Von den drei seelischen Dimensionen
Als Begründer der Anthroposophie entwarf Rudolf Steiner ein neues Verständnis des Seelen-Begriffs. Sein Verständnis war vor allem von der Philosophie Aristoteles’ und Brentanos geprägt. Er unterscheidet dabei in die Empfindungsseele, die Verstandesseele und die Bewusstseinsseele, die der Mensch in seiner irdischen Existenz erlebt.
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Wiederentdeckung der Seele. Sigmund Freud, Edmund Husserl, C. G. Jung und manche andere begannen, oft genug auch abseits des Mainstreams, sich auf die Phänomene der Seele neu einzulassen. Insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging daraus auch eine Reihe neuer therapeutischer Ansätze hervor. In der akademisch-wissenschaftlichen Welt dagegen kommt der Begriff »Seele« kaum noch vor. Dabei hat der Begriff immer noch einen Zauber. Viele Menschen spüren, dass hier etwas liegt, das mit der tieferen Seite ihrer selbst zu tun hat.
Rudolf Steiner, Foto von Otto Rietmann, um 1905. © Wikipedia
Ein wenig bekannter Ansatz, sich dem Verständnis der Seele zu nähern, geht auf Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie (1861–1925), zurück. Es gibt sogar ein verbindendes Moment seines Denkens mit dem anderer wichtiger Pioniere der Seele. Im Jahr 1918 veröffentlichte Steiner sein Buch »Von Seelenrätseln«. Er widmete es dem kurz zuvor verstorbenen Philosophen Franz Brentano, der während Steiners Studienjahren in Wien zu seinen Lehrern gehörte und den er lebenslang verehrte. Nun ist es spannend, wer da gegen Ende des 19. Jahrhunderts außer Steiner noch in diesen Wiener Vorlesungen Brentanos gesessen hatte: Es waren keine Geringeren als Sigmund Freud und Edmund Husserl! Warum hat nun Steiner den Philosophen Brentano so geschätzt?
»Seele ist ein gerichtetes »Dazwischen«.«
Brentano gründete sein Werk auf die aristotelische Philosophie. Sein Ziel war es, einen philosophisch-wissenschaftlichen Zugang zur Seele zu finden, der auf seine Art genauso methodisch fundiert sein sollte wie die damals aufsteigenden Naturwissenschaften – nur, dass die exakte Beobachtung bei seinem Forschungsgegenstand nicht nach außen gerichtet sein konnte – schließlich ist ja die Seele kein äußerlich sichtbares Objekt –, sondern nach innen. Auf diesem introspektiven Weg suchte er ein gemeinsames Wesensmerkmal aller Erscheinungen aller seelischen Phänomene. Brentano fand es – und Steiner stimmte hier mit ihm überein – in der Struktur des Gerichtet-Seins auf etwas anderes. Seele also nicht als eine Art unsichtbares Objekt, sondern als ein Prinzip: Für Brentano ist alles Seelische gekennzeichnet durch ein »In-sich-über-sich-hinaus-Sein«, das Aufnehmen eines Äußeren (beziehungsweise anderen) in ein Inneres. Umgekehrt geht dieses Innere stets in seiner Aufmerksamkeit und Aktivität aus sich heraus. Brentano verwendete hierfür auch den Begriff des Intentionalen. Noch einmal anders formuliert:Seele ist ein gerichtetes »Dazwischen«.
Beobachten mit Aristoteles
Damit griff Brentano ein zentrales Motiv der aristotelischen Philosophie auf. Das ist wichtig zu beachten, da auch Steiners differenzierte Lehre von der Seele viel mit dem großen Griechen gemein hat (wiewohl sie – wie später noch zu sehen sein wird – auch Verwandtschaften mit dem östlichen Weisheitsstrom aufgriff). Eine Seelenlehre in der Linie Aristoteles-Brentano-Steiner ist mehr phänomenologisch und konkret beobachtend orientiert und unterscheidet sich insofern von Ansätzen, die mit »Seele« einen mehr unbestimmten, irgendwie »tieferen« Zusammenhang meinen (»Die Seele der Nationen«) oder mehr metaphorisch auf ein tieferes Wesen im Menschen selbst zielen. In letzterem Sinne scheint unter anderem Ken Wilber »Seele« zu verstehen, was im Dialog mit der europäischen Tradition zu Missverständnissen führen kann.
