Dr. Elisabeth Loibl – Subsistenzwirtschaft im Matriarchat

Der freie Wille, die schöpferische Kraft und das gute Leben

Herrschaftssysteme und Geldfixiertheit drängen das eigentlich Elementare, nämlich das gute Leben selbst, unsere vielfältigen Beziehungen untereinander und die Wertschätzung von Mutter Erde, in den Hintergrund. Doch es stellt sich die Frage, wie eine andere Lebensweise erreicht und geführt werden kann. Forscherinnen zu matriarchalen Gesellschaften und Subsistenzwirtschaft liefern für die notwendige Transformation wertvolle Impulse und praktische Vorschläge. 

Mit diesem Beitrag verfolge ich die Absicht, mich eingehend damit auseinanderzusetzen, wie wir uns durch eine liebevolle, fürsorgliche und umsichtige Betrachtung der Menschen und der Welt aus der schwierigen Lage befreien können, in der wir uns derzeit befinden. Welche bisherige Sicht der Dinge wäre dafür aufzugeben? Welche unangenehmen Tatsachen sind zur Kenntnis zu nehmen? Wie können wir unser Denken, Fühlen und Handeln in Einklang bringen?

Ausgangspunkt ist die Frage, was wir in diesem Zusammenhang von matriarchalen Gesellschaftsformen lernen können, die auf Subsistenz, die Versorgung der Gemeinschaft ausgerichtet sind. Nach der Beschreibung, worum es im Subsistenzansatz und in der Matriarchatsforschung geht, wurde mir bewusst, ich würde die Frage lieber andersherum stellen. Meine These ist, wir Menschen sind für diese Art zu leben geschaffen. Was also ist mit uns passiert, wenn wir Lebensformen als antiquiert, heutzutage nicht mehr lebbar oder als rückständig erachten, die unserem Menschsein entsprechen? Die uns veranlassen würden, fürsorglich und im Einklang mit anderen und der Natur zu leben? Wie konnten wir in einen derart lebensfeindlichen, zerstörerischen und uns wesensfremden Lebensstil geraten? Und vor allem stelle ich mir die Frage, warum halten wir uns für ohnmächtig, die Zerstörung unserer Beziehungen und Lebensgrundlagen zu beenden? 

»Daher spreche ich von einem Dominanzsystem, in dem der freie Wille des Menschen keine oder nur wenig Beachtung findet,«

Ehe ich mich diesen Fragen zuwende, vorweg einige Begriffsbestimmungen, da wir Verhältnisse nur begreifen können, wenn wir fassbare Termini anwenden. Ich spreche ungern von Patriarchat, weil dies meines Erachtens eine reine Männerherrschaft voraussetzen würde. Meine Wahrnehmung ist jedoch, die meisten Männer werden ebenfalls durch die herrschenden Gegebenheiten benachteiligt, sie können ihr Potenzial ebenso wenig entfalten wie wir Frauen. Es gibt viele Frauen, die dieses System der gegenseitigen Unterdrückung ebenso mittragen und ihrerseits andere an der Selbstentfaltung hindern. Nicht selten achten gerade Frauen darauf, dass niemand sich eine Freiheit nimmt, von der sie aufgrund der verinnerlichten Vorschriften des Systems meinen, sie würde niemandem zustehen. Daher spreche ich von einem Dominanzsystem, in dem der freie Wille des Menschen keine oder nur wenig Beachtung findet, vielfach unterdrückt und dominiert wird. Dies geschieht nicht selten manipulativ durch Verschleierung der Tatsachen oder Verführung.

Ich spreche auch ungern von Matriarchat, weil meines Erachtens dieser Begriff eine Herrschaft der Mütter und Frauen suggeriert, auch wenn die Übersetzung »aus der Mutter geboren« oder »am Anfang die Mutter« bedeutet. Daher bezeichne ich diese Gesellschaftsform als egalitär. Darin wird keines der beiden Geschlechter benachteiligt oder als minderwertiger angesehen. Der Fokus liegt auf der gemeinsamen Gestaltung des Alltagslebens, die überwiegend auf die Subsistenz ausgerichtet ist. Subsistenz bezeichne ich als Versorgung.

