Für den Schutz und das Entfachen des Lebens
Die Göttin Artemis galt in der griechischen Antike als die Göttin der Jagd, der Wildnis, der Geburt und des Mondes sowie als Hüterin der Frauen und Kinder. Die amerikanische Autorin und Umweltaktivistin Vanessa Chakour betrachtet sie aus diesen und weiteren Gründen als ein Symbol der Stärke und als den Archetyp der Aktivistin, die für das eintritt, woran sie glaubt, und sich für den Schutz und das Bewahren des Lebens einsetzt. Gemeinsam mit der Göttin Artemis und der Pflanzenheilkunde erweckte sie ihre Wildheit neu und nun möchte sie dieses Wissen weitergeben.
Tattva Viveka: Liebe Vanessa, ich freue mich darüber, dass wir nun die Gelegenheit haben, uns über dein Buch »Göttin Artemis in jeder Frau« zu unterhalten. Doch zuallererst, wie würdest du dich unseren Leserinnen und Lesern vorstellen?
Vanessa Chakour: Mein Name ist Vanessa Chakour. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Selbsterinnerung, dass wir Natur sind. In Bezug auf Göttinnen, insbesondere auf Artemis, habe ich das Gefühl, dass sie dieses Kernverständnis repräsentieren. Ich bin die Gründerin von Sacred Warrior, einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen dieses Verständnis der Verbundenheit mit dem Land durch Pflanzenmedizin zu vermitteln. Viele Heilpflanzen, die wir als Unkraut betrachten, befinden sich bereits unter unseren Füßen. So ist es mein Ziel, ein Gefühl des Staunens in den Menschen zu erwecken, wodurch wir uns veranlasst fühlen können, besser auf unsere Umwelt zu achten. Deshalb führte ich mit Sacred Warrior viele Retreats in der Natur und in Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem World Conservation Center durch. Im Grunde genommen möchte ich eindringliche und transformative Erfahrungen durch die Begegnungen in und mit der Natur schaffen.
Vor Kurzem sind mein Partner und ich Verwalter von 270 Hektar Land in West-Massachusetts geworden. Es war schon immer ein Traum von mir, das Land so wie Artemis zu schützen und zu verteidigen. Jetzt tun wir das hier, es ist mein Lebenswerk. Bereits seit meiner Kindheit spüre ich eine tiefe emotionale Verbindung zum Land, und als ich von Artemis erfuhr, erkannte ich, dass sie all das verkörpert, was ich fühle und woran ich glaube.
TV: Wie kam die Göttin Artemis in dein Leben?
Vanessa: Es gab eine Zeit, in der ich als Profiboxerin trainiert habe. Dieses Training half mir sehr dabei, meinen Körper auf eine neue Weise zurückzuerobern. Durch das Training lernte ich, Aggression oder Wut konstruktiv einzusetzen sowie Wege zu finden, um meine Energie zu bündeln und mich in meinem Körper sicher zu fühlen. Dies sind auch Aspekte von Artemis. Sie war eine Meisterin der Kampfkunst, die Beschützerin der Wildnis. Sie verkörpert all diese Qualitäten, die für mich als Frau wichtig sind. Ich glaube, ich hörte zum ersten Mal in der Grundschule von ihr, und fand es toll, dass sie immer mit Wölfen und Hunden durch die Wälder streifte und die Beschützerin des Landes war. Als Kind wollte ich so wie sie sein, aber ich wusste nicht, wie. Deshalb schrieb ich beispielsweise im Kindesalter Briefe an Umweltorganisationen, denn ich hatte das tiefe Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Sie inspirierte mich, und ich sah in ihr eine Art Sinnbild für Stärke.
TV: Du erwähnst in deinem Buch, dass Artemis eine antike Umweltaktivistin ist.
Vanessa: Sie ist absolut eine Aktivistin. Bei meiner Recherche für das Buch fand ich etwas Faszinierendes heraus, und zwar dass der Glaube an Artemis das Land beschützte. Durch den Glauben an die Wächter als Beschützer werden sie real, obwohl wir sie als metaphysische Wesen betrachten, als Wesen, die nicht real sind. Sie schützte das Land, weil die Menschen glaubten, dass es unter ihrer Obhut steht. Diese Mythen und Tabus beschützten buchstäblich das Land, und das fand ich völlig faszinierend. So war auch Artemis eine Beschützerin des Landes, weil die Menschen an sie glaubten. Wir haben viele unserer Geschichten verloren. Das Land hat die Geschichten, die es ehemals beschützte, nicht mehr. Doch gleichzeitig setzen sich diese Mythen weiter fort, und es gibt Gründe, warum Artemis noch immer existiert. Ich sehe Artemis als den Archetyp einer Aktivistin, die mit den Frauen und der Natur verbunden ist.
»Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Selbsterinnerung, dass wir Natur sind.«
TV: Es ist interessant, dass sie verschiedene Themen miteinander verbindet: Weiblichkeit, Natur und sie ist die Göttin des Mondes. Der Mond wird ebenfalls mit dem weiblichen Zyklus und den Bewegungen in der Natur in Verbindung gebracht. Wie würdest du dieses Dreieck der Eigenschaften von Artemis interpretieren?
Vanessa: Ich weiß, dass wir Natur sind. Wenn wir die Evolution betrachten, sind wir mit all den Bäumen, Pflanzen, Pilzen und Tieren um uns herum verbunden. Hierbei ist Artemis ein altes Symbol für eine starke Frau, die für das eintritt, woran sie glaubt, und die auch eine Verteidigerin der Frauen ist. Wir bezeichnen die Erde als Mutter Erde. Es gibt diesen weiblichen Aspekt der Erde, der das Leben erhält und schafft. Denken wir an die Fruchtbarkeit des Erdbodens. Zu den weiblichen Aspekten gesellen sich selbstverständlich auch die männlichen, sie sind gemeinsame Aspekte der Erde.
Eine weitere interessante Eigenschaft von Artemis ist, dass sie eine Hebamme ist. Sie hilft dabei, Leben hervorzubringen. Beispielsweise half sie ihrer Mutter, ihren Zwillingsbruder Apollo zu gebären. Dies ist der Aspekt der Geburt: Sie verteidigt und repräsentiert die Stadien der Weiblichkeit – die Sonne und den Mond, das Licht und die Dunkelheit. In einem der ersten Kapitel des Buches schreibe ich über den Beifuß, eine Pflanze, die nach Artemis benannt ist. Ihr wissenschaftlicher Name ist Artemisia vulgaris. Es ist eine Pflanze, die verschiedene Eigenschaften der Göttin repräsentiert: Sie fand beispielsweise in der Geburtshilfe Verwendung, um die Wehen einzuleiten. Dies stellt eine Parallele zu Artemis’ Rolle als Hüterin der Gebärenden dar. In der Kräuterkunde wird der Beifuß aus verschiedenen Gründen als Mondmedizin bezeichnet: Die Pflanze soll hilfreich sein, um luzid zu träumen oder zu visionieren. Das silbrige Blätterkleid erinnert an die Mondzyklen, die wiederum eng mit dem weiblichen Zyklus korrelieren. Diese Pflanze interagiert mit all diesen Aspekten, und so macht es Sinn, dass diese Pflanze Aspekte von Artemis verkörpert.
TV: Welche weiteren Aspekte und Qualitäten der Artemis beeindrucken dich?
Vanessa: Mein Buch heißt deshalb »Göttin Artemis in jeder Frau«, weil in jeder Frau eine Artemis lebt. Sie ist die Beschützerin der Wildnis, und die Wildnis sind wir selbst. Wir sind Natur. Sie verteidigt die Rechte und den Körper der Frauen. In dem Buch schreibe ich unter anderem über meine Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen und darüber, wie mir das Boxen und das Erlernen von Kampfsportarten geholfen haben, meinen Körper zurückzuerobern. Ich habe das Gefühl, dass sie ein mächtiger Archetyp ist, eine mächtige Göttin, an der wir uns orientieren können, wenn es um Selbstbestimmung und die Rückgewinnung unseres Körpers und unserer Zugehörigkeit zur Natur geht.
TV: Eine jungianische Psychologin kritisierte, dass für Carl Gustav Jung die einzigen beiden weiblichen Archetypen, die er kannte, die Jungfrau und die Mutter waren. Die Jungfrau ist die Frau, die weit weg vom Körper oder von ihren eigenen Empfindungen ist. Artemis ist nicht das Gegenteil, sondern ein ergänzender Aspekt der Weiblichkeit. Diese Weiblichkeit ist auch nicht nur die heilige Mutter.