»Seele ist für Aristoteles das Vermögen, durch das ein Wesen lebendig wird.«
Aristoteles praktizierte als erster Denker im Abendland einen nicht mehr spekulativen, sondern an den Phänomenen orientierten Zugang zur Seele. Für ihn ist Seele etwas, das sich zwischen dem Körper auf der einen und dem Geist auf der anderen Seite auslebt (also anders als bei Wilber, für den »Seele« die höhere Stufe darstellt – was in Europa von Aristoteles bis Hegel jedoch als »Geist« bezeichnet wird – Missverständnisse sind hier, wie angedeutet, vorprogrammiert). Anders als noch Plato setzte Aristoteles kein (schon vorgeburtlich bestehendes) Wesen der Seele mehr voraus, sondern beschrieb Strukturen und Funktionen des Seelischen anhand des konkreten Lebens. Aristoteles hielt sich mit Aussagen darüber zurück, ob es so etwas wie eine unsterbliche Seele geben könnte, sondern beschrieb einfach, was er als Merkmale des Seelischen beobachtete. Wenn wir eine einfache Definition versuchen, können wir sagen, Seele ist für Aristoteles das Vermögen, durch das ein Wesen lebendig wird. Und Lebendigkeit ist immer auch Bewegung. Was er damit meinte, wird am besten durch einen Vergleich mit der Welt der Mineralien und Steine deutlich. Stellt man sich innerlich auf der einen Seite einen Granitblock vor, auf der anderen Seite eine Gemse im Bergland, dann fällt sofort auf, dass der Stein über keine eigene Bewegungsmöglichkeit und somit über kein Leben verfügt. Sofern sich der Block irgendwann aus einem Bergmassiv gelöst hat und zu Tal gerollt ist, sind dafür Elemente verantwortlich, die außerhalb seiner selbst liegen: Schwerkraft und Verwitterungskräfte geben ihm die Form von außen. Anders das alpine Klettertier: In ihm ist etwas wirksam, das es zu einem lebendigen Wesen macht. Die Gemse bewegt sich aus inneren Antrieben heraus, sucht nach Futter und kann auf äußere Eindrücke reagieren, zum Beispiel durch schnelle Flucht, wenn ein Spaziergänger zu nahe kommt. Sie verhält sich auch nicht nur mechanisch (so wie ein Felsbrocken nach den Gesetzen der Physik zu Tal rollt), sondern aus speziellen Instinkten heraus, die charakteristisch für ihre Art sind. Im Verhalten der Gemse (wie auch in dem aller anderen Tiere) zeigen sich also genau die Merkmale, die Brentano als wesentlich für die Seele beschrieben hat: Das Tier richtet sich intentional auf seine Umgebung, es verhält sich aus einem inneren Erleben heraus, es kann seiner inneren Verfassung (zum Beispiel Angst) Ausdruck geben. Mit anderen Worten: Die Gemse ist ein seelisches Wesen, während der Stein uns nichts verrät, was auf eine (seelische) Innenseite hinweist.