Es heißt, wir bräuchten einen Paradigmenwechsel. Da ich dieses Wort nicht begreifen kann, habe ich es mit Weltbild übersetzt. Dieses ist ebenso wie das Menschenbild vielfach Resultat von Verschleierung und indoktrinierten Glaubenssätzen. Letzteres bedeutet, unter Beeinflussung etwas zu glauben, ohne es zu hinterfragen, weil die Familie, die Kolleg:innen, der Freundeskreis oder die Menschen im Dorf es als wahr ansehen. 

Die Subsistenzperspektive

Meinen ersten Eindruck von der Subsistenzperspektive erhielt ich durch einen Vortrag zum Thema »Die Zukunft der Arbeit und die Zukunft der Subsistenz« von Veronika Bennholdt-Thomsen im November 1997 an der Bundesanstalt für Bergbauernfragen in Wien.1Seit 1.1.2019 Bundesanstalt für Agrarwirtschaft und Bergbauernfragen. Davor hatte ich in meinem kollegialen Umfeld lediglich gehört, dieser Ansatz sei in Wissenschafts- und feministischen Kreisen sehr umstritten. Daher war ich erleichtert, als ich mehr durch meine Erinnerungen und mein Gefühl verstanden habe, worüber im Vortrag gesprochen wurde, denn ich war auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen. Veronika Bennholdt-Thomsen führte langjährige Forschungen mit den Bewohner.innen von Juchitán durch, einer auf Egalität beruhenden Stadtgemeinschaft mitten im männlich dominierten Mexiko, wie auch Maria Mies in Indien und Claudia von Werlhof in Costa Rica und Venezuela.
»Im Zentrum der Subsistenzperspektive steht die Versorgung mit allen notwendigen Produkten und Diensten für das tägliche Leben.«
Diese drei sind die Begründerinnen des Subsistenzansatzes. Im Zentrum der Subsistenzperspektive steht die Versorgung mit allen notwendigen Produkten und Diensten für das tägliche Leben. Im Gegensatz dazu geht es in der neoliberalen Marktwirtschaft um die Kommerzialisierung des Lebens und der Bodenschätze, den Erwerb von Geld und um Gewinnmaximierung. Die Verschiedenheit in ökonomischer Hinsicht wird ersichtlich durch die Frage: Geld oder Leben (vgl. Bennholdt-Thomsen 2010)? Nirgendwo zeigt sich diese grundlegende Unterscheidung deutlicher als in unserem Alltagsleben, das sehr stark geprägt wird durch eine Erwerbsarbeit, dadurch, sich gezwungen zu sehen, Geld zu verdienen. Daher würde Arbeit, so Veronika Bennholdt-Thomsen in ihrem Vortrag, lediglich auf die Erwerbsarbeit reduziert. Nur allzu leicht vergessen wir dabei, es gibt eine Reihe von Arbeiten, die für unser Leben notwendig sind, jedoch nicht in den Bereich des Geldverdienens fallen. Subsistenz-/Versorgungsarbeiten in Haushalt und Familie fallen meist dann auf, wenn sie nicht erledigt werden, denn sie gelten als selbstverständlich, solange der Haushalt, die familiäre Betreuung von Kindern, pflegebedürftigen und älteren Menschen erledigt wird. Wobei jene, die diese Arbeiten beinahe unsichtbar durchführen, meist Frauen sind. Regelmäßig ein Essen kochen, eine Jause richten, ein gemütliches Zuhause schaffen, sich die Sorgen und Probleme anderer anhören, jemandem einen freundschaftlichen oder elterlichen Rat geben, das sind keine Tätigkeiten, die »an die große Glocke gehängt werden«. All jene Arbeiten und gegenseitigen Dienste, auf die wir angewiesen sind, um uns wohl und körperlich wie auch seelisch genährt zu fühlen, werden seit dem 20. Jahrhundert mehr und mehr kommerzialisiert, von den Familien ausgelagert, weil Frauen wie Männer ihren Alltag vor allem damit verbringen, Geld zu verdienen.

