Die Wiedergeburt einer heiligen Landschaft

Waltraud Hönes – Die Wiedergeburt einer heiligen Landschaft

Wayna Fanes und der Weg des kristallenen Herzens

Der Mythos von Fanes in den Dolomiten faszinierte die Autorin Waltraud Hönes so sehr, dass sie ihr in Peru erworbenes Wissen auf die heimische Bergregion übertrug und so zur Versöhnung mit den Naturwesen und zur Verbundenheit mit der heiligen Landschaft beitrug. Im Rahmen ihrer Gemeinschaft setzt sie Liebe als Heilmittel von Pachamama ein.

Es ist lange her, doch erinnere ich mich noch lebhaft an den Moment, als mir mein peruanischer Lehrer bedeutungsvoll in die Augen schaute, während er sagte: »Zögere nicht, alles zu tun, was du kannst, um den Mythos von Fanes wiederzubeleben. Es wird entscheidend dafür sein, dass diese heiligen Berge zu neuem Leben erwachen können und die europäische Seele genesen kann.«

Ich stand damals erst am Anfang meiner Lehre bei ihm, doch etwas Wesentliches hatte ich bereits begriffen: Eine Medizinperson bekommt ihre Kraft von der lebendigen Landschaft, in der sie lebt, zur Verfügung gestellt und nährt sie dafür in heiliger Wechselseitigkeit.

 Diese besondere Beziehung mit einer Landschaft ist per se eine mythische. Es gibt keine »Objekte« in der Natur, hingegen ist sie von zahllosen nichtmenschlichen Wesen belebt.  Noch nicht einmal scheinbar Unbewegtes wie Steine sind »tot«, und umso weniger Berge, Hügel, Felswände, Quellen, Bäche, Flüsse und Seen. Sichtbare und unsichtbare Wesen halten sich an bestimmten Plätzen auf, hüten sie und beseelen sie mit ihrer Anwesenheit. Die Ereignisse, die sich dort unter ihrer Beteiligung zugetragen haben, prägen den Ort und üben eine Wirkung auf die Menschen aus, die ihn aufsuchen, wenn sie von ihnen in Erinnerung behalten werden. Nie wäre es möglich, eine tiefe wechselseitige Beziehung mit einer Landschaft zu pflegen, mit deren Wesen man nicht vertraut ist. Nur wenn wir einen regelmäßigen Austausch mit ihr pflegen werden wir für sie vertrauenswürdig.

Es ist auch notwendig, zu Fuß zu gehen, wenn man den Wesen einer Landschaft wirklich begegnen will. Nur so ist man langsam genug unterwegs, um sie wahrzunehmen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihrerseits uns zu betrachten. Auch dann kann man immer noch blind an ihnen vorbeilaufen oder sie unbeachtet lassen, weil man zu sehr in seiner eigenen Gedankenwelt eingekapselt ist. Doch ist zu Fuß zu gehen die Voraussetzung dafür, um in den geeigneten Zustand für eine Begegnung mit unseren nichtmenschlichen Mitwesen zu kommen.

Eine Medizinperson bekommt ihre Kraft von der lebendigen Landschaft, in der sie lebt, zur Verfügung gestellt und nährt sie dafür in heiliger Wechselseitigkeit.

Die Schlussfolgerung aus diesen Einsichten war, dass ich all das kostbare rituelle Wissen aus der Andentradition nur dann in vollem Umfang verwenden konnte, wenn ich eine mythische Beziehung mit der Natur bei mir zu Hause anknüpfte und sie dort tatsächlich lebte. Wollte ich jedoch eine großräumigere Landschaft mythisch wiederbeleben und dort heilige Orte schaffen und erhalten, um mit ihrer Kraft heilsam auf die Weltseele einzuwirken, so konnte ich das nicht allein tun. Es erforderte eine menschliche Gemeinschaft, um ein Bewusstseinsfeld aufzubauen, das stark genug war, um die Wesen der Landschaft davon zu überzeugen, dass Menschen wieder eine verlässliche Beziehung mit ihnen eingehen wollten. Nur dann konnte auch der uralte Mythos, der in der Landschaft schlummerte, wieder lebendig werden.

