Thomas Hübl – Kollektives Trauma heilen

Ein Integrationsprozess

Als Experte für Traumaintegration führt Thomas Hübl Menschengruppen durch einen Bewusstwerdungsprozess traumatischer Erfahrungen und deren unterbewusster, kollektiver Einflüsse. Auf diese Weise lassen sich selbst um Generationen zurückliegende Traumata aufarbeiten und deren hinderliche Einflüsse auf die Gegenwart auflösen. Statt Traumata zu verdrängen, ist es ratsam, eine bewusste Auseinandersetzung zuzulassen und die damit in Verbindung stehenden negativen Emotionen und Gefühle zu verarbeiten.

Was ist kollektives Trauma?

Viele wissen, dass ein nicht geheiltes Trauma beim einzelnen Menschen zu anhaltendem persönlichen Leiden und zu Fehlentwicklungen führen kann. Weniger ausgeprägt ist das Verständnis dafür, dass ein kollektives Trauma, wenn es nicht heilen kann, die Gesundheit ganzer Gesellschaften belastet, ja unseren ganzen Heimatplaneten gefährden kann. Nach meiner Überzeugung verzögern ungelöste systemische und generationenübergreifende Traumata sogar die Entwicklung der Menschheit als Ganzes, hemmen unsere Evolution und fügen der Natur Schaden zu.

Zu den bekannten kollektiven Traumata gehören: der Holocaust, der Völkermord an den Armeniern, die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, das Massaker von Nanjing, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die große irische Hungersnot, die Anschläge vom 11. September 2001 und jetzt noch laufend die Pandemie COVID-19, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel, um nur einige zu nennen.

Ob individuell oder kollektiv, Traumata fragmentieren und zerbrechen, sie erzeugen Verleugnung und Vergessen. Um zu einer Wiedergutmachung beizutragen, müssen wir uns entscheiden, die Tatsachen anzuerkennen, sie zu bezeugen und dadurch gemeinsam zu fühlen, was tatsächlich geschehen ist. Selbst die schrecklichsten Details, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden. Denn wegschauen, verdrängen, leugnen und bagatellisieren bedeutet, die Institutionen und die Umstände der Ungleichheit und der Unmenschlichkeit aufrechtzuerhalten, die die Traumata geschaffen haben.

Die Systemwirkung des kollektiven Traumas

Unterdrückte Energie verschwindet nicht, unbewusste und verleugnete Energie ist auf keine Art und Weise loszuwerden. Sie muss sich bewegen, sie muss sich verwandeln: Sie muss Ausdruck finden. Unbewusstes steigt wieder an die Oberfläche und muss dort aufgenommen, geklärt und integriert werden. 

»Der Schatten kommt immer ans Licht – wie die Wahrheit.«

Der Schatten kommt immer ans Licht – wie die Wahrheit. Ein nicht zur Kenntnis genommenes, nicht gefühltes und nicht gelöstes Trauma wird uns immer wieder im Außen als Wiederholungszwang und Projektion und innen als Anspannung, Kontraktion, gedrosselter Lebensfluss, Leid und Krankheit begegnen.

Ein umfassender Systemwandel hin zu mehr Menschlichkeit, politisch, wirtschaftlich, kulturell und sozial, muss die Identifizierung, Verarbeitung, Integration und Heilung individueller, intergenerationaler und anderer Formen kollektiver Traumata einschließen. Erst wenn wir von der reinen Informiertheit über Trauma übergehen können zur Traumaintegration, kommen wir wirklich voran.

Das Bewusstsein der Trennung

Im kollektiven Traumafeld wird alles Abgespaltene und Verleugnete verstärkt und aufgeladen. Sammelt sich um diese Einschlüsse herum genügend Energie an, können solche Schattenanteile schließlich so aussehen, als wären sie etwas Eigenständiges und besäßen ein Eigenleben. Es ist wichtig, diese scheinbare Eigenständigkeit zu durchschauen, denn es handelt sich in Wirklichkeit um einen Teil unserer selbst, den wir nicht wahrhaben wollen. Dieser erscheint dann häufig als eine Projektion ins Außen. Es entsteht »das andere«, »die anderen«.

