Den ganzen Menschen im Blick
Obwohl der Schamanismus und die Medizin sich denselben Ursprung teilen und beide Methoden die Heilung und das Wohlbefinden des Menschen anstreben, haben sie sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Die Neurochirurgin und Psychiaterin Dr. Iris Zachenhofer und die Schamanin Andrea Kalff wagen neue Wege der Therapie und schrieben darüber gemeinsam ein Buch.
Tattva Viveka: Heute begrüßen wir Dr. Iris Zachenhofer, Neurochirurgin und Psychiaterin, und Andrea Kalff, die als erste Europäerin in den koreanischen Schamanismus initiiert wurde. Gemeinsam verfassten sie das Buch »Schamanentherapie« und im folgenden Gespräch erfahrt ihr, wovon es handelt.
Wie seid ihr mit dem Schamanismus in Berührung gekommen?
Andrea Kalff: Im Jahr 2001 kam ich das erste Mal mit Schamanismus in Berührung. Damals war ich sehr krank, und keiner wusste, was ich hatte. Ich bin von einem Arzt zum anderen geirrt, weil ich unter allen möglichen Zuständen bis hin zu hohem Blutdruck, 250 zu 300, litt. Die Ärzte wussten nicht, wo die Ursache lag, und infolgedessen ging es mir psychisch ebenfalls nicht gut. Eines Tages kam ein mexikanischer Schamane ins Büro meines Vaters, der eine Baufirma hatte. Er schlug mir vor, eine Sitzung beim Schamanen auszuprobieren, ich dagegen hielt seinen Vorschlag für Unfug und wollte dies nicht machen.
Doch mein Papa war der Auffassung, dass es sonst niemand anderen mehr gebe, der mir helfen könne, und letztendlich probierte ich es aus. Danach ging es mir ein wenig besser, und ich wurde von dem Schamanen und seiner Begleitung gefragt, ob ich die Organisation von Workshops und Seminaren übernehmen könne, und dies tat ich. Irgendwann erkannte ich, dass ich mich mit der esoterischen Szene nicht anfreunden kann, und hörte daraufhin mit dem wieder auf.
Im Jahr 2006 erhielt ich eine Einladung von einer katholischen Kirche, in der Mongolen, die aus dem Kehlkopf singen, ein Konzert gaben. Meine Eltern waren streng katholisch, und ich bin selbst sechs Jahre lang in eine Klosterschule gegangen. Das Konzert faszinierte mich, und danach luden sie mich noch ein, etwas mit ihnen zu trinken. Ein paar Wochen später wurde ich von ihnen zum Schamanenkongress am Mondsee in Österreich eingeladen. Zunächst lehnte ich ab, da für mich diese Phase vorbei war. Sie meinten aber zu mir, dass ich nur zum Konzert kommen könne und mir nichts weiter anschauen brauche. Ich rang etwa eine Woche lang mit mir, weil ich einfach nicht hingehen wollte. Letztendlich sagte ein Freund zu mir: »Andrea, wir fahren nur zur Eröffnungszeremonie hin und danach gehen wir wieder«, und so fuhren wir hin.
Nachts um halb elf auf dem Rückweg von der Toilette klopfte mir ein Koreaner auf die Schulter und sagte, dass er meine Telefonnummer möchte, woraufhin ich erwiderte: »Na, die gibt es nicht. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Ich gebe meine Telefonnummer nicht her.« Er ließ nicht locker und irgendwann sagte er folgenden Satz zu mir: »Wir wissen, was mit dir los ist.« Zu der Zeit fühlte ich mich immer noch nicht wohl, und ich hatte mich schon immer anders gefühlt. Ich spürte immer, dass ich überall nicht in die Gemeinschaften hineinpasse. Der Koreaner meinte, dass es eine Übersetzerin gebe, die Deutsch spreche und mir alles erklären könne, denn Frau Kim Keum Hwa möchte, dass ich wiederkomme und sie mich am nächsten Tag anrufen würde. So war es auch. Ich gab ihm meine Telefonnummer und kam spät nachts zu Hause an.
