Rückkehr im Lebendigen Licht des Glorreichen Sterns
Autor: Samuel Eckhart
Kind der Erde und des Sternenhimmels,
Du, der du die Erfahrung der Mysterien suchst,
Du, der du das Licht der Weisheit suchst,
Du, der du Welten innerhalb von Welten suchst,
bis für dich alle Welten eins sind in Ewigkeit,
Die Hohe Gesellschaft des Glorreichen Sterns grüßt dich.
(aus einem Einweihungsritual der Ogdoadischen Tradition)
Die bisher kaum bekannte westliche Mysterientradition »die ogdoadische Tradition« existiert bereits seit den frühen Jahren der christlichen Kirche und ist eine Verschmelzung vorchristlicher Kulte der östlichen Mittelmeerwelt mit den klösterlichen Lehren und Traditionen der frühen Kirche. Im Vordergrund ihrer Lehren steht die Erforschung der menschlichen Seele und der Weg, um diese für den Glanz des Lichts empfänglich zu machen.
Es gibt eine echte Wissenschaft von der Seele, eine Psychologie und Philosophie, die – eingebettet in Ritual und theologischer Methodik – seit den frühen Jahren der christlichen Kirche existiert. Diese Wissenschaft wird rückblickend als Ogdoadische Tradition bezeichnet, nach ihrem Haupt- und Identifikationssymbol des Achtfachen Sterns: Stella Gloriosa Regenerationis, der Glorreiche Stern der Erneuerung.
Sie ist ein Studium und eine Disziplin, die versucht, den Tempel des Heiligen Geistes, auch Haus des Opfers genannt, zu einem lebendigen und bedeutungsvollen Heiligtum innerhalb der menschlichen Psyche zu machen. Oder vielmehr, weil dieses Heiligtum bereits in jedem Einzelnen latent vorhanden ist und es gerade durch das Zusammentreffen von Seelenkräften gebildet wird, sich diesem Heiligtum als wirksames Gefährt geistiger Verwirklichung in Christus bewusst zu werden.
Dabei handelt es sich in erster Linie um eine Erforschung der Ebenen der menschlichen Psyche (ψυχή = altgriechisch für Seele) selbst und der Art und Weise, wie diese Ebenen harmonisch, dynamisch und wirksam miteinander in Einklang gebracht werden können.
Geschichte und Verflechtungen
Die sogenannte Ogdoadische Tradition geht auf eine dynamische Verschmelzung vorchristlicher Kulte der östlichen Mittelmeerwelt mit den klösterlichen Lehren und Traditionen der frühen und ungeteilten Kirche zurück. Begrifflich wurde sie erstmals von Leon Barcynski (alias Osborne Phillips) und Vivian Godfrey (alias Melita Denning) 1974 im ersten Band ihres Werkes »Magical Philosophy« definiert.

Mittelmeerkarte: © RB-DESKKART www.welt-atlas.de
Hauptsymbole der Ogdoadischen Tradition sind die Fünffache Struktur des Hauses des Opfers als Arbeitsplan und Klassifizierungssystem sowie der Achtfache Stern der Erneuerung als Symbol der Errungenschaft und des Neuen Lebens.
In der jüngeren Tradition der Rosenkreuzer steht dafür das Symbol der rubinroten Rose auf einem goldenen Kreuz. Jede dieser beiden ehrenwerten Traditionen besitzt ihre eigene charakteristische Lehre, jede leistet ihren leuchtenden Beitrag zur westlichen Mysterientradition, und jede ruft bestimmte Mitglieder zu sich, die durch einen tiefen inneren Impuls dazu veranlasst werden, den Pfad der Rückkehr anzutreten.