Die mythische Dimension einer Landschaft

Der Mythos von Fanes in den Dolomiten, wo ich lebe, hatte mich schon in jungen Jahren in den Bann gezogen. Unverkennbar die Überreste eines großen Weltmythos, der sich eigenartigerweise in dieser Landschaft angesiedelt und bis in unsere Zeit erhalten hatte, übte er eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Etwas war anders an dieser großen Geschichte von der Welt als bei anderen Mythen, die ich kannte. Das Weibliche spielte eine ungewöhnlich starke Rolle in diesen Erzählungen aus den im Mondlicht silberglänzenden »Bleichen Bergen«. Dies erschien mir bedeutungsvoll für unsere Zeit, wo die Rückkehr des göttlich weiblichen Prinzips in diese Welt so dringend notwendig für einen heilsamen Wandel ist.

Die archetypische Kraft des zentralen Motivs von der Rayeta, dem unvergleichlich strahlenden Stein, sprach meine Seele in der Tiefe an. Dieses wundersame Juwel verschwand einst in der Erde, weil die Menschen es für falsche Zwecke gebrauchten. Jetzt gilt es, reif für die Rayeta zu werden, wozu auch gehört, zu verstehen, dass niemand sie besitzen kann. Deshalb wird sie zukünftig auf dem Herzen getragen werden, doch davon später mehr.

Voller Enthusiasmus hatte ich meinem Lehrer von diesem Mythos erzählt, und er hatte seine Bedeutung für die europäische Seele sofort erkannt. Ein Weltmythos, der noch in einer Landschaft verwurzelt ist, stellt eine Seltenheit in diesem Teil der Erde dar. Dass er Anfang des 20. Jahrhunderts verschriftlicht und damit ins Weltbild des Autors gepresst wurde, hat ihm einerseits geschadet und andererseits vieles erhalten, was sonst verloren gegangen wäre. Es galt, den alten Kern, der aus einer totemistischen, matrilinearen Kultur stammte, herauszuschälen und wieder aufzugreifen.

Die Wiedergeburt einer heiligen Landschaft

Doch wie sollte ich zu einer solchen neuen Fassung des Mythos kommen? Der einzig mögliche Zugang war, mit den Wesen der Landschaft in Kontakt zu treten und von ihnen zu erfahren, was die große Geschichte von der Welt war, die sie uns jetzt erzählen wollten. Denn es ging nicht nur um die mythische Vergangenheit, sondern auch um eine Zukunftsvision, der wir in der Gegenwart den Weg bereiten konnten. Ein Weltmythos spricht davon, wo wir herkommen und davon, wo wir hingehen können. Aus dem, was es aus der Vergangenheit zu lernen gibt, und der Vision unserer höheren Bestimmung ergibt sich die angemessene Lebensweise, die uns dort hinführt.

Es ging also darum, alte heilige Orte wiederzuentdecken und neue zu schaffen, an denen sich die mythischen Gestalten einfinden würden, um uns dabei zu helfen, ihre Geschichte von der Welt weiterzuführen. Diese befanden sich im Bereich der heiligen Berge, die in der Tradition der Anden die höchsten Geistwesen auf Pachamama, Mutter Erde sind. Also galt es zuallererst, wieder eine respektvolle Beziehung mit ihnen zu knüpfen, das heißt, sie zu ehren und zu nähren. Die mythischen Plätze befanden sich schließlich alle in ihrem Bereich.

Ayllu und Ayni – Gemeinschaft und heilige Wechselseitigkeit

Wie bereits erwähnt, konnte ich es nicht allein bewältigen, die Berge der Dolomiten und über sie hinaus noch weitere spirituell wiederzubeleben. Dazu war es notwendig, andere Menschen zu finden, die von der Andentradition lernen wollten, um gemeinsam und mit Liebe für die Erde und ihre heiligen Berge zu sorgen und es hier vor der eigenen Haustür tatsächlich zu tun. So entstand vor 24 Jahren meine Gruppe »Dolomiten Ayllu«, mit der ich schließlich Wayna Fanes, den siebenfachen Weg des kristallenen Herzens, auf die Welt bringen konnte.

Diese besondere Beziehung mit einer Landschaft ist per se eine mythische. Es gibt keine »Objekte« in der Natur, hingegen ist sie von zahllosen nichtmenschlichen Wesen belebt.

»Wayna« ist das Quechua-Wort für »jung«. Es geht uns um den Bewusstseinszustand eines neuen, jungen Fanes, das an das segensreiche erste Fanesreich – eine Art Shambala der Dolomiten – anknüpft. Dabei greifen wir auch auf das uralte rituelle Wissen aus den Anden zurück, das uns lehrt, wie man Pachamama selbst und ihre heiligen Berge ehrt und nährt.