Am übernächsten Tag fuhr ich gemeinsam mit meinem Mann zu Frau Kim und erhielt eine drei Stunden lange Privataudienz bei ihr. Ich wusste zu der Zeit nicht, dass sie die ranghöchste Schamanin Koreas ist, die vom koreanischen Staat anerkannt ist. Das war für mich alles sehr fern, und ich machte es eher aus Interesse. Als wir Frau Kim wieder verließen, stand unser Leben auf dem Kopf. Sie erklärte mir damals, dass ich an einer sogenannten Schamanenkrankheit erkrankt wäre und dass es sehr wichtig sei, dass ich initiiert werde.
Das war an einem Freitag, und sie wollten, dass ich bereits am Sonntag die Initiation auf dem Schamanenkongress erhalte, weshalb ich mich schnell entscheiden müsse. Ich bin ein geborener Steinbock. Meine Einstellung ist vielmehr: »Weiß ich nicht, sehe ich nicht, glaube ich nicht.« Ich wollte dies einfach nicht, denn es ging alles zu schnell. Frau Kim sagte, es eile, teilte mir aber wiederum nicht konkret mit, warum und wieso, und ich lehnte es ab, weil mir das »too much« war.
Vier Wochen später erhielt ich eine Krebsdiagnose, die mein Leben komplett umkrempelte. Ich machte nichts von dem, was mir die Mediziner angeraten hatten, sondern nahm mir eine Auszeit und fuhr ans Meer. In Spanien saß ich zehn Tage lang am Meer und irgendwann ging mir diese koreanische Sache wieder durch den Kopf. So sprach ich zu mir: »Okay, wenn das die Lösung ist, dann gehe ich nach Korea.« Denn eine innere Stimme sagte, dass allein die Operation nicht die Lösung sei. Am 5. August 2006 schrieb ich nach Korea an Frau Kim, dass ich zwar nicht wisse, wie ich das finanzieren solle, ich aber kommen werde. Die Schwierigkeit war, dass ich diesen Tumor ein halbes Jahr lang in mir habe wachsen lassen müssen, weil ich keine OP vor der Initiation haben durfte. Das war, und das muss ich bis heute sagen, die größte Herausforderung auf dem Weg: die Auseinandersetzungen mit mir selbst. Anfang Dezember kam ich in Korea an und wurde als erste Europäerin in den koreanischen Schamanismus eingeweiht. Im Januar 2007 fand die Tumoroperation statt, und daraufhin veränderte ich mein Leben von Grund auf.
TV: Iris, erzähle auch du uns bitte von deinem Werdegang hin zum Schamanismus.
Iris Zachenhofer: Mit Schamanismus hatte ich bis vor ein paar Jahren gar nichts zu tun. Ich erhielt eine schulmedizinische Ausbildung, war zehn Jahre auf der Neurochirurgie und wechselte dann in die Psychiatrie. Ich war eine reine Schulmedizinerin. Doch dann durchlebte ich damals eine Phase der Krise, in der ich auch selbst krank war und mein Leben aus dem Ruder lief.
Zuvor hatte ich zusammen mit meinem Chef ein Buch über Persönlichkeitstypen verfasst, und er hatte immer wieder davon gesprochen, dass er Kontakt zu einem Schamanen habe. Damals bestand die Absicht, an der Universität in Wien eine Studie über Schamanismus durchzuführen, die aber bis dato nicht umgesetzt wurde. Mein Chef erzählte mir, dass dieser Schamane ihm vor ungefähr zehn Jahren gesagt hatte, dass er irgendwann mit jemandem zusammen ein Buch schreiben wird, und er fand es ein wenig unheimlich, wie sich das bewahrheitet hatte. Ich dachte nicht weiter darüber nach, denn es gibt immer wieder solche Geschichten, und diese hatten mich noch nie interessiert. Ich war in dieser Krise, und irgendwann meinte mein Chef zu mir, dass dieser Schamane wieder nach Wien kommt, ich eine Sitzung bei ihm machen soll und er es zahlen würde. Mein erster Gedanke war: »Also jetzt bin ich schon so weit, dass mein Chef mir einen Besuch beim Schamanen zahlt.«