Das war einer der Hauptangriffspunkte am Subsistenzansatz, auch als Ökofeminismus bezeichnet. Wenn Versorgungsarbeit in Haushalt und Familie, Mutterschaft und Kinderbetreuung als wichtiger Fokus im Alltagsleben angesehen werden, gibt es erfahrungsgemäß Widerstand seitens der Feministinnen, denn sie erachten all diese Arbeiten als rückschrittlich. Mutterschaft und die damit einhergehende Rollenverteilung wurde durch die Dominanzgesellschaft zu einer »Institution der Unterdrückung der Frau«, Kinder sind darin keine selbstbestimmte Aufgabe der Frauen mehr (Göttner-Abendroth 1998: 51f). Von vielen Frauen werden Kinder aufgrund der Mehrfachbelastung durch die Erwerbsarbeit eher als eine Bürde empfunden durch ein anspruchsvolles Berufsleben, den allenfalls vorhandenen Wunsch nach einer Karriere oder weil sie sich gesellschaftlichen Erwartungen fügen. Wer sich durch Kinderbetreuung verwirklichen will, soll heutzutage zur bezahlten Pädagogin ausgebildet werden. Hingegen wird »nur« unbezahlte Mutter und Hausfrau zu sein, von vielen als eine minderwertige Unterbeschäftigung angesehen. 

Eines Tages klagte mir eine Mutter ihr Leid. Offenbar hatte sie in ihrem Freundinnenkreis immer wieder Rechtfertigungsbedarf, da sie aufgrund der Betreuung ihrer zwei Kinder nicht berufstätig war. Wobei dieses Wort nicht passend erscheint in diesem Zusammenhang, denn sie fühlte sich ja zum Muttersein berufen. Sie meinte, sie habe nicht zwei Kinder in die Welt gesetzt, damit diese von anderen erzogen und von einem zum anderen hin- und hergeschoben werden. Das Unverständnis, das ihr offenbar mit großer Vehemenz entgegengebracht wurde, ließ sie verzweifeln und mich betroffen sein.

In diesem Zusammenhang stellen sich mir folgende Fragen: Weshalb wird der Entschluss einer Frau, Mutter und Hausfrau zu sein, in ihrem Umfeld oft nicht akzeptiert? Weshalb erscheint es vielen Frauen wichtiger, Geld zu verdienen, als mehr Zeit ihren Kindern zu widmen? Was sind die Beweggründe, weshalb der freie Wille der anderen oft missachtet wird, wie sie ihren Alltag gestalten wollen? Diese Fragen geben uns einen Hinweis auf unser Menschenbild.

Egalitäre Gesellschaftsformen oder Matriarchat

Meinen ersten Eindruck von der Matriarchatsforschung, deren maßgebliche Wegbereiterin Heide Göttner-Abendroth ist, erhielt ich ebenfalls durch einen Vortrag, und zwar von Iris Bubenik-Bauer über die Mosuo2Auch Moso geschrieben in Yang Erche Namu, Christine Mathieu 2005: Land der Töchter.in Südchina: »Frauenmacht ohne Herrschaft« im Kulturzentrum Amerlinghaus in Wien im Jahr 1998 (vgl. Heide Göttner-Abendroth, Iris Bubenik-Bauer 1998). Staunend hörte ich damals, dass Mosuo im Mutterclan zusammenleben und nicht heiraten, sondern eine Art Besuchsehe führen.

»Besonders befremdlich ist für sie der Umstand, dass in den westlichen Industrieländern eine sexuelle Beziehung die Basis für die ökonomischen Verhältnisse einer Familie darstellt.«

Besonders befremdlich ist für sie der Umstand, dass in den westlichen Industrieländern eine sexuelle Beziehung die Basis für die ökonomischen Verhältnisse einer Familie darstellt. In ihren Augen kommt und geht die Liebe wie die Jahreszeiten (Yang Erche Namu, Christine Mathieu 2005). Es ist nicht ungewöhnlich, wenn eine Frau Kinder mit mehreren Männern hat. Sobald ein Mädchen zur Frau wird, erhält sie ein »wenig Aufsehen erregendes Ritual« (Bubenik-Bauer 1998) und ihr eigenes Zimmer, in dem sie mit einem Mann zusammen sein kann. Empfängt sie ein Kind, wächst dieses im Clan heran. Kinderbetreuung gilt als leichte Tätigkeit, die von jenen übernommen wird, die älter als 40 Jahre alt sind. Generationskonflikte konnten im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung nicht wahrgenommen werden, vielmehr würden die Jugendlichen unter sich Streit austragen. Ein junger Mann wollte wegziehen, kam jedoch wieder zurück und bat seine Mutter, ein Stück Land bewirtschaften zu können. Für sie war es selbstverständlich, dass er sein Leben so einrichten konnte, wie er es wollte. Dies scheint ein wesentlicher Unterschied zu unserem Gesellschaftssystem zu sein. Hier wird erzählt, wie eine Mutter ihrem Sohn den freien Willen lässt, so zu leben, wie er will, und an dem Ort, den er sich aussucht. Ich führe den weniger vorhandenen Generationskonflikt auf diesen Umstand zurück. Da wir in den westlichen Industrienationen den freien Willen des Menschen im Verhältnis oft wenig respektieren, scheinen persönliche und gesellschaftliche Konflikte vorprogrammiert. 

