Dietlinde Küpper – Musik als Tor zum Transzendenten

Dietlinde Küpper – Musik als Tor zum Transzendenten

Den Geheimnissen des Klangs auf der Spur

Autorin: Dietlinde Küpper

Wie kann es sein, dass Musik und Töne in uns solch starke Gefühle, klare Erkenntnisse oder sogar transzendente Erfahrungen auslösen können? Die Autorin begibt sich auf die Suche nach Antworten und lässt dabei Musiker sowie Musikwissenschaftler zu Wort kommen, um unser mystisches Verhältnis zur Klangwelt zu erhellen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Musik von Johann Sebastian Bach, der als der »fünfte Evangelist« bezeichnet wird. 

Ludwig van Beethoven:

»Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.«

Einleitung

Im August 2020 reiste ich nach Berlin, es war der erste Sommer der Pandemie, im Großraumabteil des Zuges saß man mit Maske, auf Abstand bedacht. Alle waren wir konfrontiert mit dieser ungewohnten Situation, komisch war das und beklemmend. Die Hauptstadt war merkwürdig leer, man sah – ganz anders als sonst – nur wenige Touristen. Das war natürlich durchaus angenehm, überall war Platz, auf dem Schiff, im Café, doch ich konnte es nicht richtig genießen. Ich grübelte über die zahllosen Menschen, die gerade großes Leid erfahren müssen, auch wenn das so direkt nicht sichtbar war. Wer saß gerade in der Wohnung und verzweifelte? Eine unterschwellige Traurigkeit hielt mich gefangen.

»Die Musik traf mich im Innersten, wie Kristalltropfen aus einer anderen Welt sickerten die Töne in meine Seele und durchdrangen sie mit Wärme und Trost.« 

Mit diesen Gedanken stieg ich die Treppen zur U-Bahn-Station hinunter, von unten drangen Ziehharmonika-Klänge herauf: ein bekanntes Orgelstück von Johann Sebastian Bach. Die Musik traf mich im Innersten, wie Kristalltropfen aus einer anderen Welt sickerten die Töne in meine Seele und durchdrangen sie mit Wärme und Trost. Im Nu drehte sich die Perspektive, in völliger Klarheit sah ich vor mir, dass wir nicht alleine sind, dass es eine transzendente Welt gibt voll Liebe und Licht und dass wir uns mitten darin befinden, mit all unserem Leid und unserer Freude darin verwoben. Ob wir es ahnen oder gar nicht merken, ob wir das mit Sicherheit wissen oder solche Gedanken tief überzeugt ablehnen: Jede, jeder Einzelne von uns fällt mit dem eigenen Schmerz und der Qual nicht ins Leere, auch wenn wir diesen Trost manchmal nicht fühlen oder im Entferntesten ahnen. Das war nicht ein erbauliches Gefühl, das mich überkam, sondern eine Erkenntnis von durchdringender Klarheit. Es war nicht das erste Mal, dass ich ausgelöst durch Musik einen solchen Perspektivwechsel erlebte. Die Musik schien dann nicht einfach nur Musik zu sein, sondern sie öffnete wie durch bewährte Chiffren von Klangordnungen ein Tor, das Tor zu den mit den fünf Sinnen nicht wahrnehmbaren Strukturen von Welten, die hinter oder in allem liegen, was ist. Diesen Perspektivwechsel, diesen Trost aus anderen Quellen – das kennen viele Menschen, und es gibt Unzählige, die sich dazu geäußert haben.

Manchmal reicht ein unscheinbares Erlebnis, das Lächeln einer fremden Person, die Weite einer Landschaft, und wir fühlen ein Aufgehobensein in einer seltsam anderen und doch tief vertraut scheinenden lichten, transzendenten Welt.