Nun definierte Aristoteles das Seelische nicht durch den Begriff der Intentionalität, sondern durch das Prinzip eines von innen kommenden, inhärenten Lebens, was ja bei unserem Beispiel auch deutlich geworden ist. Diese inhärente Kraft aber sprach Aristoteles auch schon den Pflanzen zu. Inwiefern? Nun, um wieder den Felsbrocken als Vergleich zu nehmen: Der Stein hat, wie gesehen, keine aus seinem Innern stammende Bewegung. Er wird nur durch äußere Anstöße bewegt. Bei Pflanzen ist das zwar ähnlich, insofern sie ihren Standort nicht selbst ändern können. Durch ihren allmählichen Wuchs und vor allem aber durch ihren Gestaltwandel in der Zeit zeigen sie aber durchaus eine Form innengeleiteter Bewegung. Das heißt: Aus einer Kirsche, die von einem Vogel an einen anderen Ort getragen wird, wo er den Kern ausscheidet, entsteht ein Keim, dann ein kleiner Trieb, der sich im Laufe der Jahre immer mehr verzweigt und irgendwann schließlich selbst ein blühender und fruchtender Baum wird. Diese Bewegung folgt den inneren Gesetzen des Kirschbaums. Insofern konnte Aristoteles von einer »Pflanzenseele« sprechen, einem Prinzip der Lebendigkeit, das der Pflanze innewohnt, allerdings noch nicht – nach dem Kriterium Brentanos – über Intentionalität verfügt, also nicht über ein erlebendes und über sich hinaus gerichtetes Inneres. Die »Lebens-Seele« folgt sozusagen stumm den in der Pflanze vorgegebenen Entfaltungsgesetzlichkeiten, ohne Erlebnisse damit zu verbinden. Sie fühlt auch nichts von dem, was mit ihr vorgeht, weil keine ihrer Lebensäußerungen auf ein inneres Vermögen hinweist. Zudem wissen wir aus der Biologie, dass es für das Auftreten von Gefühl und Bewusstsein evolutionär eine physische Grundlage geben muss: ein Nervensystem als Träger des Empfindens und Erlebens. Dieses existiert bereits bei sehr niederen tierischen Formen, nicht jedoch bei Pflanzen. Insofern sind auch jüngere Sichtweisen irreführend, die beispielsweise Bäumen die Fähigkeit zusprechen, zu »lernen« oder »Informationen« auszutauschen. Diese wohl eher metaphorischen Sprachweisen sind sicher geeignet, mehr Empathie für das vegetative Leben hervorzurufen, philosophisch und wissenschaftlich wirken sie dagegen nicht schlüssig.
Ein echtes Inneres mit seelischem Leben (oder Bewusstsein) zeigt dagegen der Vogel, der gemäß seinen Instinkten »weiß«, dass es im Kirschbaum Kirschen gibt; die Amsel kann sich intentional zu einem Ziel, dem Kirschbaum, hinbewegen. Und sie zeigt auch innere Bewegungen, etwa Angst, wenn sich eine Katze dem Baum nähert, was sie durch entsprechende Rufe äußert, oder eine Art von Lebensfreude, wenn sie zu Sonnenauf- und Sonnenuntergang ihren Gesang anstimmt. Tiere, so können wir jetzt weiter beschreiben, sind Wesen mit Seele, wir könnten auch sagen: Wesen, die ein Bewusstsein haben, in dem sich die Außenwelt spiegelt und mit dem sie auf ihre Außenwelt reagieren.
Nun können wir einen Schritt hinzufügen: Tiere wie unsere Amsel sind bewusste, seelische Wesen, die Schmerz und Freude erleben. Sie sind sich aber nicht darüber bewusst, dass sie selbst Wesen mit Seele sind. Da sind sie eher den Pflanzen verwandt, die einfach den in ihnen liegenden Gesetzen, Trieben und Instinkten folgen. Sich seiner selbst bewusst zu sein – das tritt, auch evolutionär gesehen, erst mit uns Menschen als weitere Qualität in Erscheinung. Wir Menschen haben aber selbstverständlich auch eine Tier-Seele in uns: Wir sind ebenfalls bestimmt von instinktivem Erleben und Reagieren, von unbewussten Verhaltensformen, die wir nicht (ständig) reflektieren. Doch bei uns kann bei allen Aktionen und Interaktionen des Seelischen die Dimension hinzutreten, dass wir um unser Erleben und Handeln wissen, dass wir uns darüber bewusst werden, dass wir es sind, die hier etwas erleben und die sich Gedanken zu etwas machen. Das Selbstbewusstsein als weitere Stufe des Seelischen tritt hinzu.
Eine Seele, drei Dimensionen
Nun ist es Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen und an die vorgestellten Phänomene die Grundbegriffe der anthroposophischen Seelenlehre zu knüpfen, die Steiner in seinem Grundlagenwerk »Theosophie« dargestellt hat. Das, was Aristoteles noch Pflanzenseele nannte, sieht Steiner nicht als Seelisches im engeren Sinne, weil ihm die Dimension erlebender Innerlichkeit fehlt. Er spricht hier vielmehr vom Prinzip des Ätherischen, das die Schicht des Lebendigen, auch bei uns Menschen, bestimmt. Das eigentlich Seelische beginnt im Tierreich. Die erste Ebene des Seelischen beim Menschen bezeichnet Steiner als Empfindungsseele, als eine Form des Seelischen, die Eindrücke empfangen und erleben kann.
