Krise dorthin aufmacht, wo ihre Ressourcen hingebracht werden: zu uns! Unser Lebensstil hat ihre Lebensgrundlagen bereits zerstört.
Indem wir nicht in unsere Verantwortung nehmen, dass wir mit unserem Leben andere ausbeuten, verhelfen wir ihnen zu der Illusion, dass sie auch so leben könnten. Sie wollen es dann auch und werden damit unweigerlich Mit-Ausbeuter, Mit-Täter an der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf diesem einst so wunderschönen Planeten. Wir hängen mittendrin.
Wir leben inzwischen im bestehenden Paradigma der kapitalistischen Logik von Ausbeutung und Krieg, von Betäubung durch Konsum und der Ablenkung durch überzogene Befindlichkeiten6Robert Pfaller erklärt das so: »Warum kämpften die Leute plötzlich nur noch um Anerkennung? Und nicht etwa um Gleichheit? (…) Könnte es nicht sein, dass diese Frage nur erfunden wurde, um abzulenken von der Frage nach dem Haben bzw. Nicht-Haben? (…) So gut wie alle neoliberalen Projekte sehen irgendwelche Rücksichten auf irgendwelche Empfindliche vor, weil gerade dies die Bereicherung und Privatisierung ermöglicht, indem es die Räume der Gleichheit zerstört. (…) Ein beträchtlicher Teil der neoliberalen Pseudopolitiken und der durch sie geschürten Empfindlichkeiten beruht auf der Aufmerksamkeit für die Fragen der (kulturellen, ethnischen, religiösen, sexuellen etc.) Identität. Wenn man Menschen keine Zukunftsperspektive mehr zu geben vermag, lenkt man ihren Blick eben ab auf ihre Vergangenheit, ihre Herkunft oder auf den Punkt, an dem sie stehen.« (Robert Pfaller, Erwachsenensprache; Fischer 2017). Wir stellen diese Kultur nicht mehr infrage. Wir leben etwas weniger zerstörerisch darin, etwas glücklicher und sind etwas kleinere Mittäter. Wir können noch auf die zeigen, die größere Mittäter sind.
Der Rückzug ins Private ist der eingetretene Pfad, wenn wir in der Enge sind. Alles andere, der Weg in den Kontakt, in die Verbundenheit hinein, fühlt sich wie ein Risiko an – vor allem jetzt nach zwei Jahren vorgeschriebener Distanz, Misstrauen und Masken-Tragen. Corona hat uns aus der Normalität gerissen. Gerade lässt Corona nach – und schon haben wir wegen östlicher und westlicher Machtfantasien einen neuen Krieg in Europa. Es wird keine Normalität mehr geben. Vielleicht ist das gut, denn sie beruhte auf Ausbeutung und sozialer Ungleichheit. Es kostet Überwindung und Kraft, einen neuen Weg zu gehen jenseits des Gewohnten. Aber das Überleben der Menschheit fordert von uns, dass wir diesen Weg finden und gehen.
Wenn ich Zeit habe, zu lauschen, höre ich innere Alarmglocken. Wir im ZEGG werden immer mehr ein Co-Housing-Projekt und verlieren die Anbindung an unsere Gründungsziele. Ich wollte nie so leben und will es immer noch nicht. Ich fürchte um unsere Wirkung für eine humanere Welt.
Meine Vision des ZEGG (aus einem Brief an die Gemeinschaft 2012):
»In meiner Vorstellung ist das ZEGG ein Leuchtturm für die Liebe auf der Welt, belebt von Menschen, die in ihrer eigenen Entwicklung neugierig vorangehen und persönliche Grenzen nicht als Grenzen, sondern als spannende Herausforderungen betrachten. Das wahre Abenteuer liegt im Inneren. Darin sind wir uns alle einig. Wir brauchen uns und die Spiegel und Sichtweisen der anderen, um mit dem größtmöglichen Bewusstsein unsere Schatten und unsere blinden Flecken zu beleuchten. Wir wissen auch, dass jeder Schritt, den wir auf dieser Ebene tun, ein Schritt für die Welt ist.«
Ich möchte in einer Gemeinschaft leben, die ihr Zusammenleben wieder ins Zentrum stellt. Dass wir an uns arbeiten, transparenter miteinander werden, uns herausfordern, uns gegenseitig zumuten, was wir aneinander lieben und was uns trennt. Dass wir wieder von- und miteinander lernen. Dass wir uns wieder als Gemeinschaft erleben, verbindende Dinge miteinander erfahren und so Themen in unsere Festivals einbringen können, die aus einem gelebten Experiment hervorgehen.