Vanessa: Genau, sie ist nicht nur eine Jungfrau, eine Mutter oder eine Hure. Sie ist eine komplexe Figur. Sie steht für das ein, woran sie glaubt. Es gibt eine weitere Definition einer Jungfrau, nämlich die einer Frau, die sich selbst verwirklicht und selbstbewusst ist und nicht »rein«, so wie viele Leute dieses Wort interpretieren und benutzen.
TV: Auf deiner Website las ich die Aussage »Unsere wilde Natur zurückgewinnen«. Was ist damit gemeint? Was ist unsere wilde Natur und wie können wir sie erwecken?
Vanessa: Als Erstes sollten wir uns daran erinnern, dass wir Tiere sind. Der Mensch erhebt sich oft über die Natur. Die Religion hat dies getan, einige spirituelle Praktiken versuchen ebenfalls, uns über andere Tiere zu erheben. Aber wir sind Tiere. Wenn man sich die Evolution ansieht, ist klar, dass wir uns gemeinsam mit anderen Tieren entwickelt haben und Geschöpfe der Erde sind. Ich denke, es hilft uns, uns daran zu erinnern, und darum geht es in meinem nächsten Buch. Aus unterschiedlichen Gründen wird unsere tierische Natur verleugnet, doch für mich bedeutet es, wild zu sein, natürlich zu sein. Manchmal existiert die Vorstellung, die Wildheit mit Unkontrollierbarkeit gleichsetzt, aber ich bin anderer Meinung: Wenn überhaupt geraten wir außer Kontrolle, wenn wir uns selbst, also unsere wilde Natur, unterdrücken. Wenn wir zum Beispiel ständig unsere Wut unterdrücken, weil wir denken, dass sie schlecht sei, wird sie sich äußern, doch wahrscheinlich auf eine negativere oder explosivere Art und Weise, oder sie wird uns krank oder angespannt machen. Es hilft, Emotionen auszudrücken und die Schichten abzuschälen. Ich spreche in meinem Buch oft darüber, wenn ich mich auf das Schreiben oder das Schaffen von Kunst beziehe. Es ist so, als ob man den ganzen Lärm loswerden, die Schichten zu einem natürlichen Selbst abziehen würde, um sich dann in seinem Körper zu Hause zu fühlen. Wenn man zum Beispiel verinnerlicht hat, dass Sex ein schmutziger Akt ist, wird man sich in seiner eigenen Haut nicht wohlfühlen.
»Bereits seit meiner Kindheit spüre ich eine tiefe emotionale Verbindung zum Land«
Wir sollten uns daran erinnern, dass wir Natur sind: die Hände in die Erde stecken und barfuß über das Land laufen. Ich glaube, wild sein bedeutet für jeden etwas anderes, doch wir können beginnen, unser Wildsein zu erfahren, wenn wir beispielsweise tief durchatmen und natürlich sind, wenn wir darüber nachdenken, was einem wirklich wichtig ist, nach draußen gehen, im Wald spazieren gehen. Wir können uns hinsetzen und den Bäumen unsere Aufmerksamkeit schenken, mit ihnen atmen. Auf diese Weise erinnern wir uns daran, dass wir mit allem verbunden sind. Langsamer zu werden, bedeutet für mich ebenfalls, wild zu sein, einen tiefen Atemzug zu nehmen und sich in seinem Körper wohlzufühlen. Wir sollten uns daran erinnern, dass unsere Körper Tierkörper sind, und dies ist eine wunderschöne Realität.