Während die Tiere ihre Eindrücke gemäß den in ihnen liegenden, ihre Art prägenden und von ihnen selbst nicht reflektierten Instinkten verarbeiten, kommt bei uns Menschen die Fähigkeit hinzu, durch das Denken Verbindungen zwischen den Eindrücken der Außenwelt herstellen zu können. Wir können auch unsere eigenen Empfindungen und Gedanken einordnen. Es ist unser Verstand, der zu einem ganz beträchtlichen Anteil unser Leben bestimmt, durch Rückschlüsse, Reflexionen, Vorausplanungen und so weiter. Der Verstand ermöglicht uns aber auch schon, weitergehende Fragen über unser Menschsein zu stellen, nach der Ordnung der Dinge zu fragen, über den Sinn des Lebens und der Welt nachzudenken. All dies findet im Bereich der selbstbewussten Seele statt, die Steiner auch Verstandesseele nennt.
Nun beschreibt Steiner noch eine weitere Stufe des Seelischen, die wir weiter oben schon berührt haben: Sie ist durch das Vermögen gekennzeichnet, dass wir uns als Menschen unseres bewussten (seelischen) Seins auch bewusst sein können: »Ich bin mir meiner selbst und meiner seelischen Erfahrungen bewusst, ich habe das Vermögen eines in sich selbst reflektierten Bewusstseins.« Dieses Vermögen hat auch mit dem Phänomen des »Ich« zu tun, einer sich selbst bewussten Identität, die sich bei keiner Pflanze und bei keinem Tier zeigt, der Fähigkeit, zu sich selbst sagen zu können: »Ich bin ich.« Diese Stufe des Seelischen nennt Steiner die Bewusstseinsseele.
Sie spielt aber nicht nur als Qualität in unserem Innern eine Rolle, sondern auch wenn es darum geht, sich bewusst mit der Welt zu verbinden – durch Erkenntnis. Etwas wirklich zu erkennen, bedeutet, von einem Ding, einem Wesen oder einem Phänomen nicht nur seelisch etwas zu erleben (der überwältigende Sternenhimmel), sondern etwas zu erkennen, was auch unabhängig von meinem Erleben gültig ist und bleiben wird. Zum Beispiel hat Galilei mithilfe eines Fernrohrs die Lichtpunkte beobachtet, die sich in unterschiedlichen Konstellationen um den Jupiter herumbewegen. An diese regelmäßig wiederkehrenden Beobachtungen konnte er schließlich den Gedanken knüpfen, dass es sich um Monde handeln muss, die um diesen Planeten kreisen. Diese Erkenntnis, die Galilei als erstem Menschen möglich war, ist aber nicht etwas, das an seine Person und sein Erleben gebunden war wie die Resonanz auf den Sternenhimmel, die bei jedem Menschen etwas anders ausfällt, sondern ihm ging eine allgemeingültige Erkenntnis auf, die auch vor seiner Entdeckung schon Gültigkeit hatte und sie auch immer haben wird. Seine Person und sein Erleben spielen in Bezug auf den Erkenntnisinhalt keine Rolle. Hier ist das hohe Wort von der Wahrheit angemessen, die oberhalb jeder Person steht. Denn dieser Begriff der Wahrheit ergibt – anders als heute oft verwendet, wo man für möglich hält, dass jeder »seine eigene Wahrheit« hat – nur dann einen Sinn, wenn etwas existiert, das als Maßstab jeder eigenen Wahrheitssuche dienen kann. Eine solche Dimension des Wahren anzunehmen, schließt deshalb auch nicht aus, dass es verschiedene Perspektiven auf die Wahrheit gibt; was Perspektivität als Perspektivität aber ausmacht, im Blick auf was sie relativ ist, das kann sich nur an einem übergreifenden Wahren orientieren, dem man sich eben besser oder schlechter annähert. Diese Fähigkeit, etwas Allgemeingültiges erfassen zu können, hat mit der Stufe der Bewusstseinsseele zu tun, die uns über unser Subjekt-Sein hinausführt.