In diesem Trennungsbewusstsein meinen wir, irgendetwas Fremdes oder Andersartiges bedrohe unser Überleben, etwas Wesensfremdes oder sogar Außerirdisches, das immer an den Grenzen lauert oder sogar schon vor der Tür steht. Die Projektion des bedrohlichen anderen kann sich beziehen auf Menschen, Menschengruppen, Ethnien, Religionen, auf technische Entwicklungen sowie wissenschaftliche und philosophische Richtungen.

So sehr unsere Projektionen uns erschrecken, sie sind seit jeher ein Teil von uns. Unsere Mythen wiederholen sich ebenso wie unsere Vergangenheit. Es zeigt, wie wichtig es ist, unseren kollektiven Schatten besser zu verstehen, um schließlich im Gesicht des anderen und Fremden uns selbst zu erkennen und zu wissen, dass da kein Unterschied ist.

Von einem kohärenten inneren Feld aus können wir uns auf das kollektive Traumafeld einstimmen. Von da aus erkennen wir, wo sich das transgenerationale Trauma in uns eingenistet hat, wie aus seinen Symptomen Tendenzen und aus den Tendenzen kollektive Übereinkünfte und Gesellschaftsstrukturen werden.

Das Nachzeit-Prinzip – ein energetisches Prinzip von Trauma

Immer wenn wir nicht ganz präsent sein können, weil wir noch mit der Verarbeitung beispielsweise eines Streits mit einem uns nahestehenden Menschen beschäftigt sind, entsteht eine Art zeitliche Lücke, in der wir uns nicht in der Gegenwart befinden, sondern Vergangenes durchspielen. Ich nenne sie »Nachzeit«, und gemeint ist damit eine Phase der Nachbereitung von Erlebnissen, die unverarbeitet geblieben sind. Ein Teil unserer Aufmerksamkeit bleibt damit beschäftigt.

Eine kollektive Traumaerfahrung wie etwa der Holocaust kann über viele Generationen unverarbeitet bleiben. Man kann von so etwas nicht einfach sagen, es liege in der Vergangenheit, denn der Nachklang, die Nachzeit all dieser Gräuel lastet heute noch schwer auf unserer Welt. In der Nachzeit projizieren wir die Vergangenheit in die Zukunft, sodass unser Morgen nicht in erster Linie von Entwicklung und Erneuerung geprägt ist, sondern vor allem von dem Bemühen, das Geschehene zu verarbeiten. Es ist, als wären wir auf der Autobahn unterwegs und kämen alle fünf Kilometer an einem Schild vorbei, auf dem »Gestern« steht. 

Trauma spaltet das Jetzt in die Vergangenheit und die Spiegelzukunft, und somit können wir in diesen Bereichen unseres Lebens nicht mehr präsent mit unserer gegenwärtigen Erfahrung sein. Das Leben möchte sich von nicht integrierter Vergangenheit »entschlacken«. Und die erscheint uns dann in der Gestalt von Körperempfindungen wie Kopfweh, Verdauungsstörungen und Muskelverspannungen, als unangenehme Gefühle wie Befürchtungen und Ängste und als Grübeln und kreisende Gedanken, die wir nicht stoppen können und die nicht zum gegenwärtigen Augenblick gehören. In der Vergangenheit verwurzelte Furcht und Unentschlossenheit können sich auf das Handeln in der Gegenwart sehr hinderlich auswirken. Authentische, wirklich neue Zukunft ist das Ergebnis einer echten Auseinandersetzung, welche die Vergangenheit in Präsenz integriert und etwas Höheres in uns freisetzt – die wirkliche Zukunft.

Die Welt als Zerrbild

Trauma schädigt nicht nur unsere Beziehungen, sondern auch die Wahrnehmung der Welt. Diese erscheint uns dann als Zerrbild. Das zu wissen, ist wichtig, denn wir glauben ja alle, wir nähmen die Welt wahr, wie sie ist, während wir in Wirklichkeit nur einen Teil erkennen. Wenn wir durch die Brille der Vergangenheit auf die heutigen Herausforderungen blicken, kommt es zwangsläufig zu Konflikten.