»Wir sind aus dem Licht gekommen, dem Ort, wo das Licht geworden ist aus sich selbst.«
So spricht Jesus im Thomasevangelium: »Wenn man zu euch sagt: Woher seid ihr gekommen?, sagt zu ihnen: Wir sind aus dem Licht gekommen, dem Ort, wo das Licht geworden ist aus sich selbst.« (Spruch 50)
Der Einfluss der Ogdoadischen Tradition auf die westliche Spiritualität, Philosophie und Kultur war tiefgreifend und zieht sich nachweislich seit mindestens neun Jahrhunderten durch die westliche Geschichte wie ein goldener Faden in einem Wandteppich: leuchtend bei klarem Licht und doch auf seltsame Weise unbemerkt.
Die Symbolik
Die Fünffache Struktur des Hauses des Opfers ist ein unmittelbarer Schlüssel zur Dynamik des Universums und zu jenem Muster im göttlichen Geist, gemäß dem die menschliche Natur entstanden ist. Derselbe Schlüssel ist daher auch der, durch den die Fähigkeiten der Psyche in ihrer eigentlichen und wirkmächtigen Ordnung wachgerufen werden, und ebenso ist es der Schlüssel, durch den die verborgenen Kräfte des Universums verstanden, verwirklicht und erlangt werden können.
»In höchster Weise ist es der Akt der Erneuerung und der geistigen Wiedergeburt in der ewigen Individualität Gottes und in seinem ewigen Werden.«
Der Achtfache Stern der Erneuerung ist das glorreiche Symbol, welches das Haus des Opfers erfüllt und transzendiert. Der Achtfache Stern, der seit dem Altertum verwendet wird, um das göttliche Leben darzustellen, ist auch Sinnbild für ein unerschütterliches Streben und der Errungenschaft. In höchster Weise ist es der Akt der Erneuerung und der geistigen Wiedergeburt in der ewigen Individualität Gottes und in seinem ewigen Werden.

Šamaš, babylonischer Gott der Sonne, Wahrheit und Gerechtigkeit. Sein Symbol war die Sonnenscheibe mit einem achtstrahligen Stern und wellenförmigen Strahlen, das zur Entwicklung der Ogdoadischen Tradition beitrug. © wikipedia.net
Beide Symbole hatten ihre frühen Anfänge in den religiösen Abfassungen der alten mesopotamischen Religion, wo das Symbol des Sterns mit acht Spitzen ein maßgebliches Zeichen war, das auf die göttliche Natur hinweist, und wo eine fünffache Struktur für die Kategorisierung der himmlischen Kräfte in Bezug auf die göttliche Aktivität und das menschliche Leben etabliert worden war. Die Pythagoreer, deren Erkennungszeichen ein Pentagramm war, betrachteten die Zahl Acht als die Zahl der Vollkommenheit und trugen damit ebenso zu dieser sich entwickelnden Tradition bei.
Schon früh wurde diese Zahl von der christlichen Kirche als Symbol für die Wiedergeburt in Christus übernommen – an einem »Achten Tag«, in einem Zustand außerhalb von Raum und Zeit. Hier wurde die Ogdoadische Tradition per se geboren.
In Alexandria blühten bedeutende Aspekte der klassischen Philosophie auf, die sich aus platonischen, aristotelischen, orphischen und theurgisch-mystischen Traditionen speisten. Aus diesem lebendigen Strom sich verbindender Systeme entstand der Neuplatonismus, von dem grundlegende Konzepte später in die theologischen Prämissen der alexandrinisch-orthodoxen Kirche in Konstantinopel (heute Istanbul) integriert wurden.
Die Fünffache Struktur des geistlichen Lebens war bereits gut etabliert, als der hl. Ambrosius (340–397) sie in seinem Werk »Über die Mysterien« klar darlegte. Pseudo-Dionysius, der Areopagit (sechstes Jahrhundert), verfasste seine mystische Theologie und Abhandlungen über die Engelslehre und die göttlichen Namen in der brillanten Atmosphäre dieser Tradition. Und viele andere bauten auf dieser Strömung auf, die in sich selbst neuplatonische, gnostische und hermetische Traditionen vereinte.