Das Prinzip Entwicklung
Wir sind also bei der Frage nach der Seele in Steiners Lehre nicht zu einer Antwort gekommen, sondern zu dreien: Weil er die Dimensionen von Empfindung, Verstand und Selbstbewusstsein als drei Dimensionen des Seelischen unterscheidet. Es kann sich die Frage anschließen, ob es für Steiner denn gar keine einheitliche Seele gibt, nicht so etwas wie einen Persönlichkeitskern, der mein individuelles Wesen ausmacht. So etwas gibt es selbstverständlich. Hier dürfen wir an die unscheinbare, oft übersehene und doch entscheidende Instanz des »Ich« erinnern, die oben bereits kurz erwähnt wurde. Dieses Ich sei der Mensch selbst, schreibt Steiner überraschenderweise im Buch »Theosophie«. Leib und auch Seele seien die »Hüllen«, in denen das Ich lebt. Seltsam – das Ich, über das wir eigentlich zunächst nicht mehr sagen können, als dass es die Struktur des »Ich bin ich« darstellt – dies sollen wir im Kern selbst sein? Diese Annahme ergibt nur Sinn, wenn das Ich mehr als eine abstrakte Form von Identität ist, wenn in der Identität tatsächlich auch das aufgenommen ist, was das Ich über seine »Hüllen« von der Welt und von anderen Menschen erlebend und erkennend erfahren hat. Wenn also dieses Ich nicht etwas ist, das in kalter Punktualität konstant bleibt, sondern wenn es etwas darstellt, das sich mit seinen Erfahrungen entwickelt. So gesehen, wird das Ich tatsächlich zum Antriebsprinzip der ganzen Anthroposophie Steiners, die eine Entwicklungslehre des Menschen darstellt: Unser Weg als Menschheit führt von einer individuellen Abschnürung vom Weltganzen in die Vereinzelung und Entfremdung, wird aber durch das Ich, das auf den Ebenen von Empfindung, Verstand und Bewusstsein mit der Welt interagiert und alle Erfahrungen aufnimmt, zunehmend wieder universell – und dies umso mehr, als dass das Ich in der Bewusstseinsseele vom intersubjektiv Wahren der Dinge erkennen und in sich aufnehmen kann.
»Es gilt, dass die Seele die Färbung dessen annimmt, was sie aufnimmt.«
Die Seele hat, vermittelt durch das Ich, Anteil am Geist, das heißt, sie nimmt die übersubjektiv-wahren Inhalte, Gesetze und Ideen in sich auf – und je mehr sie von diesem Übersubjektiven aufnimmt, entwickelt sie sich selbst in diese Richtung. Es gilt, dass die Seele die Färbung dessen annimmt, was sie aufnimmt. Von diesem Punkt aus öffnet nun Steiner eine atemberaubende Perspektive der Weiterentwicklung des Menschen mit seiner Seele – eine Idee, die auch an große östliche Weisheitslehren anknüpft. In dem, was Steiner Bewusstseinsseele nennt, stellt die Berührung mit dem Objektiv-Geistigen noch eine eher ausschnitthafte Erfahrung dar, der gegenüber sich in unserer Existenz ganz überwiegend noch die Erfahrungen eines leiblich und seelisch gestützten Selbst zeigen. Hieran wird sich, in unserer Gegenwart beginnend und in Zukunft immer mehr verdeutlichend, eine weitere Existenzform ausbilden, die eines »Geistselbstes«, das seine Identität aus der bewussten Resonanz mit dem Geist bezieht.
Interessanterweise knüpft Steiner an dieser Stelle terminologisch mitunter an die traditionelle vedantische Philosophie an, die bei dieser Stufe von »Manas« spricht. Noch zwei weitere Stufen werden auf langen Entwicklungswegen erreicht werden – die Steiner ebenfalls mit vedantischen Begriffen bezeichnet; Stufen, auf denen wir immer umfassender unser Menschsein ganz ins Geistige heraufheben werden: auf die Stufe des Lebensgeistes (Buddhi) und schließlich auf die Stufe des Geistesmenschen (Atman). Diese Stufen liegen jedoch noch so weit in der Zukunft, dass wir uns hier nicht weiter mit diesen theoretischen Vorwegnahmen beschäftigen müssen.