»Trauma schädigt nicht nur unsere Beziehungen, sondern auch die Wahrnehmung der Welt.«

Raum-zeitliche Verzerrungen dieser Art können eine ganze Gesellschaft erfassen. Kulturelle Traumata können sich mit der Zeit verstärken, um dann auch die gesellschaftliche Wahrnehmung immer weiter zu verzerren. Die so entstehenden Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen werden dann gern zu Selbstverständlichkeiten, zu ungesunden Stereotypen in Form des verbreiteten Glaubens, dass »die Dinge nun mal so seien«. Kollektive Fehlwahrnehmungen lassen unbewusste Programme, Wertvorstellungen und Narrative entstehen, die scheinbar fest zu einer Gesellschaft gehören und ihr Kulturcharakter geworden sind.

Gefangen in der Vergangenheit

Die Vergangenheit ist das, was ungelöst geblieben ist, alle Geschichten und Energien, die niemand wahrhaben will, die man von sich weist. Unausgesprochenes Leid verschwindet nicht unbedingt mit dem Tod der Betroffenen, sondern wird manchmal weitergegeben. Solche Gespenster werden mit der Zeit für ganze Generationen zur Selbstverständlichkeit und tauchen beispielsweise immer wieder auf als verbreitete Armut oder als verheimlichte Gewalt an den Töchtern oder als nicht erlaubtes und unterdrücktes Gefühlsleben bei den Söhnen. Das sind Ausdrucksformen unserer gemeinsamen Traumata, unseres kollektiven Karmas. Es ist unsere verheimlichte, nicht verarbeitete und nicht integrierte Vergangenheit.

Ein Großteil menschlichen Leids resultiert daraus, dass die Vergangenheit verleugnet wird und wir sie uns weder eingestehen noch sie integrieren können. Alles ändert sich, wenn wir uns dazu aufraffen, uns dies anzuschauen und zu fühlen. Wenn Kummer und Trauer zunächst unterdrückt wurden und man sie schließlich doch zulässt und wahrhaft fühlt, tut das erst einmal weh, aber der ehrliche Ausdruck der Gefühle bringt schließlich Erleichterung. Und wo das als eine Art bewusste Praxis geschieht, ist das Werk der heilsamen Integration bereits im Gang.

Sobald ich aus dem endlosen emotionalen Durchspielen früherer oder in die Zukunft projizierter Erlebnisse aussteige, entsteht eine neue Klarheit. Je weiter ich Trauma und Schatten integriere, desto präsenter bin ich in der Gegenwart und offener für eine Zukunft, die wirklich diesen Namen verdient.

»Ethisches Wachstum ist das Resultat von Traumaintegration.«

Fast alle Wirkungen des kollektiven Traumas lassen sich aber auch als intelligente, evolutionäre Reaktion in dem traumatisierenden Moment sehen: Es handelt sich um einen Überlebensimpuls, der bereits den Ansatz zur bewussten Integration in sich trägt. Beim Beleuchten der Vergangenheit, auf der Suche nach einer Antwort und Heilung, können wir uns noch einmal unsere Annahmen über das menschliche Leid vor Augen führen und sie vielleicht neu fassen. So können unsere Dämonen integriert und in diesem neuen Verständnis unserer Welt zu Verbündeten werden. Ethisches Wachstum ist das Resultat von Traumaintegration. 

Der Trauma-Integrations-Prozess

Als ich anfing, Großgruppenprozesse zu leiten, zunächst mit Deutschen, jüdischen Menschen aus der ganzen Welt und Israelis, die gemeinsam ihre Geschichte aufarbeiteten, brachten die Teilnehmer tief sitzende Trauer, Verwirrung und Wut zum Vorschein. Als wir uns gemeinsam auf die Suche nach den Wurzeln dieser Gefühle machten, entdeckten wir einen Zusammenhang damit, Nachkommen von Menschen zu sein, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben.

Im Laufe der darauffolgenden Jahre und als sich unsere Arbeit weiter internationalisierte in die USA, nach Spanien, Mexiko, Israel und Palästina, Argentinien, China und in andere Länder, sammelten wir viele Erfahrungen mit solchen Prozessen und erkannten Muster. Es entwickelte sich daraus eine »Methode«, der CTIP (Collective Trauma Integration Process). Wobei der Begriff »Methode« nur bedingt zutrifft, denn es ist eher eine Toolbox von Übungen, Interventionen und Settings, die individuell abgestimmt und flexibel auf den jeweiligen Prozess zum Einsatz kommen.