Der hl. Bernhard von Clairvaux (1090–1153) legte in seinen »Predigten über das Hohelied« die Geheimnisse der Fünffachen Struktur in Schriften von großer und erinnerungswürdiger Schönheit offen und nahm damit den goldenen Faden der Ogdoadischen Tradition wieder auf. Auch die mittelalterlichen Tempelritter (Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem, 1118–1312), die auf ihren weißen Mänteln ein scharlachrotes Kreuz trugen, das im Grunde genommen den Achtfachen Stern darstellt, verwendeten im Aufbau und im Ablauf ihrer ritterlichen Einweihungen die Fünffache Struktur des spirituellen Lebens. Das liegt zweifelsohne daran, dass der hl. Bernhard maßgeblich an der Gründung des Templerordens beteiligt war.

Auch bei den mittelalterlichen Tempelrittern findet sich der Achtfache Stern als Symbolik. Dieser geistliche Ritterorden hat maßgeblichen Einfluss auf die Ritualpraxis der christlich geprägten Ogdoadischen Tradition genommen. © iStockPhotos, duncan1890
Die Gesellschaft der Fideli d’Amore, die am Ende des 12. Jahrhunderts in Italien gegründet wurde, war eine westliche Formulierung der Symbolik, Mystik und Praxis des geheimen Ismailitischen Ordens »der Getreuen der Liebe« in Kleinasien. Dessen Anhänger folgten in der islamischen Welt dem Weg der inneren Erleuchtung und der Hingabe an die spirituelle Erhebung der Menschheit. Ergänzt und bereichert wurden die Fideli d’Amore durch den Templerorden und fanden so Eingang in die Ogdoadische Tradition. Herausragend in der folgenden Entwicklung über viele Generationen hinweg war die florentinische Familie von Cavalcanti, welche die damaligen Geistesgrößen mit den Fideli d’Amore bekannt machten. Von diesen Eingeweihten sind zwei besonders herausragend: Dante Alighieri – Verfasser des bekannten Werkes »Die Göttliche Komödie« –, den der Dichter Guido Cavalcanti im 13. Jahrhundert der Gruppe vorstellte, und Marsilio Ficino, der im 15. Jahrhundert von Giovanni Cavalcanti selbst initiiert wurde, wie Ficinos eigene Worte bezeugen.
Der Careggi-Kreis
In der Stadt Florenz bildete sich im 15. Jahrhundert unter dem inspirierenden Genie von Marsilio Ficino aus den Mitgliedern der platonischen Akademie eine Ogdoadische Gesellschaft heraus, die sich Careggi-Kreis nannte. Niemand kann die Geschichte der Entstehung Europas erzählen, ohne von dem Erwachen zu berichten, das zu Beginn der Renaissance hier in den Köpfen der Männer und Frauen durch die Arbeit dieses Zirkels vollbracht wurde und deren Wirkungen noch heute in der gesamten westlichen Welt widerhallen. Gelehrte, Dichter und Philosophen reisten von weit her dorthin, um die Einweihung oder zumindest die Inspiration durch das Gespräch mit der Gruppe zu suchen. Reuchlin, der deutsche Pionier der Kabbala, und Erasmus, der den Geist der Renaissance in seine Heimat, die Niederlande trug, gehörten zu denen, die tief von den Eingeweihten des Careggi-Kreises beeinflusst wurden.