Ich ließ mich dennoch darauf ein, denn ich wollte erfahren, was der Schamane sagen würde, und überlegte sogar noch, ob es einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis zuzuordnen sei. Letztendlich wollte ich mich nicht davor drücken und ging hin, wobei ich zuvor doch ein ungutes Gefühl hatte. Denn man denkt sich, dass man gleich in eine Ganzkörperuntersuchung oder so was gerät. Dann war ich bei ihm und war wirklich baff: Obwohl er keine Vorinformationen über mich hatte – er wusste nur, dass ich eine Bekannte von meinem Chef sei, er wusste nicht einmal, dass ich Ärztin bin –, sagte er mir in dieser Stunde letztendlich Sachen, die vollständig wahr waren, geradezu als würde er einen Film über mein Leben sehen. Er sah bildlich meine Träume oder gab Sätze wörtlich wieder, die ich zu meinen Kindern gesagt hatte. Zum Beispiel hatte ich zu meinem älteren Sohn immer gesagt: »Mir ist es egal, was du für einen Beruf ausübst, du sollst einfach glücklich sein. Du musst nicht studieren oder so, aber du sollst glücklich sein.«
Der Schamane wiederholte diese Sätze wortwörtlich, und ich war einfach baff. Mein Chef hatte mir zuvor empfohlen, meine Fragen aufzuschreiben, weil ich sie sonst vergessen könnte, und ich hätte tatsächlich beinahe vergessen, meine Fragen zu stellen, weil ich so dermaßen beeindruckt war. Wenn man Psychiater wird, muss man selbst 140 bis 150 Stunden Psychotherapie machen. Dieser Schamane jedoch fand in der kurzen Zeit mehr über mich heraus als mein Psychotherapeut, der keineswegs schlecht war. Das war schlichtweg beeindruckend. Als ich wieder hinausging, war ich so perplex, dass ich die Straßenbahn nicht fand, und dann begannen diese Informationen in mir zu arbeiten. Es kamen unterschiedliche Fragen auf: Ob es vielleicht andere Möglichkeiten gibt, durch die man ebenso zum Ziel gelangt, und andere, nicht schulmedizinische Wege, über die man Sachen über Menschen herausfinden könnte?
»Schamanen sagen, dass es keine Zufälle gibt«
Ich arbeite in einer Abteilung mit psychisch schwer kranken Menschen, die teilweise schon jahrzehntelang in Psychotherapie sind. Ihr Zustand wird in manchen Fällen nicht unbedingt besser, manchmal sogar eher schlechter. Daher kam mir der Gedanke, ob schamanische Sitzungen vielleicht auch anderen Menschen helfen könnten. Während eines Nachtdienstes begann ich zu googeln und stieß auf Andrea. Ich las, dass sie in Wien in einem Krankenhaus mitgearbeitet hat, sah mir Videos an und alles, was sie so gemacht hatte. Daraufhin schrieb ich ihr eine E-Mail mit der Frage, ob sie bereits mit Suchtkranken zusammengearbeitet hätte. Ich erwartete nicht viel, da ich gelesen hatte, dass sie sich wahrscheinlich auf Hawaii aufhält. Am nächsten Tag in der Früh, während ich auf die Dienstübergabe wartete, schrieb Andrea mir, dass sie gerade in Wien sei, weil sie hier ein Seminar gebe. Wir trafen uns kurzfristig am gleichen Tag. Schamanen sagen, dass es keine Zufälle gibt, und das war wirklich eine Art Fügung. So fingen wir an, uns auszutauschen, auch über Patienten, und kamen darauf, dass wir gemeinsam viel bewirken können, vielleicht mehr als jede Einzelne von uns, weil wir uns in vielem ergänzen.
TV: Viele Menschen berichten davon, dass sie zunächst – physisch oder psychisch – krank waren, bis sie ihren Weg in eine schamanische Lebensweise beziehungsweise in dieses schamanische Lebensgefühl oder Weltbild gefunden haben. Woran, meint ihr, liegt diese Verbindung?
»Jeder, der erkrankt, durchlebt eine Lebenskrise und fängt an, nach Antworten zu suchen.«
Andrea: Es ist wichtig, die »New Age«-Szene von dem traditionellen Schamanismus zu trennen. Jeder, der erkrankt, durchlebt eine Lebenskrise und fängt an, nach Antworten zu suchen. Dabei gibt es unzählige Angebote. Das war bei mir ebenfalls so in der Zeit, in der ich nicht wusste, ob ich nach Korea gehen und was ich machen soll. Ich las viel und dachte, dass ich alles Mögliche ausprobieren müsse, bis hin zu Eigenurin trinken und etliches mehr. Ich habe, glaube ich, so ziemlich alles durchgemacht.