Konkreter greifbar ist dagegen schon jetzt das Faktum, dass es die Seele ist, die den Schauplatz unserer Entwicklung bildet, und dass die Seele bei uns Menschen mit Individualisierung zu tun hat. Diese vollzieht sich für uns immer im Austausch mit dem Materiellen, Irdischen. Erst im leiblichen Sein erscheint die Seele, so werden Empfindungen ermöglicht, so wird Material für den Verstand bereitet, der sich damit auseinandersetzt. Das soll für Steiner im Sinne einer höheren Weltentwicklung auch so sein, weil die dadurch entstehende Individualisierung ein neues Element in die Ordnung der Welt bringt: Denn hier kann sich Freiheit ereignen, die nur im Zusammenhang mit Individualisierung möglich ist.
Was wird aus der Seele?
Wie wir gesehen haben, hat die Seele für Steiner – anders als damals für Aristoteles – durchaus (wieder) eine ontologische Dimension, das heißt, sie ist dreifach: ein Wesen mit Ursprung, Gegenwärtigkeit und Entwicklung. Ihr Werden geht von einer Art göttlichem Funken aus, der einst einen Ausgangspunkt bildete, der seither nach Weiter- und Höherentwicklung strebt.
»Die Fortexistenz der individuellen (Geist-)Seele nach dem Tod ist für ihn eine Forderung aus einer spirituellen Ökonomie des ganzen Kosmos heraus, mit dem die Entwicklung des Menschen sinnvoll veranlagt ist.«
Wenn wir nun – etwas abstrakt gesprochen – die sich immer mehr vergeistigende Seele mit ihrem Ziel hin zum »Geistesmenschen« (Atman) als den Sinn aller Entwicklung zumindest erahnen können, schließt sich unweigerlich eine entscheidende Frage an. Denn ganz offensichtlich gelangen – abgesehen von den »ganz Großen« der Geistesgeschichte wie Buddha, Zarathustra, Jesus oder Christian Rosenkreutz – die allermeisten Seelen in einem einzigen Leben nicht zur Vollendung. Wenn man den Tod als das Ende aller individuellen Entwicklung betrachten müsste, dann würden alle Erfahrungen, alle Lernschritte, die das »Ich in seinen Hüllen« in einem Leben gemacht hat, also jede Erweiterung seines Seins in Richtung des Geistigen, mit dem Tod wieder ins Nichts gehen. Nicht nur die naturwissenschaftliche Weltsicht kann hier nichts anderes denken, überraschenderweise sind auch viele Vertreter spiritueller Weltsichten überzeugt, dass die Geist-Seele des Menschen nach dem Tod sich wieder im All-Einen auflöst. Anders Rudolf Steiner. Wiederum in Übereinstimmung mit östlichen Weisheitslehren zieht er aus dem Entwicklungsgedanken die Konsequenz, dass die Früchte des einen Lebens mit dem Tod nicht vergehen, sondern dass das Ich in einem nächsten Leben an sie anknüpfen kann. Ähnlich hatte schon seinerzeit Goethe auf die Frage, was er über das Leben nach dem Tode glaube, geantwortet: »Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.« (zu Eckermann am 4.2.1829) Die Fortexistenz der individuellen (Geist-)Seele nach dem Tod ist für ihn eine Forderung aus einer spirituellen Ökonomie des ganzen Kosmos heraus, mit dem die Entwicklung des Menschen sinnvoll veranlagt ist.
So hat die Frage nach der Seele schon immer zu den tiefsten Rätseln des Lebens geführt. Philosophen, Religionen und Weisheitslehren haben Antworten darauf zu geben versucht. Steiners Hinweise sind aktuell gerade in einer Zeit, wo ein einseitig wissenschaftliches Weltbild wenig Raum für solche ungreifbaren und doch existenziell wichtigen Dinge lässt. Sein Ansatz ist mehr als ein Glaube, weil er – darin der abendländischen Tradition verwandt – an konkrete Beobachtungen des eigenen Lebens anknüpft. Er ist aber auch mehr als Wissenschaft, weil er das Denken über die Seele in Kontexte bringt, die sich erst höheren Wissensdiskursen in Meditation und geistiger Schau erschließen. Er tut unserem Sinnbedürfnis genüge – und bleibt gleichzeitig offen und geheimnisvoll.
Zum Autor
Dr. Jens Heisterkamp studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie, lernte während seines Studiums die Anthroposophie kennen und arbeitete parallel zu seiner Promotion einige Jahre mit geistig behinderten Kindern zusammen. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der anthroposophischen Monatszeitschrift info3 und Verleger im angeschlossenen Info3-Buchverlag. Er lebt in Frankfurt am Main.
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