Zudem ist es essenziell, seine Glaubenssysteme zu überprüfen. Wenn wir meinen, dass wir uns für unseren Körper schämen oder irgendeine Art von Unbehagen verspüren, dann sollten wir uns fragen, woher dieses Gefühl kommt. Meine Werkzeuge waren Bewegungsübungen wie Kampfsport. Dies half mir, mich in meinem Körper wohlzufühlen, und auch das Schreiben war für mich ein wichtiges Werkzeug, um all den Lärm in meinem Kopf herauszufiltern und geschrieben zu sehen, was ich gefühlt und gedacht habe. Sie können Werkzeuge für jeden sein, und man muss sie nicht professionell ausüben. Es sind Möglichkeiten, die Energien aus dem Körper herausfließen zu lassen und beispielsweise auf ein Blatt zu übertragen, um sich daraufhin wieder natürlich zu fühlen und ein Gefühl der Erleichterung zu verspüren. Das Wichtigste ist, sich mit der Natur zu verbinden und sie nicht nur als schöne Landschaft zu betrachten, sondern sich daran zu erinnern, dass wir ein lebendiger Teil von ihr sind. Ich neige dazu, verlassene Ländereien mit sogenanntem Unkraut und Natürlichkeit den gepflegten Gärten vorzuziehen. Wild zu sein bedeutet, ungezähmt zu sein und nicht zu versuchen, alles zu kontrollieren.
TV: Würdest du sagen, dass das Schreiben für dich eine Art spirituelle Praxis ist?
Vanessa: Auf jeden Fall. Wenn mich etwas zur Erde zurückbringt, mich erdet, dann ist es eine wertvolle Praxis.
Das Schreiben hilft mir viel eher, mich daran zu erinnern, dass ich mit allem Leben verbunden bin. So empfinde ich es. Es unterstützt mich dabei, den Lärm in meinem Kopf loszuwerden, meine Gedanken zu sortieren oder wichtige Gespräche auf dem Blatt zu führen. Ich habe das Bedürfnis, etwas zum Ausdruck zu bringen. Man kann es spirituelle Praxis nennen, doch man kann es auch Verkörperungspraxis nennen. Es scheint etwas zu sein, das mein Körper braucht, weil ich spüre, dass es aus meinem Körper kommt.
TV: Ich finde es sehr schön, wie du sagtest, dass dich diese Praxis auf die Erde zurückbringt.
Vanessa: Ich mag die Vorstellung nicht, dass spirituelle Praktiken einen über den eigenen Körper oder die Natur hinausführen. Ich bevorzuge Praktiken, die mich näher an meinen Körper und die Natur heranbringen und mich dort mehr zu Hause fühlen lassen.
TV: Du schreibst in deinem Buch, dass es in beide Richtungen geht: den Geist zu erweitern und gleichzeitig die Wurzeln wie ein Baum in die Erde zu vertiefen. In deinem Buch beschäftigst du dich mit sogenannten Unkräutern und sagst, dass Unkräuter Helfer sind, um unsere wilde Natur zurückzuerobern. Was meinst du damit?
Vanessa: Als ich aufwuchs, hatte ich eine Menge gesundheitlicher Probleme. Daher war ich immer daran interessiert, zu lernen, wie ich Heilung fördern und meinen Körper auf natürliche Weise wieder ins Gleichgewicht bringen kann, zum Beispiel durch Ernährung und Bewegungsübungen. Ich begann, Kräuter zu erforschen, um meinen Körper auszugleichen und gesünder zu werden.
Ich erkannte, dass es viele Heilpflanzen gibt, die wir als Unkraut wahrnehmen. Das entzündete mein Interesse und brachte mich dazu, meine Karriere und meine Arbeit auf Pflanzen zu konzentrieren. Es gibt jahrhundertealte Literatur über Kräutermedizin, und als ich in New York lebte, ging ich täglich an ihnen vorbei: Überall in den Ritzen am Straßenrand wächst Beifuß, und das ist ein Umweltthema, auch ein Aktivismusthema. Hier in den Vereinigten Staaten sprühen Menschen immer noch Pestizide und andere chemische Produkte auf den Löwenzahn, um ihn loszuwerden, weil sie ihn für ein Unkraut halten. Das finde ich absolut verrückt. Die Wahrnehmung bestimmter Pflanzen macht uns und die Erde krank und die Wissenschaft und Ökologie wissen, dass das nicht stimmt. Für mich hat es mehrere Gründe, dass die Unkräuter uns dabei unterstützen, unsere Wildheit zurückzuerlangen. Zum einen helfen diese Pflanzen, meinen Körper im wahrsten Sinne des Wortes zu heilen, zum anderen ist das Wissen rund um die Heilqualitäten der Kräuter verloren gegangen. Die Menschen haben es vergessen. Unsere Vorfahren haben mit den Pflanzen zusammengearbeitet, und wir alle haben irgendwo Vorfahren aus einer indigenen Kultur. Von diesem Wissen wurden wir getrennt.