Die verborgene Wirklichkeit

Was ist Transzendenz? Es ist das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren, das, was das Sichtbare in sich einschließt und trägt, was religiöse Menschen meinen, wenn sie zum Beispiel schreiben: »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.« (der Theologe Dietrich Bonhoeffer wenige Wochen vor seiner Ermordung durch die Nazis) Abstrakter klingt es im »Herzsutra« aus der buddhistischen Philosophie: »Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form.«

»Was ist Transzendenz? Es ist das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren, das, was das Sichtbare in sich einschließt und trägt.« 

Der 2020 verstorbene weltweit bekannte Mönch und Zenmeister Ko’un Roshi Willigis Jäger, der fast sein ganzes Leben über diese Dinge forschte und Erfahrungen sammelte, schrieb in seinem Buch »Die Welle ist das Meer«:

»Die Wirklichkeit, die wir für wirklich halten, ist nicht die wirkliche Wirklichkeit. Die wirkliche Wirklichkeit erschließt sich uns erst dann, wenn wir unser alltägliches Ich-Bewusstsein verlassen und in eine höhere Bewusstseinssphäre eintreten. Diese Bewusstseinssphäre kann man … als transpersonales Bewusstsein bezeichnen.« (Willigis Jäger: Die Welle ist das Meer / Mystische Spiritualität, Freiburg 2000, S. 32)

Die Fühlungnahme mit dem Eigentlichen ist schwer in Worte zu fassen, unsere Sprache scheint ziemlich ungeeignet, solches »dingfest« zu benennen. Auch wenn wir schon in Berührung gekommen sind mit diesem Perspektivwechsel aus scheinbar anderen Dimensionen – im normalen Alltag bleibt diese sich öffnende Weite meistens verborgen, wie hinter einem Vorhang, der sich aber doch manchmal ganz unvorbereitet beiseiteschiebt. In seinem Gedicht »Ein Wort« lässt Gottfried Benn uns an der Erfahrung teilhaben, dass sich mitten in der Verzweiflung der transzendente Raum öffnet – und wieder schließt:

Ein Wort, ein Satz – : aus Chiffren steigen

erkanntes Leben, jäher Sinn,

die Sonne steht, die Sphären schweigen

und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,

ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –

und wieder Dunkel, ungeheuer,

im leeren Raum um Welt und Ich.

Unter allen Künsten scheint vor allem die Musik geeignet, »den Vorhang beiseitezuschieben«.

Das Geheimnis »Musik«

Auf der Welt gibt es unendlich viele Arten von Musik, aus unterschiedlichen Zeiten und Gesellschaftsschichten, es gab – soweit sich das feststellen lässt – wohl kaum ein Volk oder eine Gesellschaft, die ohne sie leben wollte. Doch was ist Musik? Warum brauchen wir sie? Meist geht sie in Resonanz mit unserem Gefühlsleben, das kann eine Leichtigkeit haben wie bei fröhlicher Volksmusik oder sehr ernst und intensiv sein wie bei indischen Ragas oder gregorianischen Chorälen. Musik wirkt über unser Gefühl und auf Schichten in uns, die mit dem Denken, der Ratio, nicht viel zu tun haben.

»Musik wirkt über unser Gefühl und auf Schichten in uns, die mit dem Denken, der Ratio, nicht viel zu tun haben.« 

Der 19-jährige Franz Schubert, der es im Leben nicht gerade leicht hatte, berichtet in seinem Tagebuch von einem berührenden Erlebnis. Er hatte ein Konzert mit Musik eines schon verstorbenen älteren Kollegen besucht, das in ihm vielfältig nachklang: »Ein heller, lichter, schöner Tag wird dieser durch mein ganzes Leben bleiben. Wie von Ferne leise hallen mir noch die Zaubertöne von Mozarts Musik … So bleiben uns diese schönen Abdrücke in der Seele, welche keine Zeit, keine Umstände verwischen und wohltätig auf unser Dasein wirken. Sie zeigen uns in den Finsternissen dieses Lebens eine lichte, helle, schöne Ferne, worauf wir mit Zuversicht hoffen.« (13. Juni 1816, www.zeno.org)