Villa Medici in Fiesole, wo Marsilio Ficino von 1469 bis 1474 sein berühmtes Werk »Theologia Platonica« verfasst hat, das eine Synthese von Platonismus und Christentum darstellt und sich mit der Unsterblichkeit der Seele als zentralem Thema beschäftigt. © Estéfano Basílio 2015
Zunächst gegründet wegen der philosophischen und okkulten Interessen von Cosimo de Medici, Ficinos Mäzen, wurde der Careggi-Kreis maßgeblich von Cosimos Enkel, Lorenzo dem Prächtigen, weiterentwickelt. Jedes Mitglied des inneren Kreises trug einen Namen aus der klassischen Mythologie, der sich auf die Götter des Goldenen Zeitalters bezog. So erhielt beispielsweise Lorenzo von Cosimo den Initiationsnamen Pan, während Pico della Mirandola, ein brillanter junger Kabbalist und Hermetiker, Apollo genannt wurde. Auch der Maler und Bildhauer Michelangelo war ein Initiierter dieser hochrangigen Zusammenkunft, der letzte vor dem Tod von Lorenzo. Die Ermordung mehrerer Eingeweihter des inneren Kreises war der Beginn einer grausamen Verfolgung durch religiöse Fanatiker und markierte die Auflösung der Gesellschaft.
Insbesondere durch den Eingeweihten Bernardino Ochίno konnte jedoch das Ogdoadische Wissen nach England gebracht werden. Aufgrund einer rechtzeitigen Warnung eines anderen Eingeweihten, Kardinal Contarini, entging er kurz vor seiner Reise nur knapp der Verfolgung durch die römische Inquisition. Der goldene Faden der Ogdoadischen Überlieferung wurde dann durch den Orden vom Helm im 16. Jahrhundert weitergesponnen, dessen Emblem für Schweigen und Unsichtbarkeit stand. Durch die folgenden Jahrhunderte hindurch und auch heute noch verleihen die Schriften dieser Eingeweihten den Bestrebungen derer, die sie hören oder lesen dürfen, Flügel des Feuers und gewinnen ihre Herzen für die Mysterien. Der Orden wurde in England während der Herrschaft von Elisabeth I. gegründet und überlieferte das Wissen der Florentiner Gilden, der Fideli d’Amore und des Careggi-Kreises.
Diese Linien der initiatischen Nachfolge und die mit ihnen verbundenen reichhaltigen Lehren der Ogdoadischen Tradition wurden im 18. Jahrhundert von der britischen Gesellschaft des flammenden Rades, der Societas Rotae Fulgentis (S. R. F.), empfangen. Wir wissen nicht genau, von wem die Übertragung und Fortführung des Erbes vorgenommen wurde. Sicher ist, dass bis 1689 der Orden des Helms seine operative Arbeit eingestellt hatte und der letzte der ursprünglichen Eingeweihten 62 Jahre vor der Gründung der S. R. F. gestorben ist. Jedoch waren die Anhänger des Ordens zahlreich, und es gab damals auch weitere Ogdoadische Linien in England, die dafür verantwortlich gewesen sein könnten. Was auch immer Quelle der Inspiration und der Übertragung gewesen sein mag, sie ist mit initiatischer Einsicht vollzogen worden, und eine beträchtliche Menge an Material über die Geschichte, Philosophie, Symbolik, Riten und Einweihungen der verschiedenen Ogdoadischen Formulierungen wurde dadurch gesichert. Als Dachorganisation hütet die Societas Rotae Fulgentis bis heute das Ogdoadische Erbe für zukünftige Generationen und stellt damit die ununterbrochene Abfolge dieser Tradition sicher.
Aus der inneren Mitgliedschaft der S. R. F. wurde 1897 in England der Aurum Solis als ein spezifisch magischer Orden gegründet, der mitsamt seinen Ablegern immer noch aktiv und heute in Nordamerika beheimatet ist. Mittlerweile ist dieser Orden unter dem derzeit amtierenden Großmeister stark von seinem tradierten Pfad abgewichen und bildet nun ein Mischsystem mit modernen Yogaelementen. Um wieder an das ursprüngliche christliche Charisma des Ogdoadischen Erbes anzuknüpfen, rief die Societas Rotae Fulgentis 2017 eine neue Organisation ins Leben: die Societas Lucis Viventis, deren Initiationsriten so praktiziert werden, wie sie im 19. Jahrhundert vor der Anpassung für den Aurum Solis verwendet wurden. Die Fülle der Mysterien der ursprünglichen Ogdoadischen Tradition wird derzeit durch diese »Gesellschaft des lebendigen Lichts« repräsentiert und fortgeführt. Ihr Hauptsitz befindet sich in Brasilien, Südamerika.