Die Schamanenkrankheit wünscht man niemandem, und kein Schamane möchte, dass ein anderer Schamane werden muss. Das ist konträr zur New-Age-Szene. Doch unter den traditionellen Schamanen ist es genau das Gegenteil: Man versucht alles, damit man nicht diesen Weg einschlagen muss, denn um Schamane zu werden, gibt es nur zwei Wege: entweder durch die Schamanenkrankheit, das heißt durch den Ruf der Geister und Götter, oder man wurde in diese Ahnenlinie hineingeboren.
In der New-Age-Szene sind im Moment Ayahuasca, Peyote und etliche andere psychedelische Substanzen beliebt, durch die Menschen außerkörperliche Erfahrungen erleben, und in Südamerika werden sie von Schamanen zur Heilung eingesetzt. Ich rate jedem davon ab, dies »just for fun« zu tun, und gebe auch Aufklärungsworkshops darüber. Wer einen Wochenendworkshop besucht und danach meint, nun ein Schamane oder eine Schamanin zu sein, täuscht sich. Was stattdessen geschieht, ist, dass die Geister, die man rief, dann erst mal da sind, und dann stellt sich die Frage, was man nun mit ihnen machen soll.
Einige meiner Klienten gerieten nach solchen Einnahmen in Psychosen, weil sie nicht wussten, wie sie mit den Folgen und den Geistern, die sie riefen, umzugehen haben. Man darf nicht ohne jegliche Vorbereitung diese Geister zu sich rufen, denn sie werden erscheinen. Leider gibt es in Europa nur wenig Aufklärung darüber, was der traditionelle Schamanismus ist.
TV: Du sprachst über New-Age-Schamanismus und traditionellen Schamanismus. Wo würdest du die Unterschiede festmachen?
Andrea: Wir Schamanen erkennen einander weltweit. Egal, wo ich hinreise, ein Schamane weiß, wenn der andere Schamane ist, ohne dass man sagen braucht, dass man Schamane ist. Den traditionellen Schamanismus kann man nicht in einem Workshop lernen. Hier in Europa wird leider viel damit gespielt, es wird viel angepriesen, viel erzählt, aber welche Konsequenzen es mit sich bringen kann oder wie schwer der Weg ist, was man alles dafür aufbringen muss, davon hat leider kaum jemand eine Vorstellung. Es wird wenig bis kaum gelehrt oder erklärt, wie die Verhaltensregeln und die damit verbundenen Konsequenzen sind, und die Folge davon ist in vielen Fällen Missbrauch. Manche Organisationen bilden Heiler aus, obwohl diese weder dazu berufen noch dafür geboren worden sind.
» Schamanische Eigenschaften sind uns allen angeboren, das heißt aber nicht, dass man deshalb ein Schamane ist.«
Des Weiteren haben Menschen, die zum Beispiel durch einen Workshop eine Schamanenausbildung erfahren haben, danach nicht unbedingt ein klares Verständnis von Schamanismus und auch nicht die nötige Kompetenz, um mit diesen Energien umzugehen und diese an anderen Menschen anzuwenden. Mit Sicherheit können Schamanen-Workshops und die Heilung durch ausgebildete Schamanen vielen Menschen weiterhelfen. Dies alles hat seine Berechtigung, aber man muss aufpassen, dass es keine negative Richtung einschlägt. Schamanische Eigenschaften sind uns allen angeboren, das heißt aber nicht, dass man deshalb ein Schamane ist.
Viele haben die Vorstellung, dass es »cool« sei, Schamane zu sein. Denn dann kann man alles »schamanisieren« und verhexen. Aber das stimmt nicht. Es ist genau das Gegenteil. Es ist ein unheimlich schweres Leben. Man braucht unheimlich viel Disziplin, und man hat unheimlich viele körperliche Leiden, die man mit keinem tauschen möchte. Wenn wir Schamanen mit Klienten arbeiten, erleben wir selber in unserem Körper und in unserer eigenen Psyche, was in unseren Klienten vor sich geht. Das kann sich keiner vorstellen, und es ist schwierig, die Menschen darüber aufzuklären, was tatsächlich vor sich geht.