In den peruanischen Anden bezeichnet man eine traditionelle Gemeinschaft, die nach dem Prinzip der heiligen Wechselseitigkeit (Ayni) zusammenlebt, als »Ayllu« (ausgesprochen: »Aju«). Ayni ist das höchste ethische Prinzip der alten Andenkulturen und wird oft umschrieben mit »heute für mich, morgen für dich«. Besteht beispielsweise bei einem Ayllu-Mitglied ein Mangel an Nahrungsmitteln, dann wird dieser mit den Mitteln der Gemeinschaft ausgeglichen. Muss bei einem Haus das Dach repariert werden, dann helfen andere mit. Was allen dient (wie etwa die Bewässerungskanäle), wird von allen mitbetreut. Ayni bezieht sich aber nicht nur auf das Zusammenleben der Menschen. Zu einem Ayllu gehören nämlich auch die unzähligen nichtmenschlichen Wesen der jeweiligen Gegend, einschließlich der unsichtbaren. Auch mit ihnen muss man in heiliger Wechselseitigkeit leben, damit etwas wächst, die Menschen gesund bleiben und alle ein gutes Leben miteinander haben. Also sind rituelle Gaben an diese Wesen unerlässlich. Wohlgemerkt sind es wir, die ihnen etwas geben müssen.

Doch was macht unsere Gruppe von »jungen Fanes« nun zu einem Ayllu? In unserem Fall bedeutet es, dass wir eine selbst gewählte spirituelle »Familie« sind, die Ayni wieder erlernen und praktizieren will. Das ist keine leichte Angelegenheit in der Geld- und Profitwirtschaft, in der wir leben, denn Ayni ist keine Kalkulation, sondern ein gespürter Zustand von Gleichgewicht. Der Ayni-Austausch mit unseren Mitwesen (sichtbar oder unsichtbar) ist es, was das Weltgewebe durch ein dynamisches Spiel von gegensätzlichen Kräften zusammenhält.

Für uns heißt das beispielsweise, unser Gespür dafür zu verfeinern, wie ein heiliger Ort, der uns seine Kraft für unsere Medizinarbeit zur Verfügung stellt, »gefüttert« werden will. Mit ihm und den Geistwesen, die ihn hüten, wollen wir in »rechter« Beziehung stehen. So ist es mit allen verbündeten Wesen, die mit uns zusammenarbeiten, einschließlich der heiligen Berge selbst. Natürlich gilt dies genauso für den Umgang, den wir untereinander pflegen. Wir bemühen uns, zu spüren, was unser angemessener Beitrag zum gemeinsamen Werk ist.

Ayni lässt sich nicht mit dem Profitgedanken vereinbaren. Es entspringt einer Ethik des füreinander Sorgens, was wiederum Liebe voraussetzt. Auch für Pachamama sollten wir liebevoll sorgen, statt sie rücksichtslos auszubeuten. Doch wo ist das Herz bei den gegenwärtigen Ansätzen zur Lösung der sogenannten Umwelt- und Klimakrise? Es wäre höchste Zeit, die Angelegenheit auf spiritueller Ebene zu betrachten, um eine fundamentale Kurskorrektur einzuleiten. Hier setzen wir Wayna Fanes an.


Liebe als Heilmittel für unsere Beziehung mit der Erde

Vielleicht das Kostbarste, was wir abgesehen von dem Prinzip von Ayni der Andentradition verdanken, ist die große Liebe für Pachamama, die sie auszeichnet. Ich spüre, dass unsere Zukunft als Menschen auf dieser Erde davon abhängen wird, ob wir unsere Herzqualitäten in vollem Umfang ausbilden und zu einem liebenden, fürsorglichen Umgang mit ihr finden können. Das ist nicht nur eine innere Angelegenheit, nein, es muss einen Ausdruck in unserem konkreten Handeln finden, und zwar durch freudiges Geben in Liebe.