Was genau wir bei einer Musik, die wir mögen, empfinden, ist so unterschiedlich, wie es Menschen gibt, die sie hören. Ob wir aber bei Helene Fischer selig mitsingen, beim Walzertanzen das Fliegen anfangen, ob wir uns beim Rockkonzert in ein großes gemeinsames Gefühl einschwingen oder ob uns ein Streichquartett von Fanny Hensel zutiefst berührt, es scheint nicht völlig beliebig zu sein, was eine Musik in uns auslöst. So wird wohl niemand das aufwühlende Violinkonzert von Johannes Brahms als heiter und gelöst oder Gianna Nanninis »bello e impossibile« als verhalten und beschaulich empfinden.

Wie soll man die Wirkung von Musik untersuchen oder nachweisen? Warum sind manchmal ganz einfache Melodien, auf die jeder halbwegs musikalische Mensch selbst kommen könnte, bei Mozart, Schubert oder den Beatles so besonders, so tief berührend? Es scheint völlig unmöglich, solches in irgendeiner Weise mit dem Verstand »dingfest« zu machen. Zahllose Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind hier in knapp 200 Jahren, seit es diese Wissenschaft gibt, nicht weitergekommen.

Alles ist Klang

Der Journalist und Jazzmusiker Joachim-Ernst Berendt weist in seinem Werk »Nada Brahma – Die Welt ist Klang« (Frankfurt a. M., 1983) mehrfach auf etwas hin, das die Naturwissenschaft erst im 20. Jahrhundert herausgefunden hatte: dass sich alles in Schwingung befindet, von Sternen, Planeten bis zu den Molekülen. Das geht weit über die Ideen von Pythagoras hinaus, der in den Planetenbahnen eine Entsprechung zu den Schwingungsgesetzen von Musik vermutete. Berendt zitiert Prof. Kippenhahn vom Max-Planck-Institut: »Es rauscht nicht nur im Weltall, es tickt und trommelt, es summt und knattert.« (S. 74) Aber nicht nur die Weiten des Kosmos schwingen und klingen, auch in der Mikrowelt der Moleküle und Elementarteilchen ist alles in hochfrequenter Bewegung. Das, was wir als Materie erleben, löst sich, wenn man in die Mikro-Dimensionen geht, völlig in Schwingung auf. Was wir um uns herum sehen, ist eine Illusion von Dingen, die unablässig und hochfrequent vibrieren. »Die Welt ist Klang«, folgerte Berendt. Der Jazzkenner war überzeugt, dass Musik mit dem Sein des Weltganzen aufs Engste verwoben ist.

Warum berührt uns Musik? Weil sie verwandt ist mit dem Grund der Welt, weil sie mitschwingt im vielfältigen Rhythmus des Seins? Weil sie etwas davon hörbar macht und uns fühlen lässt, dass wir Teil dieses unglaublichen Weltganzen voller Wunder sind – dem unsere Ratio fast hilflos gegenübersteht?

»Es scheint, als würde hier ein Tor zu einer unsagbaren, wie zeitlos wirkenden geordneten Welt bestehen.« 

Zur Musik Johann Sebastian Bachs, den man auch »den fünften Evangelisten« genannt hat, bezeugen schon seit mehr als 200 Jahren die verschiedensten Menschen ein spezielles Angerührtsein von tieferen Dimensionen des Seelenlebens. Es scheint, als würde hier ein Tor zu einer unsagbaren, wie zeitlos wirkenden geordneten Welt bestehen. So als biete Bachs Musik eine besondere Quelle an innerer Ordnung und tiefem Trost, die von Generation zu Generation immer weiterwirkt und nie zu versiegen scheint.