Was die Begleiter mitbringen müssen

Für jede Art von Gruppentrauma-Arbeit braucht man unbedingt reife und belastbare Prozessbegleiter mit einem klaren Geist. Hier möchte ich ein paar Kernkompetenzen ansprechen, die nötig sind, um zu dieser Arbeit wirklich etwas beitragen zu können. Zunächst einmal müssen sich mit dieser Arbeit befasste Begleiter und Therapeuten intensiv der eigenen Integrationsarbeit und kontemplativen Praxis der Bewusstseinsentwicklung gewidmet haben. Das schafft in ihnen den Raum und die Klarheit für entscheidend wichtige subtile Fähigkeiten, die für die Begleitung von Gruppentraumata-Prozessen unabdingbar sind. Hier einige der wichtigsten Fähigkeiten:

Es braucht die Kompetenz, …

  • im Zeugen-Bewusstsein zu bleiben beziehungsweise dorthin zurückzukehren
  • ein tiefes Trauma-Verständnis zu haben 
  • auch inmitten intensiver und dynamischer Gruppenenergien präsent zu bleiben und eigenes Getriggert-Sein bewusst zu halten, weil wir im Bereich des Kollektiven alle noch Ungeheiltes in uns tragen
  • energetische Verbindungen zu knüpfen sowie Instinktregungen und Intuitionen mit kognitiven Prozessen zu verbinden
  • das subtile Gruppenfeld, gleich welchen Ausmaßes, präsent zu halten und richtig zu erfassen
  • die Wellenformen des Gruppenfelds wahrzunehmen und diese Wellen klug und behutsam und zum Nutzen aller Beteiligten zu lenken
  • die Verbindung zum Licht der Zukunft herzustellen und ihre ordnende Intelligenz in die Vergangenheit zu downloaden, sodass sie dort heilend wirken kann und unser individuelles und kollektives Potenzial freisetzt

Der Wellenverlauf des Prozesses

In den vielen Jahren, in denen ich als Prozessbegleiter bei solchen Intensivprogrammen tätig war, ist mir aufgefallen, dass der energetische Prozess der Traumaintegration in einer Gruppe einen charakteristischen Wellenverlauf aufweist. Dieses Muster tritt jedes Mal auf, und zwar unabhängig von der Gruppengröße, vom Ort und von der Art der traumatischen Inhalte, um die es bei den Teilnehmern geht.

Bei diesem Prozess zeigt sich, wie ich glaube, dass kollektive Traumainhalte, auch wenn sie im Unbewussten verborgen waren, behutsam an die Oberfläche geholt und im Zuge der Gruppenarbeit wieder integriert werden können. Ich habe in Deutschland und Israel viele Integrationsprozesse zum Holocaust, zum Zweiten Weltkrieg und zum Trauma der Ost-West-Teilung Deutschlands begleitet. Bei meinen in den USA geleiteten Prozessen ging es um Kolonialismus-, Immigrations- und Rassismus-Trauma. 

Am Anfang: Gruppenkohärenz herstellen

Sehen wir uns jetzt an, was passiert, wenn wir einen Raum betreten, in dem ein großer Gruppenintegrationsprozess stattfinden soll. Wenn sich viele ganz unterschiedliche Menschen versammeln, kennen sich die meisten noch gar nicht oder nur flüchtig. Man ist aufgeregt und voller Erwartung unter all den Gleichgesinnten, aber es herrscht sicher auch noch eine gewisse Steifheit und Scheu. Die Leute rutschen auf ihren Sitzen hin und her und suchen eher noch den Abstand. Jetzt gilt es, die Gruppenkohärenz anzubahnen, und dazu werden die Versammelten durch kontemplative Übungen und Beziehungsübungen geführt.

In Kommunikationsübungen zu zweit oder zu dritt lernen sich die Teilnehmer kennen. Wir fordern sie auf, nicht nur genau auf ihre Partner zu achten, während diese sprechen, sondern auch auf sich selbst und auf alles, was zwischen ihnen hin- und hergeht. Was tut sich beim Zuhören im Körper? Was für Gefühle kommen hoch und was für Gefühle spürt man beim anderen? Was wird ihnen beim Zuhören an flüchtigen Gedanken, an Urteilen oder vorhandenen Überzeugungen bewusst, und wie wirken sich diese Regungen auf die Abstimmung zwischen den Partnern aus, trennend oder verbindend?