Heide Göttner-Abendroth erforschte neben den Mosuo in Südchina weitere matriarchale Kulturen wie die Khasi in Nordindien, die Hopi und Irokesen in Nordamerika und den Stamm der Tuareg in Nordafrika. In ihrem Buch Matriarchat I behandelt sie Stammesgesellschaften in Ostasien, Indonesien und Ozeanien, in Matriarchat II Stammesgesellschaften in Amerika, Indien und Afrika. Im Folgenden eine kurze Darstellung, was nach Heide Göttner-Abendroth (1998: 45) matriarchale Gesellschaftsformen kennzeichnet.

Die ökonomischen Merkmale sind Garten- und Ackerbaugesellschaften. Land und Haus befinden sich im Sippenbesitz, es gibt kein Privateigentum. Die Frauen haben die Verfügungsmacht über die Nahrungsgrundlagen. Es gibt einen ständigen ausgleichenden Austausch an lebensnotwendigen Gütern. Daher spricht Göttner-Abendroth von Ausgleichsgesellschaften. 

Die sozialen Merkmale sind Matrilinearität und Matrilokalität, das bedeutet, das Land wird an die Töchter weitergegeben und Kinder, Jugendliche und Erwachsene beider Geschlechter leben im Clan der Mutter. Männliche Bezugspersonen für die Kinder sind die Brüder der Mutter, die biologischen Väter leben entweder im Clan ihrer Mütter oder sind als Händler unterwegs. Es gibt Besuchsehen zwischen den Sippen. Göttner-Abendroth spricht von Verwandtschaftsgesellschaften.