Der niederländische Schriftsteller Maarten `t Hart berichtet in seinem Buch »Bach und ich« (München, 2005) mehrfach von seiner Bezauberung durch diese Musik, wie etwa über den Schlusschoral der Kantate BWV 147 (»Jesus bleibet meine Freude«, S. 110): »Wenn ich im trüben Nieselregen durch die Straßen ging, brauchte ich nur die Triolenketten leise zu pfeifen und dann wusste ich wieder: Das ist es, darum geht es, das ist das Schönste, was es gibt.«

Zur Motette von Bach »Singet dem Herrn ein neues Lied« schrieb der Philosoph und Musikwissenschaftler Albert Schweitzer Anfang des letzten Jahrhunderts (1908, zitiert bei Andreas Kruse: Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach, Heidelberg, 2014, S. 201): »Und wirklich versinkt beim Erklingen dieser Töne die Welt mit ihrer Unruhe, ihrer Sorge und ihrem Leid. Der Hörer ist allein mit Bach, der seine Seele mit dem wunderbaren Frieden, den er im Herzen trug, stille macht und ihn hinaushebt über alles, was war und ist und kommt.«

Johann Wolfgang von Goethe war von Kind an ein Suchender, der nicht nur glauben, sondern wissen und erkennen wollte. Von Natur aus war er eher »optisch begabt« – sich selbst hat er sogar einmal ganz drastisch als »gehörlos« bezeichnet. Trotzdem beschäftigte er sich intensiv mit Musik und erforschte sie. Als alter Mann kannte er sich viel besser aus als so mancher einfacher Musiker. Sein Freund Johann Heinrich Friedrich Schütz, Bürgermeister und Organist aus dem Weimar benachbarten Bad Berka, führte ihn an die polyphone Orgelkunst Johann Sebastian Bachs heran. Goethe schloss die Augen, um konzentrierter zuhören zu können. In einem Brief bekannte er zehn Jahre später (an Carl Friedrich Zelter, 17.7.1827, zitiert bei Dietlinde Küpper: Goethes Verhältnis zur Musik, Hamburg, 2019, S. 149): »Wohl erinnerte ich mich bei dieser Gelegenheit an den guten Organisten von Berka; denn dort war mir zuerst, bei vollkommener Gemütsruhe und ohne äußere Zerstreuung, ein Begriff von Eurem Großmeister geworden. Ich sprach mir’s aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegte sich’s auch in meinem Innern und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.«

Knapp zwei Jahrhunderte später schreibt der Publizist Thomas Zaugg: »Als erklänge eine mathematische Formel, ein unverrückbares Naturgesetz. Es ist, als wollte Bach mit seiner Musik Planetenbahnen beschreiben.« (zitiert bei Georg Schwikart, »Der Komponist / Wie Johann Sebastian Bach das Evangelium in Musik verwandelte«, Berlin, 2008, S. 21) Es wirkt, als wolle Zaugg – mit ganz anderen Worten – das Gleiche sagen wie Goethe. Ähnlich klingt auch der Komponist Hans Werner Henze: »Es ist, als ob Geometrie singen und tanzen gelernt hätte.« (zitiert bei Schwikart, S. 20) 

Musik artikuliert sich meistens durch einprägsame Melodien. Bach war nicht nur hier ein Meister, sondern auch in einem anderen schwierigen Fach, der Kunst der Polyphonie: Das heißt, mehrere Stimmen gleichzeitig ihren eigenen Drive und Duktus entwickeln zu lassen und dabei den Zusammenklang kreativ zu gestalten. In dieser Kunst blieb Bach ein Fixstern für alle nachfolgenden Komponisten- und Komponistinnengenerationen. Bach beherrschte – neben der starken Expressivität seiner Werke – die höchste Kunst der Mathematik der Töne.