Bei solchen Übungen des Mitteilens halten wir die Teilnehmer dazu an, einfach nur zuzuhören und keinerlei Feedback in Form von Ratschlägen zu geben. Durch solche und ähnliche Presencing-Übungen kann in relativ kurzer Zeit eine erstaunlich tiefe Gruppenresonanz entstehen. Aufgabe der Leitung ist es, allen Beteiligten Sicherheit zu vermitteln, sodass sich tiefe Kohärenz einstellen kann. Ist das erreicht, dauert es nicht mehr lange, bis sich Vertrauen und Neugier im ganzen Raum ausbreiten. Emotionale Schutzmechanismen treten zurück.

Unser Nervensystem kann unter verschiedenen Umständen unbewusste Inhalte freisetzen: Wenn ungekonnt und gewaltsam etwas aufgebrochen wird, was wir auf jeden Fall vermeiden müssen, oder wenn mit großer Sorgfalt Umstände geschaffen werden, die so etwas wie ein Gefäß für solche Inhalte entstehen lassen. Letzteres ist ein natürlicher Vorgang, der an das Abfallen von reifen Früchten erinnert.

»Ich fühle dich, wie du mich fühlst« ist die Grundlage menschlicher Beziehung.«

Wenn ich diese Art der Gruppenarbeit anleite, mache ich alle Teilnehmer erst einmal darauf aufmerksam, dass Augen, Atem, Puls, Körperbewegungen, Tonfall und Wortwahl des Gegenübers wie Fenster in sein oder ihr gesamtes Leben, aber auch in das Leben der Vorfahren sind. Die Rolle des Zuhörers liegt darin, den Raum und die Präsenz bereitzustellen, durch die wir nicht nur einen Blick in das Innere des anderen werfen können, sondern für diesen Augenblick im anderen sein können und er oder sie in uns. Sich aufeinander einzustimmen, lässt Co-Regulation und Sicherheit entstehen – »Ich fühle dich, wie du mich fühlst« ist die Grundlage menschlicher Beziehung.

Die Welle ins Rollen bringen

Anschließend an die Phase der Kohärenzbildung in der Gruppe laden wir die unsichtbaren Schichten unserer Vergangenheit, die geheilt werden möchten, in diesen Raum ein. Wenn die Gruppe tiefer in die Trauma-Thematik eintaucht und die Teilnehmer auf mehr relevante Inhalte stoßen und sie mitteilen, rollt eine erste Welle heran – langsam zuerst wie die auflaufende Flut, dann aber mit Wucht. Damit sind unbehagliche Gefühle verbunden, man fühlt sich beziehungslos, peinlich berührt, man findet keinen Zugang. Diese Welle ist Ausdruck unseres kollektiven Nichtwissenwollens und Verdrängens.

Erste Welle: Die Verweigerung verarbeiten

Die Welle trägt die Symptome unseres unbewussten Widerstands und der Verdrängung mit sich. Wir arbeiten ja gerade daran, das Trauma als präsente Zeugen körperlich zu empfinden, und so manifestiert sich jetzt auch die Energie der gewohnten unbewussten Verleugnung über den Körper. Leute, die bis jetzt aufmerksam waren, wirken auf einmal so müde, als wollten ihnen die Augen zufallen. Einige fühlen sich schwer und unbehaglich und so, als wären sie nur noch von weit weg beteiligt, und ein paar würden sich am liebsten ganz entfernen.

Entscheidend ist jetzt, diese Erscheinungen weiterhin mit Präsenz und dem Zeugen-Bewusstsein zu begleiten. Sie zeigen uns auf, wie weitgehend die Trauma-Thematik im Körper verankert ist, auch wenn wir sie verleugnen, von uns weisen und nichts mit ihr zu tun haben wollen.