TV: Wie wirkt der Schamane?
Andrea: Der Schamane ist von Göttern besessen, er hat die Gottheiten in seinem Körper drin. Die Gottheiten und die anderen Geister, zu denen er Kontakt hat, schweben nicht im Außen um ihn herum, sondern sie sind im Körper des Schamanen, denn in der Initiation gibt er das Menschsein ab. Bei der Einweihung zum Schamanen stirbt der Mensch.
TV: Ihr habt das Buch »Die Schamanentherapie« infolge eurer Zusammenarbeit geschrieben. Wie stehen momentan die Chancen der Integration schamanischer Techniken in die Medizin?
Iris: In dem Buch stellen wir Patienten vor, die wir gemeinsam behandelt haben. Viele von ihnen waren psychisch krank, aber wir berichten ebenfalls von Menschen, die unter anderen Krankheiten litten, zum Beispiel Nierenerkrankungen oder Migräne. Wir haben sie in Wien von zwei Seiten behandelt: einerseits schulmedizinisch, wo ich den psychiatrischen Schwerpunkt hatte, und andererseits durch die schamanischen Sitzungen von Andrea. Dadurch fanden wir heraus, was tatsächlich hinter der Krankheit steckt. Bei den Fällen, die wir im Buch vorstellen, wird auch immer die Geschichte des Patienten dargelegt. Ein Patientenfall war zum Beispiel ein Mann, der seit seiner Jugend unter Migräne litt, die jahrelang unterschiedlich behandelt worden war, ohne dass es zu einer nennenswerten Besserung kam. Andrea sah ihn, las ihm aus der Hand und meinte, dass es einen Unfall in seiner Familie gegeben habe. Er stritt dies zuerst massiv ab und sagte, dass nichts vorgefallen sei. Doch es stellte sich heraus, dass er als Jugendlicher an einem Unfall beteiligt war, bei dem seine Oma gestorben war und wofür er sich quasi die Schuld gab. Nach diesem Unfall begann die massive Migräne. Schulmedizinisch haben wir das nie auflösen können. Trotz aller Medikamente und trotz Cannabiskonsum kam es kaum zu einer Besserung der Symptomatik. Erst als Andrea ihn behandelte, löste sich der Knoten.
TV: Welche Motivation liegt eurem gemeinsamen Wirken zugrunde? Dass diese beiden Techniken in der medizinischen Welt komplementär angewandt werden?
Andrea: Die Integration beruht darauf, dass der Schamanismus zunächst mit ein Ursprung der Psychologie ist. Früher, am Anfang der Menschheitsgeschichte, war der Schamane, der Priester, die Hebamme die Person, die das Dorf zusammenhielt und sagte, wo es hin- und wo es langgeht. Wie Iris bereits sagte, können die schamanischen Techniken an dem Punkt ansetzen, an dem Ärztinnen und Ärzte nicht mehr weiterkommen. Wir arbeiten nicht nur mit Psychiatern zusammen, sondern auch mit Onkologen und mit anderen Ärzten sowie Therapeuten.
»Der Schamane setzt an der Wurzel an und sucht den Ursprung, den Grund, warum es dem Patienten so ergeht.«
Iris und ihrem Chef muss man die Einstellung bezüglich der Genesung ihrer Patienten hoch anrechnen, denn sie sind Ärzte, die das Herz am richtigen Fleck haben und die daran interessiert sind, dass ihre Patienten gesund werden. Sie möchten ihren Patienten nicht fortlaufend Medikamente verschreiben, die Behandlungen zeitlich abarbeiten und ohne wirklichen Fortschritt nach Hause gehen. Ihre Arbeit geht weit darüber hinaus, denn sie möchten, dass der Patient gesund wird und nicht mehr zu ihnen kommen braucht. Darum geht es uns. Der Schamane setzt an der Wurzel an und sucht den Ursprung, den Grund, warum es dem Patienten so ergeht.