Das politische Merkmal ist Konsensbildung sowohl im Sippenhaus als auch auf Dorf- und Stammesebene über ein Delegiertenwesen. Die Delegierten sind dabei lediglich Kommunikations-, jedoch keine Entscheidungsträger. Darüber hinaus fehlen Klassen und Herrschaftsstrukturen. Heide Göttner-Abendroth erzählt in einem Interview3https://www.youtube.com/watch?v=5d8bceMM_iE, Heide Göttner Abendroth: Philosophie im Gespräch Teil I, 1.3.2014 (25. Mai 2021)., im Gegensatz zu den Gepflogenheiten hierzulande sei es den Menschen in Konsensgesellschaften nicht wichtig, den eigenen Willen durchzusetzen. Vielmehr gehe es ihnen darum, eine konstruktive Lösung zu finden, die aus den gegensätzlichen Vorschlägen gebildet wird und mit der zumindest alle leben können. 
»In weltanschaulicher Hinsicht handelt es sich um sakrale Gesellschaften, in denen es keine Trennung zwischen Alltag und spirituellen Handlungen gibt.«
In weltanschaulicher Hinsicht handelt es sich um sakrale Gesellschaften, in denen es keine Trennung zwischen Alltag und spirituellen Handlungen gibt. Wunderbar gezeigt wird dies anhand der Dokumentation »Das Tal der Frauen«4https://www.srf.ch/play/tv/kultur-extras/video/bhutan—das-tal-der-frauen-dok-15-9-94?urn=urn:srf:video:2e062236-afd7-4148-8f7c-7a274b827e21 (25. Mai 2021) https://www.mariannepletscher.ch/pagina.php?0,2,10,33, (25. Mai 2021)., worin die Bäuerin Dorje Dölma in Bhutan betet, während sie Milch zur Käsezubereitung rührt. Die Menschen glauben an Wiedergeburt, Enkel bedeutet kleiner Ahn, da davon ausgegangen wird, die Verstorbenen inkarnieren sich wieder in dieselbe Sippe. So werden sowohl die Vorfahren als auch die Kinder mit liebevollem Respekt behandelt. Auch dies scheint ein wichtiger Aspekt zur Vermeidung von Generationskonflikten zu sein.
»Der wichtigste Weg im Leben ist der, das wahre Menschsein zu entdecken.«5Lakota-Medizinmann Strampelnder Vogel in »Der mit dem Wolf tanzt« von Kevin Costner (US 1990). Eine grundlegende Frage ist, wie wird unsere Welt organisiert, vor allem die menschen- und lebensfeindliche Seite unserer Gesellschaft? Welche Strukturen weist sie auf und wodurch werden diese wirksam? Die Kommerzialisierung allen Lebens, der Materialismus, die Reduktion der Erde auf die Rolle einer Rohstofflieferantin wie auch des Menschen auf seine Arbeitskraft sind für mich Folgen der bedauernswerten Zustände, nicht jedoch deren Ursachen.  Wer jemals eine Krise durchlebt hat, weiß, wie wichtig es ist, die Tatsachen anzuerkennen, die in die Misere geführt haben. Doch nehme ich in dieser Angelegenheit weitgehend eine Verdrängung wahr. Franz Ruppert (2018) geht davon aus, dass Traumaerfahrungen kein Einzelschicksal, sondern wir als Gesellschaft traumatisiert sind. Können Traumatisierungen und die damit einhergehende kollektive Amnesie Erklärungen für menschliches Fehlverhalten liefern, das uns in jene soziale und ökologische Krise geführt hat, wie wir sie derzeit erleben? Es ist verständlich, wenn Menschen nach Kriegen und Katastrophen die schrecklichen Erlebnisse meist so schnell wie möglich wieder vergessen und zur Normalität zurückkehren wollen. Dies ist ein natürlicher Verdrängungsmechanismus einer traumatisierten Psyche. Doch zahlen Menschen dafür einen sehr hohen Preis, denn sie verdrängen nicht nur große Teile ihres Lebens und des Lebens ihrer Vorfahren, sie leben auch in tiefer Unwissenheit, wodurch sie wiederum leicht manipulierbar sind (Raik Garve 2018–2021).  Können die kollektive Amnesie und die damit einhergehende Manipulierbarkeit Gründe dafür sein, warum wir aufgehört haben, den freien Willen und individuelle Ansichten zu respektieren? Rudolf Steiner (1916) sah letzteres bereits vor 100 Jahren für den Beginn des 21. Jahrhunderts voraus: »Es werden Gesetze erlassen werden, auf denen nicht direkt stehen wird, das Denken ist verboten, aber die die Wirkung haben werden, dass alles individuelle Denken ausgeschaltet wird.«  Unser Bildungssystem wie auch die Massenmedien leiten nicht dazu an, eigenständig oder kreativ zu denken. Auf gesellschaftlicher Ebene lässt sich beobachten, wie schwer sich viele damit tun, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Warum können Menschen nicht so handeln, wie sie gerne wollten oder voneinander erwarten würden? Dies ist letztlich darauf zurückzuführen, dass wir kaum gelernt haben, unser Gehirn derart einzusetzen, damit wir unser Denken und Fühlen miteinander verbinden und daraus die entsprechenden Handlungsschritte ableiten und durchführen (Passio 2013). Der Spruch »Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen« ist ein gutes Beispiel dafür, nicht gelernt zu haben, die Begabung zur Vernunft entsprechend einzusetzen. Was hindert uns daran? Liegt eine der maßgeblichen Ursachen darin, dass wir uns aufgrund der kollektiven Traumatisierung in einer Art Überlebensmodus befinden, der uns daran hindert, unser Leben nach unseren Begabungen und Fähigkeiten zu gestalten, wie Bessel van der Kolk (2015) in seinem Buch »Verkörperter Schrecken« ausführt?