Dies vor der eigenen Haustür in Europa zu praktizieren, ist zweifellos viel schwieriger als im kulturellen Kontext einer Tradition, die solche Werte vertritt. Hier, wo ich lebe, sind die Berge zur Sportarena gemacht worden, was es anscheinend rechtfertigt, ihnen immer neue Gewalt anzutun. Die Landschaft soll entsprechend unseren »Erholungsbedürfnissen« umgestaltet werden, und so wird das heilige Wasser für Kunstschnee und Wellnesstourismus verschwendet. Die Landwirtschaft, die auch in den Berggebieten immer industrieller wird, tut ein Übriges. Touristen kommen, weil ihnen atemberaubend schöne Naturfotos serviert werden. Sie wollen diese Schönheit auf irgendeine Weise erleben (das heißt, für sich selbst etwas davon bekommen). Doch sie bringen all ihre Bedürfnisse mit, deren Befriedigung – vor allem wenn sie massenhaft erscheinen – zur Zerstörung eben dieser Schönheit beiträgt.

Wie weit ist diese Art des Naturkonsums von einer Begegnung mit der lebendigen Landschaft in heiliger Wechselseitigkeit entfernt, wie fern die Idee, als Pilger dem besuchten Ort etwas zu bringen, um zu seiner Schönheit beizutragen, statt nur für sich selbst etwas von dort mitzunehmen. Schönheit nährt unsere Seele, und das Herz ist das Tor zu ihr. Öffnen wir es, werden wir Liebe für die Wesen einer Landschaft empfinden und ihnen in Ayni etwas von uns selbst geben wollen: ein vollkommen anderer Zugang, als Naturschönheit wie im Film an sich vorbeiziehen zu lassen und schnell ein paar Fotos zu schießen.

Sichtbare und unsichtbare Wesen halten sich an bestimmten Plätzen auf, hüten sie und beseelen sie mit ihrer Anwesenheit.

Es ist unvermeidlich, dass wir durch unsere Anwesenheit anderen Wesen Schaden zufügen (was im Übrigen auch für nichtmenschliche Wesen gilt), und dennoch können und sollen wir eine Bereicherung für Pachamama sein – schließlich sind wir ihre Kinder. Wir sind alle »Eingeborene« auf der Erde und gehören der Landschaft, in der wir leben, an.

Gesten der Liebe gegenüber unseren Mitwesen sind nicht nur dazu da, um Schaden zu kompensieren, sondern um zusätzliche Schönheit hervorbringen. Durch sie wandelt sich etwas in unserem Inneren, das unser Handeln so verändert, dass wir zu Mit-schöpfern in einer kosmischen Ordnung werden, deren oberstes ordnendes Prinzip eben Schönheit ist. Wir begreifen uns dann als dem großen Netz des Lebens zugehörig und nehmen dennoch unseren spezifisch menschlichen Platz in ihm ein: Wir sind Sternenwesen, die hier sind, um für die Erde zu sorgen, die uns großzieht und nährt. Sie gibt uns die Möglichkeit, als verkörperte Wesen auf ihr unsere besonderen Seelenqualitäten zu entfalten. Es wäre nun höchste Zeit, dass wir endlich erwachsen würden und uns für ihr Wohl mit-verantwortlich fühlten. Sie gibt uns großzügig, und wir sollten sie in Ayni dafür liebevoll hegen und pflegen, statt sie skrupellos auszubeuten. Es ist jene reife Liebe, die nicht besitzen will, sondern verschenken, die uns zu wahren Menschen machen und unsere Beziehung mit der Erde heilen wird.

Im Neuen Mythos von Fanes ist es der falsche König, der mit seinen Machtfantasien das blühende Reich zerstört, doch schließlich kapitulieren muss und demütig die heiligen Berge samt den einst so verachteten Murmeltieren (die alten Verbündeten von Fanes) um Rettung anfleht. Er erhält die erbetene Hilfe und schafft die große Umkehr. Sein vorher so verschlossenes Herz öffnet sich so weit, dass er seinen sorgfältig gehüteten Schatz verschenkt, den er auf zahlreichen Kriegszügen erbeutet hat. Endlich versteht er, dass er als wahrer König der erste Diener seines Volkes sein muss, der für das Wohl aller sorgen will. Besonders großzügig gibt er von nun an denjenigen, die für heilige Orte sorgen. Denn er hat verstanden, dass die Pflege dieser besonderen Plätze, wo die Tore zwischen Himmel und Erde weit offenstehen, von vitaler Bedeutung für ein gutes Leben von uns Menschen ist. Die Königin, die das Bündnis mit den Murmeltieren gebrochen hatte und dadurch so geschwächt war, dass der falsche König sein Unwesen treiben konnte, erneuert und hütet es nun, denn es schafft die Grundlage dafür, dass die Rayeta aus dem Inneren des Heiligen Berges zurückkehren kann. Es ist das Bündnis mit dem Leben selbst, das wir wieder neu eingehen müssen.