Bei dieser ersten Welle hat man das Gefühl, dass die Verleugnungsschichten des kollektiven Unbewussten, dieser erste Verteidigungswall gegen ein Trauma und seine Auswirkungen, klar und scharf hervortreten. Der Gruppenprozess scheint auf einmal stecken zu bleiben. Alles war so schön im Fluss, und jetzt schlägt die Atmosphäre plötzlich um. Man atmet ein wenig schwerer und bekommt das Gefühl, dass etwas bevorsteht, dass etwas an die Oberfläche kommen möchte. Ich fordere die Teilnehmer dann auf, einfach bei diesem mulmigen Gefühl oder ihrem Widerstand zu bleiben.

Zweite Welle: Die Entladung

Kurz vor der zweiten Welle nehmen Anspannung, Unbehagen und Widerstand noch zu. Weiterhin halten wir diese anschwellende Energie im Bewusstsein, und jetzt werden sich unweigerlich ein paar Teilnehmer zu Wort melden, um der Gruppe mitzuteilen, was sie gerade erleben. Es ist dann so, als würde durch ihre Worte der Deckel von einem Druckkochtopf fliegen, sodass der ganze Druck und Dampf urplötzlich freigesetzt werden, nur dass es sich bei dieser Prozessarbeit um einen Ausbruch von Gefühlen handelt, die in den Raum schießen und all die harten Schichten der Verleugnung aufschmelzen und beiseiteschieben.

Prompt ergießen sich anschließend ganze Sturzfluten starker Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen und Bilder in den Raum. Oft handelt es sich dabei um Inhalte, die ganze Generationen betreffen, oder um historische Bilder, die mit dem Holocaust, der Sklaverei in Amerika oder irgendeinem anderen Kulturtrauma zusammenhängen können, mit dem wir uns gerade beschäftigen. Nicht selten kommt es an diesem Punkt dazu, dass bei vielen tief eingelagerte Generationserinnerungen aufsteigen und etliche in Tränen ausbrechen. Auch hier sind wir wieder aufgefordert, alles, was sich zeigt, mitfühlend zu bezeugen, es zu betrachten, zu fühlen, zu erleben und für die Vergangenheit präsent zu sein, so paradox das klingen mag.

Dritte Welle: Hören, was die kollektive Stimme sagt

Mit Wucht hat sich die Welle gegen unser kollektives Nichtwissenwollen durchgesetzt und lässt starke Empfindungen, Gefühle, Bilder und Erinnerungen bewusst werden. Jetzt breitet sich eine neue Energie in der Gruppe aus, und sie wird als klarer Aufruf zu etwas Neuem wahrgenommen. Es ist, als müsste jetzt eine kollektive Stimme zu hören sein, die Essenz dessen, was wir hier miteinander erleben.

Ein Prozessbegleiter gibt bekannt, dass man jetzt alles, was man erlebt hat, mitteilen kann, da es ja sein kann, dass es sich nicht mehr nur um persönliche Dinge handelt, sondern um eine Depesche des Kollektivs. Das löst eine dritte Welle aus, und meist haben jetzt viele etwas zu sagen, und zwar sehr konzentriert. Dem Plenum fällt die Aufgabe zu, sehr präsent zu bleiben.

Bei den Mitteilungen der Einzelnen ist es oft hilfreich, ihnen behutsam vor Augen zu führen, wohin ihre Aufmerksamkeit gerade geht. Als Prozessbegleiter muss man ständig wie ein Dirigent das Ganze wahrnehmen und ganz nah an seinen Rhythmen und seiner Temperatur bleiben, um jederzeit spüren zu können, wo das Ganze sich zu zerfasern droht. Alles, was jetzt mitgeteilt wird, kann bei anderen Verdrängtes mobilisieren. Ein einziges Wort kann wie ein Tropfen, der in einen still daliegenden Teich fällt, ringförmige kleine Wellen schlagen und bei anderen ähnliche Dinge anklingen lassen, die dann zu tieferer bewusster Wahrnehmung auffordern. Als Zeuge einer solchen Szene erkennt man mühelos, wie der Raum jetzt von der vielschichtigen Verflochtenheit des kollektiven Traumas erfüllt ist.