»Fürsorge und schöpferisch tätig sein – zentrale Anliegen unseres Menschseins – geraten dabei sowohl für Frauen als auch für Männer unter die Räder.«
Darüber hinaus wird der Mensch in einer auf Dominanz beruhenden Kultur immerzu in seiner Entfaltung unterdrückt und durch ein System der »Geldfixiertheit« (E. Loibl 2014) davon abgelenkt, das eigene Leben und das der Lieben ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Fürsorge und schöpferisch tätig sein – zentrale Anliegen unseres Menschseins – geraten dabei sowohl für Frauen als auch für Männer unter die Räder. Daher lautet eine zentrale Frage für mich nicht, wer ist Täter und wer Opfer (wie im Feminismus Männer generell Täter und Frauen generell Opfer zu sein scheinen). Eine wesentliche Frage lautet vielmehr: Wie können wir aus der herrschenden Täter.innen-Opfer-Dynamik aussteigen? Und während wir dabei sind, dies herauszufinden, stellt sich vor allem die Frage: Warum ist uns oft wichtiger, recht zu haben, als durch unser vereintes Wissen neue Erkenntnisse zu gewinnen oder gemeinsame Lösungen zu finden? Dafür wäre es gewiss hilfreich, uns vorerst einen stabilen Selbstwert zu erarbeiten und ein liebevolles Menschenbild zu entwickeln. Haben wir eine Art Hölle hier auf Erden geschaffen, einerseits durch Traumatisierungen, andererseits weil wir verführbar sind zum Materialismus, zu Eitelkeiten und weil wir Macht über andere ausüben wollen? Und doch haben wir eine Erinnerung daran, wer wir Menschen wirklich sind und wie wir leben wollen. Heide Göttner-Abendroth berichtet in einem Interview6https://www.youtube.com/watch?v=5d8bceMM_iE Heide Göttner Abendroth: Philosophie im Gespräch Teil I, 1.3.2014., ihre ersten Vorträge über matriarchale Gesellschaftsformen wurden von vielen Menschen besucht, die sich danach sehnten, von der ursprünglichen Form eines für Menschen angemessenen Zusammenlebens zu hören. Als ich begann, mich mit der Subsistenzperspektive auseinanderzusetzen, begegnete mir teils harsche Kritik. Irgendwann fand ich heraus, die Herabwürdigungen dieses Ansatzes könnten in einer schmerzhaften Sehnsucht begründet sein nach einem Leben ausgerichtet auf Eigenversorgung, auf Gemeinschaft, auf das Wohl und eine gesunde Entwicklung derer, die uns am Herzen liegen. Wie würde ein Alltag aussehen, in dem ausschließlich wirklich notwendige Aktivitäten erforderlich wären und der genügend Spielraum lassen würde, das zu tun, was uns Freude bereitet, oder einfach nur zu sein (ohne etwas tun zu müssen)?  Wir können uns die Frage stellen, machen wir dieses Leben hier auf Erden zu einer Hölle, weil wir weder unseren Impulsen noch unseren Begabungen folgen, die uns anleiten würden, unser Potenzial zu entfalten und selbstbestimmt zu leben? Was würde passieren, wenn wir eine Art Leben gestalten, das unseren Anlagen gerecht wird, wir dadurch Erfüllung finden, weil wir soziale Resonanz, fürsorgliches Verhalten und gegenseitigen Dienst aneinander erleben?  Ein möglicher Weg dahin, einander auf Augenhöhe zu begegnen und Entscheidungen im Konsens zu treffen, ist es, diese alten egalitären und subsistenzorientierten Kulturen zu betrachten und bereit zu sein, Qualitäten ihrer Art, das tägliche Leben zu gestalten, zu übernehmen. Dazu wäre es in erster Linie erforderlich, das Leben wieder ins Zentrum unseres Interesses zu rücken, damit sich Alltagsverhältnisse ändern können. Doch scheint es bis dahin noch ein weiter Weg zu sein, der zu einem Canossagang werden kann, wenn wir unsere Verantwortung herausfinden, durch die wir dazu beigetragen haben, eine lebensfeindliche Kultur aufzubauen, wegzusehen und bestimmte Dinge in unserer Wahrnehmung nicht zugelassen zu haben. Eine der zentralen Ursachen für unser zerstörerisches Handeln sehe ich in unserem Finanzsystem, einem Schuldgeldsystem, meines Erachtens die Hauptursache für unsere Geldfixiertheit. Rudolf Steiner regte bereits vor hundert Jahren an, den Materialismus zu überwinden. Denn solange der Fokus auf das Geldverdienen gerichtet bleibt, wird jede Art von Beziehung beeinträchtigt oder gar zerstört, jene zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Natur.7Für vertiefte Betrachtungen, wie sehr das derzeit herrschende Schuldgeldsystem zur Zerstörung der menschlichen Kultur führt, empfehle ich den Vortrag »Wie das bisherige Geldsystem unser aller Leben ruiniert hat« von Raik Garve: https://www.youtube.com/watch?v=m0fVvDA_QaM:, erstellt am 24.7.2020 (3.7.2021). Nicht zuletzt verursacht das Schuldgeldsystem durch Zinsen ein weit verbreitetes Mangel- wie auch Konkurrenzdenken.