Meine große Gabe ist, dass ich mein Gegenüber wie ein Glas Wasser lesen kann. Diese Informationen springen mich buchstäblich an. In unserer Zusammenarbeit bemerke ich diese schweren, dunklen Stellen, mit denen sich derjenige/diejenige nicht befassen möchte, und teile diese Iris mit. Ein Beispiel: Wenn ein Kind oft Probleme verursacht, ist häufig nicht das Kind das Problem, sondern die Eltern untereinander, und das Kind ist das Leidtragende. Der Schamane schaut sich immer das gesamte Familiensystem an. Welche Techniken eingesetzt werden, ist unterschiedlich und davon abhängig, was gebraucht wird. Manchmal arbeitet man mit den Händen, manchmal braucht es eine Zeremonie oder eine Hausreinigung. Ein andermal setzt man ein Amulett oder einen Talisman ein. Das ist immer individuell, denn der Schamane entscheidet sich für das, was ihm die Götter auftragen.
TV: Wer teilt dir diese Informationen mit? Wenn wir beim Beispiel des jungen Mannes bleiben: Woher hast du das Wissen über den Unfall erhalten?
Andrea: Von meinen Spirits und von meinen Göttern. Wenn jemand vor mir sitzt, höre ich die Stimme meiner Götter, und sie teilen mir die Informationen mit, die denjenigen betreffen. Ich sehe immer etwas in meinem Gegenüber, und manchmal ist es schwierig, es zurückzuhalten. Wenn wir zusammenarbeiten, ist es von Vorteil für Iris, dass ich ihr rasch sagen kann, an welchem Punkt sie genau ansetzen soll oder warum derjenige immer wieder rückfällig wird.
TV: Die Reihenfolge ist diese: Zuerst versucht man, dem Patienten mit den Methoden der Schulmedizin zu helfen, wenn diese aber nicht wirken, versucht man es mit den schamanischen Techniken?
Andrea: Ich habe meine eigenen Klienten, und schwierige Fälle besprechen wir gemeinsam. Wenn ich zum Beispiel bei einem Klienten von mir bestimmte Angelegenheiten aufdecke, bei denen ich weiß, dass er dies nicht alleine integrieren kann, verweise ich ihn an einen Psychiater, Psychologen oder Psychotherapeuten. Ich kenne meine Grenze, ich bin Schamanin und kein Arzt. Ich kann niemanden auf dieser Ebene therapieren.
TV: Gibt es auch Grenzen bei den schamanischen Heiltechniken? Fälle, bei denen jemand zum Beispiel eine physische Krankheit hat, bei der du nicht weiterkommst?
Andrea: Meine Grenze ist immer dort, wo meine Götter sagen, dass das nicht mehr geht und ich das nicht darf. Das ist meine Grenze, mein Stoppschild. Und wenn jemand schwere Psychopharmaka nimmt, lehne ich die Sitzung ab. Nur wenn es unter ärztlicher Verordnung und Aufsicht erwünscht ist, ist es möglich.
TV: Was war eure Motivation, das Buch »Die Schamanentherapie« zu verfassen?
»Unser Beweggrund ist die Heilung des Menschen und vor allem der Familie.«
Andrea: Wir sehen nach den Sitzungen, dass es dem Menschen besser geht und er nicht wieder das Krankenhaus aufsucht. Unser Beweggrund ist die Heilung des Menschen und vor allem der Familie.
Iris: Prinzipiell hatten wir gesagt, dass wir das Buch irgendwann in Ruhe schreiben möchten. Doch eines Tages meinte Andrea zu mir, dass sie in der Nacht von ihren Spirits gehört habe, dass wir das Buch schnell machen müssten. Das war nicht einfach, vor allem wegen der Lockdowns und der vielen Beschränkungen. Letztendlich haben wir das Buch rasch verfasst, obwohl der Plan ein anderer war, aber es hat dennoch funktioniert.
TV: Inwiefern lässt sich durch wissenschaftliche Studien oder Untersuchungen ergründen, was geschieht, wenn Andrea beispielsweise schamanisch arbeitet?
Iris: Bei den Patienten kann man im Prinzip nur die Effekte sehen. Die Patienten, mit denen wir zusammenarbeiten, haben meist einen langen Weg hinter sich, bevor sie einen Schamanen aufsuchen.