Das Herausarbeiten der kollektiven Stimme ist ein bisschen so, als würde man beim Lesen eines Textes spüren, was anzustreichen ist und was nicht. Bei allem, was im Laufe des Gruppenprozesses von den Teilnehmern gesagt wird, gibt es manche Äußerungen, auf die ein besonderes Augenmerk gelegt werden muss. Demjenigen selbst ist das vielleicht gar nicht bewusst, aber manchmal umschreiben die Worte mehr als die Ereignisse im Leben Einzelner und rühren an etwas viel Tieferem und Allgemeinerem. Die kollektive Stimme hat etwas Archetypisches und Universales. Nicht alle Stimmen führen die Gruppe in Richtung Integration, aber wenn wir die kollektive Stimme für alle Teilnehmer hervorheben, kann die Wirkung so sein, als würde man in zentrale Energiepunkte des Gruppenkörpers Akupunkturnadeln setzen. Das richtet das Gruppenfeld aus und hebt seine Schwingung, mehr Licht kann fließen und der kollektive Heilungsprozess nimmt richtig Fahrt auf.

Vierte Welle: Klären und Integrieren in der Gruppe

Nachdem man sich genügend Zeit für die Aussprache innerhalb der Gruppe genommen hat, wird es Zeit für den nächsten Verdauungsschritt: die Arbeit in Kleingruppen. Wer sich aber individuelle Betreuung wünscht, kann sich auch zur Einzelarbeit mit einem Therapeuten zusammensetzen (was auch während des Gruppenprozesses jederzeit möglich ist), während sich die übrigen in Dreiergruppen aufteilen.

Trauma-Arbeit verlangt größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Ich habe festgestellt, dass es bei der Integrationsarbeit mit größeren Gruppen sinnvoll ist, ein Team von geschulten Therapeuten zu haben, das sich für den Fall bereithält, dass bei Einzelnen aufgrund ihrer eigenen Traumageschichte heftige Gefühlsregungen ausgelöst werden. Sie widmen sich dann der Einzelarbeit mit den Betroffenen, bis diese wieder in die Gruppe zurückkehren können.

Bei der Arbeit in den Dreiergruppen beschäftigen wir uns weiter mit den zuvor erlebten Wellen und vertiefen dabei unsere Präsenz in Beziehungen. Hier können sich die Teilnehmer in einem intimeren Rahmen austauschen. Es gibt genügend Zeit, auch die persönlichen Erfahrungen und den persönlichen Werdegang anzusprechen. Der Wir-Raum, der in diesen kleinen Gruppen geschaffen wird, ist auch für die Eltern und Großeltern oder die Angehörigen noch früherer Generationen gedacht, die mit dem Trauma, an dem gearbeitet wird, zu tun haben. Wenn du mir von deinem Großvater erzählst, höre ich vorbehaltlos zu und nehme zugleich die höhere Perspektive des Zeugen ein. So habe ich deinen Großvater von mehreren Warten aus im Blick und fühle vielleicht sogar, wie ich mit ihm verbunden bin.

Das ist das Wunder der Einstimmung, sie kann zerstörte Beziehungen wiederherstellen und neue Verbundenheit schaffen. Wir haben unsere Mütter und Großmütter, unsere Väter und Großväter in unserem Körper, und zwar mitsamt ihren Verletzungen und Leiden. Das Trauma ist in den Wurzeln des Stammbaums gespeichert, und dadurch haben auch wir es in uns, im Bau unserer DNA/Epigenetik und unseres Nervensystems. Durch tiefe Einstimmung können wir aus der linearen Zeit ausbrechen und uns mit früheren Generationen verbinden. Wir stehen in einer Wechselbeziehung. Was die Menschen vergangener Jahrzehnte an Traumatisierungen erlebt haben, ist nicht nur ein Teil von ihnen, sondern auch von uns. Deswegen ist es unser aller Aufgabe, für den Ausgleich der seinerzeit angerichteten Schäden zu sorgen.

Wenn alle so weit sind, kommen die Teilnehmer wieder im Plenum zusammen. Es schließt sich eine geführte Meditation an und möglicherweise ein Toning (eine Klangmeditation), um den Raum zu klären und die Gruppe in höheres Licht und höhere Klangfrequenzen zu tauchen. Diese Meditationen führen die Teilnehmer sanft aus der tiefen Energie des Integrationsprozesses heraus und zurück in den Körper und das alltägliche jetzige Erleben. Nach so einem intensiven Prozess fühlt man sich, wie manche sagen, gereinigt oder »wie durchgepustet« – als wäre man gemeinsam durchs Feuer gegangen und jetzt wie neu.