»Sie war eine Meisterin der Kampfkunst, die Beschützerin der Wildnis.«
Für mich war es also wie ein Abschälen, eine Rückkehr zu den Wurzeln meiner Vorfahren. Ich wurde mir des Landes unter meinen Füßen bewusst, für das ich zuvor absolut blind war. Wenn ich in New York City, in Brooklyn, wo ich damals lebte, spazieren ging, war es eine gänzlich andere Erfahrung. Ich beschreibe es in meinem Buch folgendermaßen: Es war, als wäre ich als Kind im Wunderland erwacht, als hätte sich ein Schleier zwischen mir und der natürlichen Welt gelüftet, und ich war fasziniert! Wenn ich die Straße entlang ging, sah ich so viele Heilpflanzen, die wir als Unkräuter erachten. Doch in einigen Fällen sind es die wertvollsten und sie sind im Überfluss vorhanden. Ich wollte, dass andere Menschen das auch sehen und dieselbe Erfahrung machen, denn für mich ist es lebensverändernd gewesen. Ich glaube, dass die Menschen, wenn sie sich der Wunder bewusst wären, die sich unter ihren Füßen befinden, dazu bewegt wären, sich besser um das Land zu kümmern. Deshalb habe ich das Buch auf diese Weise gestaltet, und ich finde Pflanzen einfach faszinierend. Sie sind eine Welt in der Welt.
TV: Würdest du sagen, dass das Schreiben für dich eine Art spirituelle Praxis ist?
Vanessa: Auf jeden Fall. Wenn mich etwas zur Erde zurückbringt, mich erdet, dann ist es eine wertvolle Praxis.
Das Schreiben hilft mir viel eher, mich daran zu erinnern, dass ich mit allem Leben verbunden bin. So empfinde ich es. Es unterstützt mich dabei, den Lärm in meinem Kopf loszuwerden, meine Gedanken zu sortieren oder wichtige Gespräche auf dem Blatt zu führen. Ich habe das Bedürfnis, etwas zum Ausdruck zu bringen. Man kann es spirituelle Praxis nennen, doch man kann es auch Verkörperungspraxis nennen. Es scheint etwas zu sein, das mein Körper braucht, weil ich spüre, dass es aus meinem Körper kommt.
TV: Ich finde es sehr schön, wie du sagtest, dass dich diese Praxis auf die Erde zurückbringt.
Vanessa: Ich mag die Vorstellung nicht, dass spirituelle Praktiken einen über den eigenen Körper oder die Natur hinausführen. Ich bevorzuge Praktiken, die mich näher an meinen Körper und die Natur heranbringen und mich dort mehr zu Hause fühlen lassen.
TV: Du schreibst in deinem Buch, dass es in beide Richtungen geht: den Geist zu erweitern und gleichzeitig die Wurzeln wie ein Baum in die Erde zu vertiefen. In deinem Buch beschäftigst du dich mit sogenannten Unkräutern und sagst, dass Unkräuter Helfer sind, um unsere wilde Natur zurückzuerobern. Was meinst du damit?
Vanessa: Als ich aufwuchs, hatte ich eine Menge gesundheitlicher Probleme. Daher war ich immer daran interessiert, zu lernen, wie ich Heilung fördern und meinen Körper auf natürliche Weise wieder ins Gleichgewicht bringen kann, zum Beispiel durch Ernährung und Bewegungsübungen. Ich begann, Kräuter zu erforschen, um meinen Körper auszugleichen und gesünder zu werden.
Ich erkannte, dass es viele Heilpflanzen gibt, die wir als Unkraut wahrnehmen. Das entzündete mein Interesse und brachte mich dazu, meine Karriere und meine Arbeit auf Pflanzen zu konzentrieren. Es gibt jahrhundertealte Literatur über Kräutermedizin, und als ich in New York lebte, ging ich täglich an ihnen vorbei: Überall in den Ritzen am Straßenrand wächst Beifuß, und das ist ein Umweltthema, auch ein Aktivismusthema. Hier in den Vereinigten Staaten sprühen Menschen immer noch Pestizide und andere chemische Produkte auf den Löwenzahn, um ihn loszuwerden, weil sie ihn für ein Unkraut halten. Das finde ich absolut verrückt. Die Wahrnehmung bestimmter Pflanzen macht uns und die Erde krank und die Wissenschaft und Ökologie wissen, dass das nicht stimmt. Für mich hat es mehrere Gründe, dass die Unkräuter uns dabei unterstützen, unsere Wildheit zurückzuerlangen. Zum einen helfen diese Pflanzen, meinen Körper im wahrsten Sinne des Wortes zu heilen, zum anderen ist das Wissen rund um die Heilqualitäten der Kräuter verloren gegangen. Die Menschen haben es vergessen. Unsere Vorfahren haben mit den Pflanzen zusammengearbeitet, und wir alle haben irgendwo Vorfahren aus einer indigenen Kultur. Von diesem Wissen wurden wir getrennt.