Die Wiedergeburt einer heiligen Landschaft

Ein Netzwerk von heiligen Orten – das Lichtkleid der Landschaft

Der Mythos besagt, dass die Rayeta vor undenkbar langer Zeit in den Händen einer großen Göttin auf die Erde kam. Die Salvans, kleine hilfreiche Wesen, die hoch oben auf den Felsgraten der Dolomiten leben, spannten zu diesem Anlass Mondlicht zu feinen Fäden und woben ein Lichtkleid daraus, das sie über die Berge legten. So wurden sie über Nacht zu den »Bleichen Bergen«, wie man sie auch nennt. Der gebündelte Lichtstrahl, auf dem die Mondprinzessin anreiste, war jedoch so stark, dass er Felsen sprengte. Daher wies die Göttin, die Mondprinzessin genannt wurde, die Salvans an, ihren dicken Sternenlichtstrang in dünnere Fäden aufzutrennen, an bestimmten Orten zu befestigten und zu den Gipfeln hinzuspannen. Die Stellen, wo diese Lichtfäden befestigt wurden, sollten von nun als heilige Orte geehrt werden und später mit Fäden aus Sonnenlicht erneuert werden.

Diese Orte galt es, ausfindig zu machen und zu gestalten. An den meisten von ihnen steht heute eine kunstvoll gebaute Steinpyramide oder ein Steinkegel, eine Apacheta. An anderen ist es nur ein größerer aufrecht stehender Stein, der von einigen kleineren Steinen eingefasst ist. Dazu kommen heilige Felsen, besondere alte Bäume und andere Naturheiligtümer wie zum Beispiel heilige Quellen. Heute sind es um die 120 Schreine, um die wir uns kümmern. Das heißt, dass wir regelmäßig zu ihnen pilgern, sie falls notwendig restaurieren, ihnen unsere Gaben bringen und sie mit einer Zeremonie ehren.

Nachdem sich dort lebendige Wesen befinden, die den Platz hüten, bringen wir ihnen Nahrung mit. Alkoholische Flüssigkeiten sind sehr willkommen, am besten Bier, denn Fermentation steht für das Lebensprinzip. Wir füttern auch getrocknete Kräuter, überziehen die Steine mit Blattgold und -silber und bringen frische Blüten (keine Wildblumen). Mit kleinen bunten Trommelsteinen sowie dem echten Gold und Silber bekunden wir, dass wir der Erde etwas von dem zurückgeben wollen, was wir von ihren inneren Schätzen geraubt haben. Räucherwerk auf einer Kohle darf auch nicht fehlen. Dann leben und blühen die Schreine auf; Gesang und Gebete, rituelle Gesten heben ihre Schwingung spürbar.

Es ist auch notwendig, zu Fuß zu gehen, wenn man den Wesen einer Landschaft wirklich begegnen will.

So wachsen Beseeltheit und Kraft der heiligen Stätte mit jedem Besuch. Es ist ein Leichtes, dort zu stehen, die Augen zu schließen und vertikal vollkommen durchlässig zu werden. Sie sind eindeutig zu Orten geworden, die Himmel und Erde verbinden. Daher sind sie heil-ig, denn sie wirken heilsam, wenn man Heilung als ein Ganzwerden versteht. Sie ziehen die oberen und die unteren Bereiche aufeinander zu, bis sie eines Tages, im Moment des Erscheinens der Rayeta, hier in der »mittleren Welt« zusammenkommen werden. Darum geht es und nicht um eine Flucht vor unserer irdischen Existenz in rein geistige Bereiche.

Alle Schreine sind durch die mythischen Lichtfäden miteinander verbunden, die man als Linien des Bewusstseins bezeichnen könnte. Sie bilden eine Art innerer Landkarte, die ihre Entsprechung in der Landschaft hat. Heute versorgen wir das möglicherweise weltweit größte Netzwerk dieser Art, das kontinuierlich gepflegt und weiter ausgebaut wird. Über die Lichtfäden speist es die Mesa (Medizinstücke, meist Steine, die auf einem gewebten Tuch entsprechend der kosmischen Ordnung angeordnet sind), um ihre Kraft dort konzentriert und ausbalanciert für persönliche und kollektive Heilungsarbeit nutzen zu können.