Achim Ecker bei einem Vortrag im Sommercamp 2019
Ich möchte mit Menschen leben, die ihre Konditionierungen abschmelzen und aus ihrem Herzen handeln. Dazu müssen wir unsere Schatten und Traumata heilen wollen. Gabor Maté schrieb dazu: »Trauma verzerrt unsere Wahrnehmung, sodass wir die Welt nicht mehr so sehen, wie sie ist.« Das ist ein gefährlicher Zustand, aus dem Kriege entstehen. Wir können die Stelle in uns wieder lieben, die sich verletzt vor Schmerzen verschlossen hat. Das ist oft unangenehm, aber es ist der einzige mir bekannte Weg zu unserem größtmöglichen Potenzial. Wir können uns an den Schmerzpunkten gegenseitig lieben lernen. Liebe bedeutet, alles fühlen zu wollen – nicht nur sich gut zu fühlen. Laut Dami Charf, einer Traumatherapeutin, gibt es Entscheidungen, die sich gut anfühlen UND gut für uns und für die Welt sind. Das seien aber die wenigsten. Die allermeisten fühlten sich nicht gut an, seien aber gut für uns und für die Welt. Das heißt, verlasst das postmoderne Dogma des »Es muss sich gut anfühlen«.
2012 schrieb ich weiter:
Wir als Gemeinschaft sind im Moment an einem Punkt, wo wir zwei Monate intensiv zusammen bräuchten! Um uns wieder als Gesamtgemeinschaft zu spüren, zu erfahren, um Werte zu ringen und menschlichen Kontakt. Das wäre so schön, uns die Zeit füreinander zu nehmen. Wir könnten wieder das große Ganze von uns aufbauen. Das ist etwas, was unbeschreiblich bleibt, wenn man es noch nie erfahren hat. Es ist eine Magie in der großen Gruppe, die eine kleine Gruppe nicht enthält. Die Erfahrung, mit mir und meinen Themen aufgehoben zu sein im Großen. Ohne das verbringen wir unheimlich viel Zeit in und mit kleinen und kleinsten Gruppen und Klärungen und Gesprächen und Einzelberatungen für so manches, was sich – würden wir das große Gefäß reanimieren – vielleicht auflösen würde! Es ist wie eine zweite, alternative Bühne, die wir betreten könnten. Aber wir müssten sie mit vollem Einsatz betreten, sonst enthüllt sie ihre Magie nicht. Diese Bühne ist sicher die unbequemere!«
Die Alternative
Laurence Heller, der Begründer von NARM (Neuroaffektives Beziehungsmodell zur Traumaheilung), sagte, Trauma sei eine subjektive, körperlich erfahrbare Überforderung und ein natürlicher Prozess. Trauma führe zum Verlust von Bindung und zur Trennung von Lebendigkeit. Vor lauter Angst vor Restimulierung oder gar Retraumatisierung sprächen wir nichts mehr an. Dies bezeichnet er als »Überschonung«.
»Der Verlust des Paradieses steht für den Verlust der Lebendigkeit in uns.«
Wilhelm Reich prägte den Begriff »Christusmord« für eine Situation, in der Menschen aus ihrem Schatten heraus andere in ihrer Lebendigkeit und Liebe nicht ertragen können und angreifen. Es ist für sie unerträglich, Liebe zu sehen, die zugleich ihre größte Sehnsucht und größte Angst ist. Der Verlust des Paradieses steht für den Verlust der Lebendigkeit in uns. Folgen Menschen ihrer Angst, bekämpfen sie die Liebe und das Licht genauso wie die Person, die sie anbietet. Oder aber umgekehrt, sie überhöhen die Person, die sie anbietet, und das führt auch nicht zur Liebe. Es ist die traurige Normalität des Christusmords7Wilhelm Reich: »Wer zu lange im dunklen Keller gelebt hat, wird den Sonnenschein hassen. Und vielleicht können seine Augen gar kein Licht mehr vertragen. Daher rührt dann der Hass auf den Sonnenschein.«
»Der Mensch, der seit Jahrtausenden in emotioneller Verkrüppelung zugebracht hat, hat das Leben in der Neurose als Normalität akzeptiert.«
»Die emotionale Pest, das ›Du sollst nicht fühlen!‹, drückt sich dann in Lebensfeindlichkeit aus.« in unserer Gesellschaft.
Die Alternative ist einfach und schwer zugleich: Ich erkenne, dass meine Sehnsucht angesprochen ist, die ich tief vergraben habe, und lasse mich noch einmal berühren. Dann fange ich an, mich da, wo ich mich für nicht liebenswert hielt, selber zu lieben. Das Leben miteinander auf diesem Planeten könnte wieder ein Paradies sein.
Zum Autor
Achim Ecker lebt, liebt und wirkt seit drei Jahrzehnten im ZEGG als menschlicher und geistiger Inspirator und Trainer, Planer, Handwerker, Permakulturist. Er hat den sozialen Boden gepflegt für eine lebendige und innovative Gemeinschaft. Ihm ist wichtig zu sehen, wie der Krieg im Inneren korrespondiert mit dem Krieg in der Welt.
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Bildnachweis: © Achim Ecker, Georg Lohmann