Ausblick

Um dies zu überwinden, wäre es vorerst erforderlich, das Fiat Money abzuschaffen, das bedeutet, wieder eine goldgedeckte Währung einzuführen und Geld auf die Funktion eines Tauschmittels zu beschränken. Wird die Geldschöpfung nicht länger privaten Bankkartellen überlassen, können diese durch die Festlegung der Leitzinssätze keine Wirtschaftskrisen oder -aufschwünge mehr inszenieren. 

Was die Ökonomie betrifft, so wäre eine wesentliche Voraussetzung für eine Veränderung das Vorbild der Schenkökonomie, begründet von Genevieve Vaughan (2009). Im Tauschhandel geht es darum, zu überlegen, was habe ich und kann getauscht werden, um dies oder jenes zu bekommen. Das ist heutzutage meist das Geld. Im Unterschied dazu geht es beim Schenken darum, das, was in Fülle vorhanden ist, jenen zu geben, die es brauchen. Wenn ein Kind von klein auf alles bekommt, was es zum Leben braucht, wird es ebenso großzügig das weitergeben, was es im Überfluss hat. Doch gibt es in unserem Kulturkreis sehr viele bedürftige Eltern. Daher wachsen Kinder oft damit auf, andere, auch Erwachsene zu versorgen. Sie tun dies aus Liebe, auch wenn sie dadurch wiederum bedürftige Eltern werden.

Hier zeigt sich, dass die Ökonomie weder von menschlichen Bedürfnissen noch von gesellschaftlichen und ökologischen Systemen zu trennen ist. Das herrschende Finanzsystem, das ein ständiges Wirtschaftswachstum und dadurch Naturzerstörung erfordert, hält alle drei Systeme in einem unheilvollen Ungleichgewicht. Also gilt auch hier, das Übel von der Wurzelher zu tilgen. Dadurch wird großzügiges Verhalten wieder möglich, das auf einfache Art das Leben erleichtert und Freude bereitet.

In der mexikanischen Stadt Juchitán gibt es seit jeher die Tradition, anfallende Überschüsse in Form von gemeinsamen Festen zu verjubeln. Jahraus jahrein wird fast jeden Tag ein kleineres oder größeres Nachbarschaftsfest gefeiert. Dadurch wird das verhindert, was hierzulande als Kapitalakkumulation bekannt ist. Die dafür erhobene »Limosna«, eine den Einkommensverhältnissen entsprechende Geldspende für die Veranstalter.innen des Festes, trägt zu einer Umverteilung des Geldes bei. Die Menschen bringen außerdem Getränke und Essbares mit (vgl. Bennholdt-Thomsen 1994). Auch in Österreich war es in bäuerlichen Gesellschaften bis in die 1960er-Jahre üblich, mehrere Tage unter der Woche »in die Feier« zu gehen. Dazu haben die Menschen aus der Nachbarschaft regelmäßig ausgemacht, wo sie sich am nächsten »Feierabend« treffen werden, und etwas zum gemeinsamen Verzehr oder Getränke mitgebracht (Erzählungen meiner Mutter Paula Loibl). Wie wohltuend gemeinsame Abende früher waren, zeigt ein Zitat im Bildband über Bergbäuerinnen »Frauen Women« von Erika und Irmtraud Hubatschek (2017: 116): »Zurückwünschen kann man sich ja nichts. Aber wenn man es könnte, dann wäre wohl so ein Abend ganz schön, wie sie früher gewesen sind.« Hier dienten die Feiern weniger dem Verprassen der Überschüsse, als vielmehr dem Bedürfnis, soziale Kontakte zu pflegen. Durch gemeinsames Feiern wird ein wesentlicher Aspekt unseres Menschseins gelebt.

Wenn wir die Geschichte unserer Vorfahren neu entdecken, werden wir herausfinden, welch großartige Menschen sie waren, ganz anders als die herkömmliche Geschichtsschreibung uns weismachen will (Raik Garve 2018–2021). Wenn wir damit beginnen, so zu leben, wie wir als schöpferische Wesen veranlagt sind, wird dies dazu beitragen, unser Menschenbild und dadurch unser Verhalten zu ändern. Wichtig wird es sein, das leidvolle und oft demütigende Schicksal unserer Vorfahren zu würdigen. Wenn wir sie um ihren Segen bitten, werden wir uns der Gestaltbarkeit und der Verantwortung bewusst werden, um diesen Planeten in ein Paradies zu verwandeln. 