Die weitaus größte Zahl an heiligen Orten befindet sich entsprechend seiner mythischen Bedeutung im Gebiet von Fanes. Einige von ihnen sind die Schauplätze von bedeutenden mythischen Ereignissen aus einem der drei Zeitalter von Fanes. Das erste war die segensreiche Zeit der Gründerin Moltina und ihrem Gefährten Turmin, das zweite warf alles durcheinander, nicht nur, weil der falsche König eintraf, sondern auch weil die alte Ordnung bereits schwer gestört war: Heilige Orte und Rituale der Wechselseitigkeit wurden vernachlässigt, und die Illusion des getrennten Egos vereinnahmte die Seele.

Kollektiv gesehen leben wir immer noch in diesem zweiten Zeitalter, doch im Mythos https://www.tattva.de/waters-of-life-exploring-mythos-divinity-beings-and-ecology/ ist es bereits überwunden. Er zeigt uns also, wie es die Weltseele als Ganzes schaffen kann, denn die mythischen Gestalten sind personifizierte Aspekte von ihr und haben bereits einen Samen dafür gelegt. Sie haben die Umkehr längst geschafft und dann im Inneren des Berges auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um wieder herauszukommen und beim Entstehen eines neuen Fanes zu helfen, in dem die Menschen reif für die Rayeta sein werden.

Der Ayni-Austausch mit unseren Mitwesen (sichtbar oder unsichtbar) ist es, was das Weltgewebe durch ein dynamisches Spiel von gegensätzlichen Kräften zusammenhält.

Als wir, die Wayna Fanes, die heiligen Berge wieder zu ehren begannen, war der Augenblick gekommen. Ich rief die mythischen Wesen an den Plätzen, die ich mit ihrem Erwachen in Verbindung brachte, und sie kamen. Sie erzählten ihre eigene Geschichte neu und forderten mich auf, sie weiterzuführen. In dem Moment, als wir jungen Fanes selbst begannen, an einer neuen mythischen Realität mitzuwirken, war das dritte Zeitalter bereits angebrochen. So gibt es jetzt auch Apachetas, an denen wir uns an Ereignisse aus dem dritten Zeitalter erinnern und sie dort immer wieder im Gedächtnis der Landschaft auffrischen.

Die neuen dreizehn Pfeile und der siebenfache Weg des kristallenen Herzens

Am Ende des zweiten Zeitalters blieben der Königstochter Dolasilla-Luyanta dreizehn magische Silberpfeile, als sie endlich das Schloss des falschen Königs verließ. Sie wären eigentlich dafür da gewesen, den Menschen in mondhellen Nächten Träume zu bringen, die sie bei Tag das Richtige hätten tun lassen, um die rechte Beziehung zwischen allen Bewohnern des Fanesreiches wiederherzustellen. Doch der falsche König hatte sie dazu gebracht, diese nie fehlenden Pfeile als tödliche Waffen einzusetzen, und sie hatte selbst Gefallen daran gefunden. Bei ihrer Rückkehr aus dem Berg am Beginn des dritten Zeitalters hatten sich diese Pfeile in Gold- und Silberpfeile mit Federn in den Farben des Regenbogens verwandelt. Je zwei bilden ein komplementäres Paar mit gleichfarbigen Federn. Der dreizehnte Pfeil ist halb golden und silbern, und seine Federn sind hellblau. Es ist die Farbe des bevorstehenden Zeitalters der Wiederbegegnung oder Taripay Pacha, das dem dritten Zeitalter von Fanes entspricht.

Die Wiedergeburt einer heiligen Landschaft

Wenn sie diese Pfeile auf unser Herz richtet, kommt es bereits jetzt mit den Strahlen der zukünftigen Rayeta in Berührung, um uns auf sie vorzubereiten. Es muss jedoch eine kristallklare Qualität annehmen, um dafür empfänglich zu sein und eines Tages die Rayeta selbst in sich aufnehmen zu können. Diese kristallklare Qualität bildet sich immer mehr heraus, je mehr wir als Pilger den heiligen Orten in Liebe geben.

Sechs Pfeilpaare führen auf sechs geraden Wegen auf die Rayeta zu und münden auf einen ringförmigen siebten Weg ein. Nur wenn wir alle sechs Wege, die dem ganzen Spektrum der menschlichen Seelenqualitäten entsprechen, einschlagen, gelangen wir zu diesem verbindenden siebten Weg. Und erst, wenn genügend Menschen dort angekommen sind, kann die Rayeta wieder auftauchen, und zwar für uns alle. Dort, auf dem ringförmigen Weg der Wiederbegegnung im kristallenen Herz, heben wir die Illusion der Trennung zwischen uns und anderen Wesen endgültig auf und wollen das Juwel mit allen teilen.