Für mich war es also wie ein Abschälen, eine Rückkehr zu den Wurzeln meiner Vorfahren. Ich wurde mir des Landes unter meinen Füßen bewusst, für das ich zuvor absolut blind war. Wenn ich in New York City, in Brooklyn, wo ich damals lebte, spazieren ging, war es eine gänzlich andere Erfahrung. Ich beschreibe es in meinem Buch folgendermaßen: Es war, als wäre ich als Kind im Wunderland erwacht, als hätte sich ein Schleier zwischen mir und der natürlichen Welt gelüftet, und ich war fasziniert! Wenn ich die Straße entlang ging, sah ich so viele Heilpflanzen, die wir als Unkräuter erachten. Doch in einigen Fällen sind es die wertvollsten und sie sind im Überfluss vorhanden. Ich wollte, dass andere Menschen das auch sehen und dieselbe Erfahrung machen, denn für mich ist es lebensverändernd gewesen. Ich glaube, dass die Menschen, wenn sie sich der Wunder bewusst wären, die sich unter ihren Füßen befinden, dazu bewegt wären, sich besser um das Land zu kümmern. Deshalb habe ich das Buch auf diese Weise gestaltet, und ich finde Pflanzen einfach faszinierend. Sie sind eine Welt in der Welt.
TV: Eine wichtige Eigenschaft der Wildkräuter ist meines Erachtens, dass sie wild wachsen. Eine Autorin von Tattva Viveka sagt, dass man wilder und natürlicher wird, wenn man Wildkräuter isst. Für sie gibt es eine Verbindung zwischen der Wildheit und Ungezähmtheit der Pflanzen und unserer inneren Wildheit.
Vanessa: Darüber spreche ich im Kapitel über Löwenzahn: Der Löwenzahn ist nämlich ein Kämpfer und Krieger. Er kann in verlassenen Hinterhöfen und Landstrichen in New York City oder sonst wo wachsen, und diese sogenannten Unkräuter besiedeln diese und wachsen dort. Zudem sind sie eine wichtige Nahrungsquelle für Bestäuber und Teil des Ökosystems.
Manchmal ist es heikel, weil sich auch invasive Arten breit machen, doch dies ist ein anderes Thema. Viele erobern sich den Raum zurück, und ich liebe das. Ich glaube, dass sie uns vormachen, wie es geht. Für mich stellen sie eine Verbindung zu meiner tierischen Natur her. Wenn man während der Erntezeit draußen im Wald ist, sich umschaut und vom Boden isst, wird man auf diese Weise tierischer, instinktiver, wilder und achtet stärker auf seine Umgebung, auf die Gerüche, die Beschaffenheit der Oberflächen. Was früher eine Art grüner Fleck war, wirkt plötzlich wie vergrößert: Man sieht alles anders, die Sicht scheint eine andere zu sein, alles rückt in den Fokus. Es ist eine andere Art, in der Welt zu leben.
Vanessa Chakour
Göttin Artemis in jeder Frau
Entdecke deine innere Wildheit mit der Kraft der Natur
Allegria Verlag, 528 Seiten
Hardcover, 22,99 €
TV: Du wirkst ebenfalls als Umweltaktivistin? Wie kam es dazu und wie ist dies mit deinen anderen Aktivitäten verbunden?