Zur Autorin

Elisabeth Loibl, *1963, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft und Bergbauernfragen, Absolventin und 2012 bis 2019 Lektorin der Universität für Bodenkultur, seit Ende der 1990er-Jahre Subsistenzperspektive und Matriarchatsforschung. Autorin von: Das Brot der Zuversicht (2003), Tiefenökologie. Eine liebevolle Sicht auf die Erde (2014). 

Literatur

Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies 1997: Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive. Frauenoffensive München

Veronika Bennholdt-Thomsen 1997: »Die Zukunft der Arbeit und die Zukunft der Subsistenz«. Vortrag am 4. November 1997 an der Bundesanstalt für Bergbauernfragen Wien

Veronika Bennholdt-Thomsen (Hg.) 1994: Juchitán – Stadt der Frauen. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg 

Veronika Bennholdt-Thomsen 2010: Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht. oekom verlag München

Iris Bubenik-Bauer 1998: Ausstellung über die Mosuo und Vortrag »Frauenmacht ohne Herrschaft« im Kulturzentrum Amerlinghaus Wien 

Yang Erche Namu, Christine Mathieu 2005: Das Land der Töchter. Eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den Frauen gehört. Ullstein Verlag Berlin (Original erschienen 2003: Leaving Mother Lake. A Girlhood at the Edge of the World. Little, Brown and Company New York)

Raik Garve 2020: Wie das bisherige Geldsystem unser aller Leben ruiniert hat, Vortrag vom 24.7.2020, https://www.youtube.com/watch?v=m0fVvDA_QaM (3.7.2021)

Raik Garve 2018–2021: https://verborgene-weltgeschichte.de/webinar-anmeldung-2/ Verborgene Weltgeschichte (3.7.2021)

Heide Göttner-Abendroth, Iris Bubenik-Bauer 1998: Matriarchat in Südchina. Eine Forschungsreise zu den Mosuo. Kohlhammer Verlag Stuttgart 

Heide Göttner-Abendroth 1998: Für Brigida – Göttin der Inspiration. Neun patriarchatskritische Essays und Thesen zum Matriarchat 

Heide Göttner-Abendroth 1991/1999 und 2000: Matriarchat I – Stammesgesellschaften in Ostasien, Indonesien und Ozeanien. Matriarchat II – Stammesgesellschaften in Amerika, Indien und Afrika. Kohlhammer Verlag Stuttgart 

Heide Göttner-Abendroth: Philosophie im Gespräch Teil I, 1.3.2014 https://www.youtube.com/watch?v=5d8bceMM_iE (12. Mai 2021)

Heide Göttner-Abendroth: Philosophie im Gespräch Teil II, 1.3.2014 https://www.youtube.com/watch?v=ZqM2XiCQJEM (12. Mai 2021)

Erika und Irmtraud Hubatschek 2017: Frauen Women. Edition Hubatschek Innsbruck

Kevin Costner 1990: Der mit dem Wolf tanzt. Verfilmung des gleichnamigen Romans von Michael Blake. Produktionsländer: USA und UK

Elisabeth Loibl 2014: Tiefenökologie. Eine liebevolle Sicht auf die Erde. oekom verlag München

Mark Passio 2013: https://www.youtube.com/watch?v=TNEV8u7xgsY Natural Laws Seminar, October 19th, 2013 @ The Yale Omni College Ballroom

Franz Ruppert 2018: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Wie Täter-Opfer-Dynamiken unser Leben bestimmen und wie wir uns daraus befreien. Klett-Cotta Stuttgart

Rudolf Steiner 1916: Über Denkverbote. https://www.youtube.com/watch?v=SWW0bGwJk5M (8.6.2021)

Bessel van der Kolk 2015: Verkörperter Schrecken. Traumaspuren im Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. G. P. Probst Verlag Lichtenau Westfalen

Genevieve Vaughan 2009: Gift-Economy, Vortrag und Workshop im Rahmen der Veranstaltung Subsistenzperspektive – Matriarchat – Schenkökonomie: Alternative Lebens- und Wirtschaftsformen. Veranstaltung vom 8. bis 10. Mai 2009 an der Universität für Bodenkultur Wien

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