Die Musikwissenschaftlerin Dorothea Schröder fasst es so zusammen: »Was wir an Bach bewundern, ist eine bis ins Letzte perfektionierte Beherrschung des kompositorischen Handwerks in Verbindung mit einer exzeptionellen, mehrdimensionalen musikalischen Vorstellungskraft. Was daraus entsteht, hat seinen Ort innerhalb der Grenzen eines Regelwerks, das die Definition von Kunst überhaupt erst ermöglicht. Im Zentrum des Ganzen steht der Kontrapunkt – die gesetzmäßige, logische und im Erklingen schöne Beziehung mehrerer Stimmen aufeinander. Welche Verknüpfungsmöglichkeiten dieses System bietet, erforschte Bach bis an dessen Grenzen. Dass ihm dabei nicht nur die planende Mathematik für die Lösung kontrapunktischer Aufgaben zur Verfügung stand, sondern auch die Fähigkeit, dabei hinreißende Musik zu schaffen, verdankte er einer kreativen Intelligenz, die man in ihrer Komplexität nur als ›Genie‹ bezeichnen kann.« (Dorothea Schröder, Johann Sebastian Bach, München, 2012, S. 120)

Die kosmische Ordnung

Was ist Genie? Aus welcher Quelle stammt solch umfassendes Wissen, das oft blitzartig im menschlichen Geist an Kontur gewinnt? Manche Künstlerinnen und Künstler fühlen deutlich, dass sie Inspirationen »empfangen«, als seien sie als Person für ihre Einfälle nicht wirklich verantwortlich.

Obwohl Bachs Musik auf geheime Weise kosmische Ordnungen zu spiegeln scheint, geht sie noch darüber hinaus: Sie dringt vor bis zum tiefsten Schmerz, den Menschen erfahren müssen. Über Bachs Leben und seinen Charakter wissen wir nicht viel, da nur wenige Briefe oder anderweitige Zeugnisse erhalten sind. Die wenigen Lebensdaten, die wir gesichert wissen, lassen aber den Schluss zu, dass er mit dem Gefühl kompletter Verzweiflung vertraut gewesen sein muss. So traf ihn als jungen Mann das Schicksal mit voller Wucht: Er kehrte von einer Arbeitsreise aus Karlsbad zurück – seine Ehefrau Maria Barbara war tot und bereits begraben. Das könnte neben dem Schock zusätzlich ein Auslöser für eine heftige Retraumatisierung gewesen sein, denn bereits als Neunjähriger hatte er im Abstand von wenigen Monaten erst die Mutter und dann den Vater verloren. Wir wissen nichts darüber, wie der 35-Jährige mit diesem brutalen Wendepunkt im Leben umgegangen ist. Um 1720 herum, in zeitlicher Nähe zum Tod seiner ersten Frau Maria Barbara – ob bereits vorher oder danach, das wissen wir nicht mit Sicherheit –, entstand ein Ausnahmewerk, das bis heute an Ausstrahlung nicht verloren hat: die Chaconne in d-moll für Violine solo, letzter Teil der Partita II in d-moll, BWV 1004.

Die Pianistin Hélène Grimaud übertrug die Chaconne für ihr Instrument und meinte über das Werk in einem Interview: »Sie gleicht der Architektur einer Kathedrale, die einzelnen Variationen sind wie Licht, das durch unterschiedlich getönte Glasfenster fällt. Wenn man sie spielt, hat man das Gefühl, mit seinen eigenen Schatten zu tanzen.« (www.violinorum.com)

Johannes Brahms sah in der Chaconne »tiefste Gedanken und gewaltigste Empfindungen«. Eine intensive Gespanntheit durchzieht das gesamte Stück, ein Gestus, als ginge es um alles. Der Geiger Yehudi Menuhin sprach von einem »Übermaß der Gefühle« und »der Tiefe der Gedanken, verkörpert in äußerster Ökonomie«. Abgründe von Verlorenheit und Qual scheinen mit versöhnlicher Erschöpfung zu wechseln, in der Arpeggiostelle geradezu in Glückseligkeit zu gipfeln, in ein transzendentes Verstehen, das sich in Licht und Schwerelosigkeit auflöst.