Sie wurden lange behandelt und sind infolgedessen schulmedizinisch meistens umfangreich abgeklärt worden. Obwohl wir nicht erklären können, warum es funktioniert, sehen wir den Effekt beim Patienten und wie sich ihr Zustand verbessert. Die hohe Spezialisierung der Schulmedizin hat viele Vorteile, aber auch ein großes Manko: Denn wenn Patienten schulmedizinisch behandelt werden, müssen sie von einem zum anderen Spezialisten, und jeder konzentriert sich nur auf seinen kleinen Bereich. Wir dagegen versuchen, den Menschen ganzheitlich zu sehen, also nicht nur einen kleinen Körperteil, sondern das gesamte System.
Andrea: Ich kann selbst nicht zu hundert Prozent erklären, wie das funktioniert. Es ist einfach da. Ich sehe und spüre es. Ich weiß nur, was ich dafür tun muss und welche Techniken ich brauche, um mich wieder zu reinigen. Im Schamanismus ist es essenziell, dass man sich reinigt und schützt. Das kann man zum Beispiel durch die New-Age-Szene gut erlernen, denn schamanische Fähigkeiten hat jeder von uns. Schamanische Fähigkeiten sind, wenn man unter anderem eine gute Intuition, ein gutes Bauchgefühl hat. Diese Fähigkeiten kann man schulen, und dafür ist es sinnvoll, Workshops anzubieten beziehungsweise zu besuchen. Aber das heißt nicht, dass man automatisch eine Schamanin ist.
TV: Wenn man davon ausgeht, dass Schamanismus und Schulmedizin beide dasselbe Ziel verfolgen, und zwar den Menschen zu heilen, welche Gemeinsamkeiten haben sie und wo liegen die Unterschiede?
Andrea: Ich würde sagen, dass beide den Kontakt zur Seele haben. Es ist essenziell, dem Menschen dabei zu helfen, zu lernen, seine eigene Seele und Seelenaufgabe wahrzunehmen, sich selbst zu spüren und zu hören.
»Die Menschen, die später die Schulmedizin entwickelten, bauten auf dem Wissen der Schamanen auf.«
Iris: Die Schulmedizin entwickelte sich prinzipiell aus dem Schamanismus. Die Menschen, die später die Schulmedizin entwickelten, bauten auf dem Wissen der Schamanen auf. Ich glaube, dass beide im Grunde schon immer eins waren, sich aber mit der Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt haben. Ich finde diese Teilung sehr ungünstig. Zwischen der Schulmedizin und anderen Heilungsmethoden müsste es viel mehr Zusammenarbeit geben, auch zwischen Naturheilmedizinern und ähnlichen Disziplinen. Dies hat sich zwar nun so entwickelt, aber ich denke, dass diese unterschiedlichen Säulen keine gute Entwicklung sind. Wir sehen die Schulmedizin und den Schamanismus vielmehr als einen gemeinsamen Stamm und eine gemeinsame Wurzel, und dahin möchten wir wieder zurück.
Andrea: In Mexiko zum Beispiel begleiten Schamanen die angehenden Hebammen während ihrer Hebammenausbildung ein ganzes Jahr lang, um die Intuition, das Bauchgefühl, das ich zuvor angesprochen habe, zu schulen. Denn so lernen sie, zu erkennen, was sie spüren, fühlen und hören und dass wir Menschen verschiedene Zugänge besitzen. Der Mensch in unserer westlichen Kultur ist oft der Meinung, dass das, was man nicht sehen, nicht riechen, nicht anfassen kann, nicht existiert, aber das ist Unfug. Gerade diese Fähigkeiten kann man schulen, und das macht auch Sinn. Wenn die Schulmedizin diesen Zugang wiederfinden würde, könnte sich hier ein neues Potenzial eröffnen. Der Mensch sollte wieder ganzheitlich betrachtet werden, seine Lebensumstände, seine Familie sollten miteinbezogen werden, statt bloß die einzelnen Organe zu begutachten, um in Erfahrung zu bringen, was mit dem Menschen los ist.