Ernest Page, 1959 – ein englischer Repräsentant der Ogdoadischen Tradition bei der Erstellung eines Horoskops mit zwei seiner Gefährten in einem Café im Londoner Stadtteil Soho. Dieses Café war ein bevorzugter Ort für nicht-rituelle Treffen des nur vorübergehend wirkenden Ordens vom heiligen Wort, der eng mit der Gedankenwelt des S. R. F. verknüpft ist. © aus dem Soho Tree Blog 2023, http://www.soho-tree.com/
Das Haus des Opfers
In der Ogdoadischen Tradition gibt es ein multidimensionales Verständnis der Seele, das in seiner kabbalistisch geprägten Symbolik eng mit der Fünffachen Struktur des Opferhauses verknüpft ist und seine Grundlage im biblischen Tempel Salomons findet.
So steht im alttestamentarischen Buch der Chronik geschrieben: »Und der Herr erschien Salomon bei Nacht und sprach zu ihm: Ich habe dein Gebet erhört und mir diese Stätte als Haus des Opfers erwählt.« Dieses Opferhaus wurde in der mittelalterlichen Welt in eine einfache diagrammatische Form umgewandelt, die gleichzeitig ein Gebäude und eine Person darstellt, um so als Maßstab des spirituellen Lebens zu fungieren. Es wird mit zwei Säulen und einer darauf ruhenden dreieckigen Giebelfläche dargestellt: Die Säulen stehen für die beiden Teilaspekte der Seele und das Tympanum für diejenigen des Geistes.

Dieses schöne byzantinische Mosaik zeigt Melchisedek, den König von Salem, der Brot und Wein als eucharistisches Opfer darbringt. Hinter ihm befindet sich das Bild des Opferhauses, während Blumen mit acht Blütenblättern zur Verzierung der Szene beitragen. Der Hebräerbrief nennt Jesus Christus einen Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks. © aus dem S.R.F. Blog 2021
Die erste Säule des Hauses ist definiert als der inspirierende Atem. Das damit verbundene biblische Konzept ist das der (als weiblich gesehenen) Ruach, der rationalen oder vernünftigen Seele, dem höheren Aspekt der Seele. Die zweite Säule des Hauses wird als der empfangende Leib definiert. Das damit verbundene biblische Konzept ist das des Nephesh, der animalischen Seele, dem niederen Aspekt der Seele.
»Ruach und Nephesh stellen aber keine getrennten »Entitäten« dar, sondern sie sind eine Seele, dazu bestimmt, sich zu entwickeln.«
Die Ruach hat die Aufgabe, den Nephesh in rechter Weise zu lenken, während sie selbst für die Impulse des Geistes empfänglich bleibt. Ruach und Nephesh stellen aber keine getrennten »Entitäten« dar, sondern sie sind eine Seele, dazu bestimmt, sich zu entwickeln.
Nephesh, der animalische Seelenanteil, repräsentiert die emotionale und instinktive Ebene der Seele, die Ebene der Seele, die am engsten mit dem physischen Körper verbunden ist und mit ihm interagiert. Nephesh ist der Sitz des Unbewussten, des Traumlebens und der mechanischen Lebensvorgänge. Es wird an seinem unteren Randbereich durch den Kontakt mit dem physischen Organismus und vor allem mit dem autonomen Nervensystem begrenzt. An seinem oberen Randbereich wird es durch die Interaktion des rationalen Verstandes mit den Emotionen begrenzt.