Aus diesen mythischen Zusammenhängen, die sich am beginnenden dritten Zeitalter zeigten, ging hervor, was heute das Herzstück von Wayna Fanes als spiritueller Weg geworden ist. Wir sind als Pilger auf den Goldsilber-Regenbogenwegen unterwegs, sei es in der äußeren Landschaft oder in der inneren, an heiligen Orten und an der Mesa. Aus unseren beiden uralten Wurzeln, der Andentradition und der von Fanes (die vermutlich ursprünglich aus Kleinasien stammt), ist ein neuer Weltenbaum gewachsen.

Es ist jene reife Liebe, die nicht besitzen will, sondern verschenken, die uns zu wahren Menschen machen und unsere Beziehung mit der Erde heilen wird.

Würde die mythische Vision von der Rayeta im kristallenen Herzen vom kollektiven europäischen Bewusstsein getragen, dann würden wir eine andere Richtung einschlagen und uns auf die Geraden Wege machen, die uns zum Geschenk der großen Göttin hinführen. Die göttlich weibliche Kraft will in diese Welt zurückkehren, um das verloren gegangene Gleichgewicht zwischen solarem und lunarem Bewusstsein wiederherzustellen. Ihr bahnen wir den Weg, indem wir die Heiligkeit der Landschaft wiederherstellen und für jene besonderen Plätze sorgen, an denen ihre Lichtfäden befestigt sind; dazu sind unsere Zeremonien da, deren transformative Schönheit sie einlädt.

Ayni lässt sich nicht mit dem Profitgedanken vereinbaren. Es entspringt einer Ethik des füreinander Sorgens, was wiederum Liebe voraussetzt. Auch für Pachamama sollten wir liebevoll sorgen, statt sie rücksichtslos auszubeuten.

Es ist nicht so, dass man hier vor Ort leben muss, um daran mitzuwirken. In den letzten Jahren sind immer wieder Wayna Fanes aus den Nachbarländern dazugekommen. Sie kommen zu größeren zeremoniellen Anlässen, zum Weiterlernen und hin und wieder zum Pilgern zu uns, während sie in der Zwischenzeit heilige Orte vor ihrer eigenen Haustür pflegen und so das Lichtnetz erweitern. Die mythischen Gestalten des dritten Zeitalters sind selbst gerne unterwegs und schließen Bekanntschaft mit anderswo ansässigen Wesen. So war es auch schon, als der Mythos von weither in die Dolomiten kam und dort heimisch wurde (und deshalb konnte er auch eine Verbindung mit der Andentradition eingehen). Seine Archetypen haben die Kraft, um die europäische Seele überall anzusprechen. Hier ist das Herzstück, doch die Lichtfäden wollen jetzt weiträumiger versponnen werden.

So kann ich also heute sagen, dass ich getan habe, was mir mein Lehrer damals auftrug. Was daraus entstanden ist, hätte ich mir nie vorstellen können. Das war auch besser so, sonst hätte es mich wahrscheinlich überwältigt. Ich schätze mich glücklich, Hüterin eines großen Mythos in einer fantastischen Landschaft zu sein und das Vertrauen der für mich schönsten heiligen Berge der Welt zu genießen. Ich bin mir der damit verbundenen Verantwortung bewusst und gehe mit offenem, klarem Herzen auf das zu, was weiter daraus werden wird.

Zur Autorin

Unsere Autorin Waltraud Hönes

Waltraud Hönes, zeremonielle Künstlerin, »Curandera«, transpersonale Psychologin und Buchautorin, ist die Gründerin von Wayna Fanes, dem siebenfachen Weg des kristallenen Herzens. Auf der Basis ihrer Lehre in der Andentradition erweckte sie den weiblich geprägten Weltmythos von Fanes (Dolomiten) zu neuem Leben. Sie leitet Workshops und Pilgerseminare und sorgt für ein umfangreiches Netzwerk von heiligen Orten, dessen Kraft ihre Zeremonien für einen kollektiven Bewusstseinswandel speist.

Webseite: waynafanes.org

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ISBN: 978-3-89060-812-9

Bildnachweis: © Waltraud Hönes

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