Zum Ende: Meta-Reflexion des gesamten Prozesses

Die letzte Phase zum Abschluss dient der Rückschau auf den gesamten Prozess. Wir klären, was wir bei unserer gemeinsamen Arbeit erlebt und gelernt haben. Nachdem so viel Energie freigesetzt wurde, ist es gut, die Aufmerksamkeit der Gruppe auf den Veränderungsprozess selbst zu lenken. Diese Rückbesinnung kann die Integration von allem, was sich gelöst hat, noch einmal vertiefen, weil sie die im Prozess geschaffenen neuen Nervenbahnen verstärkt und ausbaut. Bei dieser Schlussbetrachtung kommen oft Dinge zur Sprache, die uns während des Prozesses gar nicht aufgefallen sind, und das festigt und verstärkt die ganze Erfahrung noch einmal. Bei dieser wichtigen gemeinsamen Arbeit schreiben wir das Buch des Lebens neu.

Wie sich die Integration von kollektivem Trauma auswirkt

Ich glaube, dass wir uns als Kollektiv vollkommen neu organisieren und zu neuer Vitalität finden können, wenn wir entschlossen an unserer Gruppenkohärenz und kollektiven Intelligenz arbeiten, wenn wir gemeinsam unsere kollektiven Traumata mit Methoden wie der hier beschriebenen bearbeiten und heilen. Das wird unsere Welt in allen Bereichen gesünder werden lassen, und ihr wahres Potenzial kann sich verwirklichen.

Ich spreche hier von unseren Schulen, den Krankenhäusern, der Polizei, dem Rettungswesen, von Regierungen und Nichtregierungsorganisationen, von humanitären Einrichtungen, Behörden, Hilfsorganisationen, von Innen- und Außenpolitik, von bürgerschaftlichen Einrichtungen, gewinnorientierter Wirtschaft und gemeinnützigen Einrichtungen, von allen religiösen und spirituellen Organisationen und schließlich vom Klima und von unserer unmittelbaren und weiteren Umwelt.

Wir werden offener werden, unsere Resilienz stärken, wir werden lernen, bei Konflikten effektiver zu vermitteln, und wir werden bei allen Herausforderungen, die sich uns stellen, für alle Beteiligten würdige Lösungen finden. All das und noch viel mehr ist nach meiner Überzeugung nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Es ist ein Teil unserer Entwicklung und jener des Planeten auf dem Weg der Bewusstseinsevolution. Die Arbeit an einer solchen Zukunft setzt nicht voraus, dass wir bereits wissen, was zu tun ist. Wir müssen nur neugierig bleiben und offen sein für alles, was sich zeigen möchte.

»Ein kollektives Trauma verlangt eine kollektive Antwort.«

Wenn es unsere Aufgabe ist, uns der Leiden traumatisierter Menschen anzunehmen, obliegt es uns ganz sicher auch, gemeinsam Antworten auf frühere und gegenwärtige Menschheitstraumata zu finden. Wenn wir künftige Leiden verhindern möchten, müssen wir uns mit den nicht geheilten Leiden der Vergangenheit befassen. Ein kollektives Trauma verlangt eine kollektive Antwort. Zur Wiederherstellung der Gesellschaft und unserer Umwelt müssen wir alle spirituelle Aktivisten werden, vereint in der gemeinsamen Intention und Bereitschaft, unseren Platz als inspirierte und entschlossene Weltbürger einzunehmen und mit einer Stimme im großen Chor des Werdens zu singen.

Zum Autor:

Thomas Hübl ist Autor, internationaler Seminarleiter und spiritueller Lehrer moderner Mystik, der in seiner Arbeit die zentralen Prinzipien der großen Weisheitstraditionen mit den Erkenntnissen der akademischen Wissenschaft verbindet. Seit 2000 leitet er weltweit Veranstaltungen und Trainings, die sich auf die Heilung und Integration von kollektivem Trauma konzentrieren.

thomashuebl.com/de

net@thomashuebl.com

Weiterführende Information:

Das Buch von Thomas Hübl: Kollektives Trauma Heilen. Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen. Thomas Hübl, München 2021

Pocket-Projekt für die Integration von kollektivem Trauma: https://pocketproject.org (englisch)

Bildnachweis: © Unsplash, Adobe Photostock

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