Ruach, der rationale Seelenanteil, repräsentiert die Seelenebene, die am engsten mit dem Denken und den mentalen Prozessen verbunden ist. Sie interagiert mit dem Licht der höheren Fähigkeiten des Geistes und ist das Medium zu dessen Aufnahme. Hier in ihrem höheren Bereich zeichnet sie sich durch die Fähigkeit der Vernunft aus. In ihrem unteren Bereich befindet sich die Domäne der komplexeren Emotionen, der moralischen Urteile. Die Ruach arbeitet mit dem Ablage-, Anzeige- und Speichersystem des Gehirns. Sie zieht Schlussfolgerungen und geht dabei von grundlegenden Prinzipien aus. Aber sie hat nicht die Qualitäten des ihr übergeordneten Geistes und seine höhere Perspektive in sich. Sie ist das Bewusstseinszentrum des menschlichen Wesens und daher gleichbedeutend mit dem »Ego« der modernen Psychologie. Das Hauptmerkmal der Ruach ist ihre Qualität zum Selbstbezug, ihr Reflexionsvermögen. Sie kann das Wirken jeder anderen Komponente innerhalb der Psyche insofern betrachten, als sie sich ihrer bewusst ist, aber sie kann in einem unentwickelten Zustand ihre eigene Tätigkeit nicht angemessen einschätzen, weil sie nicht aktiv mit den Ebenen des Geistes kommuniziert.
Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glorie
Die Ebenen des Geistes werden durch den dreieinen Giebel des mittelalterlichen Hauses des Opfers veranschaulicht und stellen die drei Prinzipien der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glorie dar.
(1) Gerechtigkeit ist die biblische Neshamah, der weibliche, formende Aspekt des Geistes, das nach oben strebende Vermögen. Die Neshamah kann im Sinne der Jungschen Psychologie als archetypische Anima bezeichnet werden und ist symbolisch die Sphäre der himmlischen Mutter.
(2) Barmherzigkeit, Chiah, ist der männliche, vitale Aspekt des Geistes, die Lebenskraft. Der Chiah gilt im psychologischen Sinne als archetypischer Animus und ist die Sphäre des himmlischen Vaters.
Für manchen mag es verwirrend erscheinen, dass die »weibliche« Neshamah mit der Gerechtigkeit und nicht mit Barmherzigkeit assoziiert wird. Man sollte sich jedoch vergegenwärtigen, dass wir es hier mit Prinzipien und nicht mit Persönlichkeiten zu tun haben. Außerdem sind die Begriffe Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eine zweckdienliche Vereinfachung. Gerechtigkeit steht für das Empfangen und Kontraktion, Barmherzigkeit steht für das Geben und Expansion.
(3) Glorie, Yechidah, ist die Einheit und transzendentale Essenz des Individuums, das innerste Licht des Geistes – der Stern, wie wir ihn nennen. Es ist die göttliche und ultimative Realität der Psyche, das Licht, das jeden erhellt, der in die Welt kommt, latent und unerforschlich in den entlegenen Höhen der Psyche. Erst wenn das Muster des Tempels, des Hauses des Opfers, in uns vollendet ist, ergießt das innerste Licht seinen Glanz in unser Herz und erweckt die Kraft der intuitiven Wahrnehmung der Ruach.
Neshamah, Chiah und Yechidah – dreieinig als »das Neshamah« bezeichnet – bilden zusammen den Geist, das Höhere Selbst des Individuums. Nephesh und Ruach werden insgesamt als die Seele bezeichnet; zusammen mit dem physischen Körper (Guph) bilden sie das Niedere Selbst des Individuums.
Jeder einzelne Mensch nimmt in diesem irdischen Leben an jeder dieser Ebenen teil. Dies ist eine Wahrheit, die weder vom Grad des Bewusstseins einer Person für diese Teilhabe noch von irgendeinem anderen Faktor beeinflusst wird. Das bedeutet nicht nur, dass wir Teil dieser Ebenen sind; es bedeutet auch, dass die Natur jeder dieser Ebenen in jedem einzelnen Menschen vorhanden ist.