Der Geiger Maxim Vengerov hat in einem Kurzfilm zum Holocaust das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz abgeschritten, im Gehen die Chaconne spielend. Es gibt nur wenige Musikstücke, die an einem solchen Ort überhaupt erträglich ist: Bachs Chaconne ist dem Grauen gewachsen. Die Wirkung dieser Musik ist enorm: Sie vermittelt eine Ahnung von Versöhnung und Trost, kann Licht in Abgründe größter Verzweiflung bringen – weil sie sie kennt und weil sie auf unerklärliche Weise dabei helfen kann, Schmerz zu verarbeiten und zu überwinden.

Goethes Verhältnis zur Musik

Dass Bach gläubig war, davon können wir angesichts seiner umfassenden kirchlichen Tätigkeit ausgehen, auch die wenigen persönlichen Zeugnisse gehen in diese Richtung. Dass er Protestant war, dass er überhaupt Christ war, dass er gerne sonderbar verschlungene Texte komponierte, scheint hingegen nicht von Belang. Seine Botschaft ist tiefer, sie reicht in einen Raum, in dem die Notwendigkeit religionsgebundener Bekenntnisse sich auflöst. In einem Interview mit Peter Schlüer sagt Hélène Grimaud: »Ich glaube definitiv an etwas, das größer ist als wir … Wenn ich an Bachs Musik denke, dann habe ich das Gefühl, dass Gott Bach eine Menge schuldet. Ohne ihn wüssten viele Menschen nicht, dass Gott existiert.« (in »Klassik heute«, www.schlueer.com) Ein starkes Wort!

Einen Nachweis, dass es eine Gesetzmäßigkeit, eine Wechselwirkung von Musik mit dem Weltganzen, mit dem Sinn unseres Seins gibt, konnte ich hier nicht erbringen. Doch viele Menschen scheinen genau das stark zu empfinden und aus Musik und Kunst für ihr Leben Kraft und Vertrauen zu schöpfen. Sicher ist es nicht ein subjektives, rein zufälliges Gefühl, das viele teilen, wenn sie in Scharen zu Bachs »Weihnachtsoratorium«, zu Mozarts »Zauberflöte« oder zu Carl Orffs »Carmina Burana« strömen. In unserer Zeit denken wir, dass wir den Aberglauben hinter uns gelassen haben – dabei befinden wir uns zum Teil noch fest im Griff eines magischen Denkens, das besagt, dass nur existent sein könne, was sich beweisen lässt. Obwohl es erwiesenermaßen keine Materie gibt, feiert der Materialismus als Glaube immer noch fröhliche Urständ. »Ich glaube nur, was ich sehe« oder »Nach dem Tod ist auf jeden Fall alles aus« lauten immer noch wichtige Mantren des modernen Menschen.

Albert Einstein, der vor über hundert Jahren der Physik mit der Relativitätstheorie eine neue Wendung gab und dafür den Nobelpreis erhielt, ist sicher nicht der verträumten Schwärmerei verdächtig. Er, der hervorragend Geige spielte, soll hier das letzte Wort haben. In einem Interview mit dem Autor Peter A. Bucky meinte er: »Mozarts Musik ist so rein und so schön, dass ich sie als die innere Schönheit des Universums ansehe.« (Peter A. Bucky (in Collaboration with Allen Weakland): The Private Albert Einstein, Kansas City, 1992, S. 156)

Dietlinde Küpper

Zur Autorin

Nach Abschluss ihres Magisterstudiums in Germanistik und Musikwissenschaft arbeitete Dietlinde Küpper fünf Jahre in Italien als Lehrerin und Übersetzerin. Für den Bayerischen Rundfunk und die Deutsche Welle verfasste die Autorin u. a. Features über Mozart, Händel und zeitgenössische Musik sowie mehrere Essays über Richard Wagner. Sie veröffentlichte eine Studie über die amerikanische Sinfonikerin Gloria Coates.

Bildnachweis: © Adobe Photostock, Dietlinde Küpper

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