Jeder von uns hat – und ich finde, dass dies in der Corona-Zeit deutlich wurde – ein Bedürfnis nach Harmonie, Zusammengehörigkeit und Familie. Es ist wichtig, dass man sich selbst kennt. »Wer bin ich, was brauche ich, was mache ich?«, denn jeder von uns hat seine eigenen Bedürfnisse. Aber wenn ich es für mich selber nicht erkennen, nicht wertschätzen und nicht leben kann, kann ich diese Bedürfnisse bei meinem Gegenüber überhaupt nicht erkennen. Daraus entstehen Krankheiten. Die Seele ist immer der Motor, wie bei einem Auto. Wenn ich den Motor herausnehme, funktioniert nichts.
TV: Wie reagieren deine Patienten, Iris, wenn du ihnen vorschlägst, eine Schamanin miteinzubeziehen?
Iris: Im Krankenhaus dürfen wir Patienten nur rein schulmedizinisch behandeln. Bei den Patienten, die wir im Buch vorstellen, handelt es sich um Patienten, die wir außerhalb des Krankenhauses gemeinsam in einer Ordination behandelt haben. Viele Patienten fanden den Weg selbst zu einem Schamanen, und manchmal schlug ich es denen, die bei mir extern in Behandlung waren, vor. Dabei waren es Menschen, die selbst gemerkt haben, dass sie andere Wege einschlagen sollten, da sie bereits lange in schulmedizinischer Behandlung waren und trotz allem keine zufriedenstellenden Erfolge erlebten. Diese Patienten sind aufgrund ihres Leidensweges oft sehr aufgeschlossen.
Andrea: Leider ist es so, dass die meisten, die zu mir kommen, sich so fühlen, als ob sie völlig austherapiert sind und keine Chance mehr haben. Wenn Menschen zum Beispiel in Südamerika oder Korea krank werden, gehen sie als Erstes zum Schamanen und danach zum Arzt. Wir gehen erst zum Arzt, und wenn der Arzt nicht mehr weiterweiß, gehen wir zum Schamanen.
TV: Wie kann man erkennen, ob jemand wirklich Schamane ist?
Andrea: Durch vier wunderbare Punkte kann ein Laie erkennen, ob jemand wirklich ein Schamane ist oder nicht. Einem wirklichen Schamanen brauchst du nichts zu erzählen, denn er muss das Gegenüber wie ein Glas Wasser lesen können. Wenn er das nicht kann, vergiss es. Das ist das kleinste ABC, das er beherrschen muss. Das Nächste ist, dass der Schamane seine Grenze kennt und sagen kann: »Das kann ich nicht machen, ich schicke dich woandershin.« Er hat diesbezüglich kein Ego-Thema. Wenn eine Schamanin sagt, dass sie dir nicht helfen kann, dir aber einen anderen guten Schamanen empfiehlt, zeigt sie, dass es ihr wirklich um das Wohlbefinden des Klienten geht. Das Dritte ist, dass er auf die Wörter seiner Götter und seiner Geister hört. Wenn jemand zum Schamanen geht und er ihm eine Stunde lang seine ganze Lebensgeschichte erzählen muss, dann kann das kein wirklicher Schamane sein. Das vierte Merkmal für einen wirklichen Schamanen ist, dass er ein sehr einsames und alleiniges Leben führt. In Korea und auf Hawaii trennen sich die meisten Mütter von ihren Kindern, um sie zu schützen. So bekommt man eine grobe Idee davon, wie ernst dies alles ist.
Tattva Viveka: Vielen herzlichen Dank für dieses erhellende Gespräch!
Zu den Autorinnen
Andrea Kalff sieht sich als Brücke zwischen Leben und Tod. Sie arbeitet weltweit mit verschiedensten Ärzten, Psychologen und Therapeuten zusammen. 2006 wurde sie von der weltbekannten Meister-Schamanin Kim Keum Hwa aus Südkorea als erste Europäerin in den koreanischen Schamanismus initiiert. Heute reist sie in aller Welt, vorwiegend in Europa, Korea, Mexiko und Hawaii, um Menschen in schwierigen Lebenssituationen, mit psychischen und physischen Problemen und vielem mehr zu helfen und zu unterstützen.
Dr. Iris Zachenhofer, Neurochirurgin und Psychiaterin, arbeitet im Sozialmedizinischen Zentrum Baumgartner Höhe in Wien, dem größten österreichischen psychiatrischen Krankenhaus. Sie schrieb mehrere Bestseller.
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