Vanessa: Ich wuchs in den Wäldern von West-Massachusetts auf, und es ist spannend, dass ich in diese Gegend zurückgekehrt bin. Mein Partner und ich haben gerade ein großes Stück Land gekauft, obwohl wir gemischte Gefühle haben, wenn wir sagen, dass wir das Land gekauft haben oder jetzt besitzen. Wir ziehen das Wort »Verwalter« vor. Es war schon immer ein Traum von mir, so viel wie möglich zu schützen und den Menschen einen Zugang zu verschaffen, zum Beispiel den Indigenen, denen hier Land gestohlen wurde. Umweltaktivismus fühlte sich für mich ganz natürlich an. Als Kind war mir, aus welchen Gründen auch immer, klar, was richtig und was falsch ist. Es war mir klar, dass bestimmte Dinge ungerecht sind. Ich muss meiner Mutter dafür danken, dass sie diese Gefühle in mir genährt hat, und als Kind schrieb ich Briefe, wenn ich mich über etwas aufgeregt habe. Meine tiefe emotionale Verbindung zu Land und Tieren als Kind war wie ein emotionaler Reflex. Diese emotionalen Reflexe, die ich nicht zu unterdrücken brauchte, brachten mich dazu, Aktivistin zu werden.
»Wild zu sein bedeutet, ungezähmt zu sein und nicht zu versuchen, alles zu kontrollieren.«
Im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass das Durchführen dieser Pflanzenwanderungen mit Sacred Warrior und das Erschaffen dieser Naturerfahrungen ebenfalls eine Art von Aktivismus ist. Denn ich habe das Gefühl, dass ich dazu beitrug, diese emotionale Verbindung zum Land zu erwecken und zu vertiefen, die wir so dringend brauchen. Viele Jahre lang habe ich für etwas gekämpft. Das ist nützlich, aber auch die verkörperte Erfahrung der Menschen kann etwas verändern. Die Leute besuchten meine Retreats und Kurse und sagen oftmals im Nachhinein: »Du meine Güte, ich sehe meinen Garten und mein Land mit anderen Augen. Ich sprühe nicht mehr. Ich habe meinen Nachbarn gesagt, dass sie keine Pestizide auf ihrem Land versprühen sollen, und sie haben wiederum ihren Nachbarn gesagt, dass sie es nicht tun sollen, weil diese Pflanzen wertvoll sind.« Dies kann geschehen, weil es von einem emotionalen Ort kommt, einem Gefühl und der Erkenntnis, dass wir mit dem Land verbunden sind. Meine Herangehensweise an den Aktivismus hat sich im Laufe der Jahre verändert. Ich kämpfe nicht mehr nur gegen etwas, sondern bringe die Menschen dazu, sich in das Land zu verlieben und es besser zu pflegen.
TV: Du würdest also sagen, dass wir in Anbetracht der Umweltkrise, mit der wir konfrontiert sind, eher dazu neigen, unser Verhalten zu ändern, wenn wir die Verbindung zum Leben spüren würden?
Vanessa: Ich glaube, ja. Die Menschen könnten aus dem Hamsterrad aussteigen, ihren Tunnelblick erweitern und reale Erfahrungen machen, bei denen sie zum Beispiel ihre Campingausrüstung auf das Land stellen oder sie jemand in das Wissen rund um diese Pflanzen einführt und ihnen zeigt, dass die Pflanzen sie heilen können. Sie sollten sich Zeit nehmen, um sich mehr in den Körper fallen zu lassen, um sich wiederum zu erinnern und das Gefühl der Verbundenheit spüren zu können. Vielleicht erkennen sie auf diese Weise, dass es einen Ausweg aus der konsumorientierten Kultur gibt. Wenn man ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Natur hat und wenn man mit sich selbst zufrieden ist, warum sollte man die Natur zerstören wollen?