Ruach ist an einem Ende durch Nephesh begrenzt, mit dem sie in gewissem Maße interagiert, und am anderen Ende durch die Dimension der höheren Fähigkeiten, für die sie empfänglich sein sollte. Oft versagt jedoch Ruach in dieser Bedingung der Empfänglichkeit, und oft dominiert sie Nephesh über das Notwendige hinaus. Aber als ein unverzichtbarer und zentraler Bestandteil der Gesamtorganisation der Psyche kann sie harmonisch entwickelt werden.
In der normalen Entwicklung der Psyche sind die Kräfte der Ruach in einem frühen, aber veränderlichen Stadium aktiv, und die »Ära der Vernunft« wird für gewöhnlich auf das Alter von sieben Jahren festgelegt. Jedoch bezieht sich unsere Erörterung auf das Erwachen der Ruach zu einem fortgeschritteneren Grad des Bewusstseins, das in keiner Weise mit dem physischen Alter zusammenhängt: die Öffnung der Wahrnehmung zu einem hohen spirituellen Bewusstsein durch die Etablierung einer mystischen Gemeinschaft mit Christus. Diese Verwirklichung kann durch rituelle Handlungen, durch inneres Streben oder durch bedeutsame Lebenserfahrungen beschleunigt werden. Aber es sollte verstanden werden, dass sie an sich nur die rechtmäßige Vollendung der menschlichen Natur ist, die Krönung der Psyche mit der Fülle von Kraft und Tugend.
In dem Maße, in dem sich Ruach immer mehr ihrem wahren Christusbewusstsein öffnet, versteht sie sich selbst und das geistige Umfeld, in dem sie wirkt, besser. Schritt für Schritt löst sie sich von den vertrauten Bildern, den akzeptierten Phrasen und den vorgefassten Meinungen, die oft den Platz des wahren Denkens eingenommen haben. Neue Wahrnehmungen der Wirklichkeit treten an ihre Stelle, mit einer Frische und Sicherheit der Erkenntnis, die eine ständige Quelle der Freude ist. Der Mensch beginnt nun, ein Verständnis für die ihn umgreifende spirituelle Atmosphäre zu entwickeln. Er empfängt die Qualitäten neuer und mystischer Dinge und erlebt sie zugleich mit einem wachsenden Bewusstsein für die Notwendigkeit, noch weiter voranzuschreiten.
Allmählich nimmt die Wahrnehmung eines sanften und heiligen Lichtes zu, erfüllt und umgibt den Einzelnen, bis zu »dem Tag, den der Herr gemacht hat«, an dem ein wahrhaftiger Strahl aus dem Neshamah, dem dreieinen Geist, das psychische Sein des Suchenden durchbricht, um Ruach zu erhellen und zu stärken. Die unsterbliche Flamme an der Spitze des geistigen Wesens des Individuums sendet nun ihren Glanz aus, um das Herz zu erleuchten, und die Gegenwart des Lichtes Christi wird nun zur Gewissheit, mächtig und wahrhaftig. In diesem schillernden Moment erreicht Ruach wirklich, gewiss und wahrhaft, ihre geistige Reife.

Die Präsentation Christi, ein Fresko des bekannten Malers Giotto di Bondone von 1305, das in der Cappella degli Scrovegni in Padua zu finden ist. Es kann als symbolische Darstellung des Lichtes Christi innerhalb der erleuchteten Psyche betrachtet werden. © Estéfano Basílio 2018
Die Art und Weise dieser Gewissheit ist zwar von Mensch zu Mensch verschieden, aber sie lässt keinen Zweifel zu. Denn es gibt Bereiche des Wissens, die nicht durch die gewohnten Mittel oder durch eine äußere Quelle vermittelt werden, sondern durch ein einfaches inneres Bewusstsein, das eher dem spontanen Erinnern von etwas längst Bekanntem, aber Vergessenem gleicht.
»Diese Offenbarungen, diese Erleuchtungen, sind das Werk der intuitiven Kräfte des Geistes, vermittelt durch das Neshamah, dessen Licht sich als Gegenwart im Herzen klar manifestiert.«
Diese Offenbarungen, diese Erleuchtungen, sind das Werk der intuitiven Kräfte des Geistes, vermittelt durch das Neshamah, dessen Licht sich als Gegenwart im Herzen klar manifestiert. Auf diese Weise wird das Individuum geistig immer mehr dem Imago Dei, dem »Bild Gottes«, angeglichen.
Hierbei bietet die Ogdoadische Tradition dem Suchenden ein bewährtes und strukturiertes System zur Verwirklichung dieses Glorreichen Sterns der Erneuerung. Auf dem leuchtenden Pfad der Rückkehr offenbaren sich schlummernde Potenziale, die auch in den unsichtbaren Welten zur Anwendung gebracht werden. Deswegen, aber auch wegen seines stark transformativen Charakters, ist in dieser wahrhaft königlichen Kunst eine spirituelle Gemeinschaft notwendig.
Die Struktur und Verwaltung der Ogdoadischen Ordenshäuser ist ähnlich derjenigen von Logenhäusern, aber es gibt keine Trennung zwischen Brüdern und Schwestern. Studium, rituelle Arbeit und Meditation werden regelmäßig und überwiegend individuell im »stillen Kämmerlein« durchgeführt. Es existieren drei grundlegende operative Grade, wobei der dritte Grad durch eine Initiation nicht vollständig erreicht wird. Die Erfüllung dieses Grades kann nur durch ein sich anschließendes, persönliches Bemühen und Empfangen von höheren Ebenen erfolgen und erfährt von dort aus ihre Bestätigung.
Nach mehr als 400 Jahren im Verborgenen äußern sich die Repräsentanten der Ogdoadischen Tradition seit einigen Jahrzehnten wieder öffentlich, um zur gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Als diskrete Gesellschaft hat sich die Societas Lucis Viventis (S:.L:.V:.) zum Ziel gesetzt, die Ogdoadische Tradition der westlichen Mysterien zu fördern und so ein intaktes Vehikel für die Weiterentwicklung ihrer Mitglieder und ein helleres Leben in unserer Welt zu ermöglichen.
So soll es sein!
Der hier vorliegende Text basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen von Osborne Phillips, Ehrenpatron der Societas Lucis Viventis, von dem die folgenden Bücher kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen sind (s. Kasten).

S.L.V. Siegel: © Societas Lucis Viventis 2017
Zum Autor
Samuel Eckhart ist Ordensmitglied der Societas Lucis Viventis. Er ist in verschiedene östliche und westliche Traditionen eingeweiht, blickt auf mehrere Universitätsabschlüsse zurück und fokussiert sich derzeit auf das Studium der hermetischen Kabbala.
Korrespondenz an: slv-europe@posteo.net




- Stella Gloriosa: Das authentische Erbe der Ogdoadischen Tradition, 2022
- Die Heilige Kabbala: Thaumaturgie und Erleuchtung, 2023
- Astralprojektion und Fernwahrnehmung: Ein praktischer Leitfaden zur Astralprojektion des Bewusstseins, 2023
- Außerdem ist seit Februar 2023 die Übersetzung zweier lateinischer Briefe von Lorenzo de Medici in deutscher Sprache erhältlich, zusammen mit einem inspirierenden Essay von Leon Hunt über den Careggi-Kreis.
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Über die Rosenkreuzer, ihre Herkunft und ihre Schriften - OS 17: Gabriele Quinque – Gnosis/Hermetik
- OS 17: Dr. Gunter Friedrich – Rosenkreuzer