Je zufriedener ich bin, desto weniger habe ich das Bedürfnis danach, zu konsumieren und Dinge zu kaufen, die mich glücklich machen. In der hektischen Welt sind wir oft von unseren Gefühlen abgekoppelt, aber ich merke, dass ich heutzutage stärker mit meinen emotionalen Reflexen verbunden bin: Ich entscheide mich zum Beispiel dafür, etwas, was ich nicht will, nicht zu tun, wie zum Beispiel die fortgesetzte Misshandlung von Tieren. Ich möchte diese Praxis, die die Erde verschmutzt, nicht fortsetzen, auch wenn es für mich bequemer oder angenehmer sein mag. Ich möchte mich nicht daran beteiligen. Mein Körper weiß, dass es Schaden anrichtet, und ich möchte nicht Teil dieser Kette von Ereignissen sein. Wenn wir uns erlauben, den Kummer über das, was die Erde durchmacht, zu fühlen, dann werden wir uns bewegen, um etwas dagegen zu tun. Es ist manchmal überwältigend, aber ich sehe, dass sich immer mehr Menschen auf lokaler Ebene engagieren. Wenn man sich physisch an etwas beteiligt, zum Beispiel mit den Händen in den Boden greift oder irgendwo hingeht und etwas tut, fühlt man sich daraufhin besser und weniger hoffnungslos. Das hilft wirklich, anstatt nur die Nachrichten zu lesen, in den sozialen Medien aktiv zu sein und Dinge zu posten. Dies ist meistens überwältigend und schadet uns emotional.
TV: Es ist wichtig, auf dem Laufenden zu bleiben, aber auf diese Weise sind wir mehr im Kopf als im Körper – und im Körper findet das Leben tatsächlich statt. Das Leben spielt sich nicht in unseren Handys oder auf Bildschirmen ab.
Vanessa: Die einzige Möglichkeit, dem zu entkommen, besteht manchmal darin, offline zu gehen und sich davon zu lösen, um nicht emotional überwältigt zu werden, weil es zu viel ist. Es ist wichtig, den Stecker zu ziehen und nach draußen zu gehen. Die Menschen wollen sich engagieren und etwas tun. Sie möchten sich buchstäblich die Hände schmutzig machen, wenn sie mit dem Land arbeiten, und das ist überaus heilend.
TV: Ich habe noch eine letzte Frage an dich: Was war deine Hauptmotivation für das Schreiben von »Göttin Artemis in jeder Frau«? Was möchtest du der Welt mit diesem Buch sagen?
Vanessa: Es ist eine Kombination aus meiner Heilungsreise und allen Themen, über die wir gesprochen haben. All dies ist in dem Buch enthalten. Während des Schreibens des Buches erzählte ich so intim wie möglich von meinen eigenen Wunden, die ich zu heilen hatte, von dem Drama, das ich zu heilen hatte, und von der Art und Weise, wie die Natur und die Verbindung zum Land dabei halfen, diese Wunden zu heilen und dieses Gefühl der Verbundenheit zu wecken. Die Hauptmotivation ist, den Menschen zu helfen, sich selbst zu heilen, und sie zu inspirieren, ebenfalls eine emotionale Verbindung zum Land und zur Erde zu entwickeln. Ich möchte sie dabei unterstützen, die Artemis in ihnen zu erwecken, diesen Kriegergeist in uns allen zu wecken, und das kann unterschiedliche Formen annehmen. Momentan bin ich eine Kriegerin für das Land, eine Kriegerin, die für das einsteht, woran sie glaubt: Dies kann aus der Liebe heraus zu etwas, zu jemandem oder zu einer Sache geschehen. Es muss keine aggressive Energie sein.
TV: Genau wie Artemis. Sie ist eine Kriegerin, aber sie kommt nicht mit einer Armee, sie will nicht zerstören, sie will retten und bewahren.
Vanessa: Es ist wichtig für uns, Freude zu erleben. Ich spüre, dass das Land, die Erde, die Pflanzen und die Tiere genauso gefeiert wie verteidigt werden wollen. Für uns Tiere ist es wichtig, dass wir es genießen, hier zu sein, dass wir das Land lieben. Wenn wir dies tun, können wir gute Arbeit hier leisten und auf der Erde glücklich sein.
Das Interview führte Alice Deubzer.
Vanessa Chakour ist Autorin, bildende Künstlerin, Kräuterkundige, Naturforscherin, ehemalige Profiboxerin und Umweltaktivistin. Ihre Arbeit ist eine dynamische Mischung aus ihren umfangreichen persönlichen Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte. Sie ist die Gründerin von Sacred Warrior, deren Ziel es ist, die Beziehung zu uns selbst und zur Umwelt zu vertiefen, und Mitbegründerin des Mount Owen Forest Sanctuary in West Massachusetts. Ihr neues Buch »Earthly Bodies: Embracing Our Animal Nature« wird 2024 bei Penguin Life erscheinen.
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Bildnachweis: © Vanessa Chakour, Adobe Photostock