Sieben sagenhafte Kultorte in Deutschland

Dr. phil. Thomas Höffgen – Wotansberge und Hollehöhlen

Sieben sagenhafte Kultorte in Deutschland

Heilige Berge und heilige Höhlen kennen wir aus den verschiedensten Traditionen. Dass wir eben solche sagenumwobenen Berge und Höhlen auch in Deutschland, sozusagen vor der eigenen Haustür haben, daran denken wir selten. Diese Kultstätten der Germanen und Kelten lassen sich auch heute noch besuchen.

Heilige Berge, heilige Höhlen

Überall auf der Welt gibt es heilige Berge – man denke an den Kailash in Tibet, den Kilimandscharo in Tansania oder den Uluru in Australien. In Europa sind solche Berge vor allem aus der griechischen Antike bekannt, etwa der Olymp, auf dem die zwölf hellenischen Hauptgötter residieren, oder der Parnass, an dessen Fuße sich das Orakel von Delphi befindet. Solche Orte wurden seit jeher als Wohnstätten der Götter wahrgenommen. Dasselbe gilt freilich auch für heilige Höhlen, die zum Teil seit Jahrzehntausenden von Menschen aus kultisch-religiösen Gründen aufgesucht werden und die sich naturgemäß sehr häufig in heiligen Bergen befinden. Auch diese Orte gelten als Behausungen von Gottheiten und Geistern. Zeus zum Beispiel soll in einer Höhle des Kretischen Idagebirges geboren worden sein, und auf halber Höhe des Parnass befindet sich die heilige Höhle des Pan und der Nymphen (Korykische Grotte).

Weniger bekannt ist, dass es auch in Deutschland solche Götterberge und Göttergrotten gibt: Einige waren einstmals den Germanen oder Kelten heilig, manche wurden bereits von bronzezeitlichen Bauern besiedelt und von steinzeitlichen Gruppen besucht. Heute sind diese Orte vielfach völlig in Vergessenheit geraten, wenn nicht in Verruf, oder auch zu Hotspots der Touristik ausgebaut. Doch in alten Überlieferungen, Sagen oder Märchen, hat sich ihre naturmagische Bedeutung bis in die Gegenwart erhalten. Schon die Namen vieler dieser Orte erinnern uns noch heute an die alten Götter, in Sonderheit gewiss die Wotanberge und die Hollehöhlen, oder auch Holleberge und Wotanhöhlen, die im Folgenden eine besondere Rolle spielen sollen: Bereits die Brüder Grimm wussten, dass Wotan (altnord. Odin) und Holle (altnord. Frigg) die Hauptgötter der Germanen waren – daher ist es nur naheliegend, dass den beiden viele Kultorte geweiht waren.

»Bei den vorchristlichen Völkern waren es vor allem Frauen, die den Götterdienst ausübten.«

Ob die sieben sagenhaften Berge und Höhlen, die hier besprochen werden, tatsächlich allesamt auf uralte Götterstätten zurückgehen, lässt sich heute nicht mehr abschließend beurteilen: Viele Sagen wurden erst in der Neuzeit aufgeschrieben; wie lange sie vorher mündlich tradiert wurden, ist unbekannt. Die meisten modernen Sagenforscher gehen davon aus, dass es sich eher um jüngere Geschichten handelt. Für die romantischen Gelehrten, die Gebrüder Grimm, aber auch beispielsweise Heinrich Heine oder Ludwig Bechstein, bestand gleichwohl kein Zweifel, dass zumindest einige dieser volkstümlichen Überlieferungen bereits vorzeiten von Bedeutung waren und mit sehr alten Mythen und Riten in Beziehung stehen. Mit diesen letztgenannten Leuten wollen wir uns nun auf eine romantische Reise zu sieben sagenumwobenen Höhlenbergen und Bergeshöhlen begeben, gleichsam auf eine wahre Märchenfahrt in eine Zeit, die »einmal war«.

Das Siebengebirge und die Drachenhöhle

»Hinter den sieben Bergen«, lautet eine typische Ortsangabe im Märchen. Manche vermuten, dass diese Formulierung auf das mittelrheinische Siebengebirge anspielt, das schon vor mindestens 14.000 Jahren von Menschen aufgesucht (Doppelgrab von Oberkassel) und spätestens im ersten vorchristlichen Jahrhundert von Kelten besiedelt wurde (Kultanlage auf dem Petersberg). Im Mittelalter weihten die umliegenden Germanenstämme das Gebirge ihren Göttern, etwa die Ubier, deren Stammsitz sich bei der heutigen Stadt Bad Godesberg befand: Laut alter Urkunde hieß dieser Ort im Jahre 722 noch »Woudensberg«.

Der berühmteste der sieben Berge ist der Drachenfels, auf dem sich die romantische Ruine der Burg Drachenfels befindet. Der Dichter Heinrich Heine besuchte diesen magischen Ort im Jahre 1830 und verbrachte eine gespenstische Nacht dort oben: »Wir sahn den Burggeist auf dem Turme lauern, / Viel dunkle Ritterscharen uns umschauern. / Viel Nebelfraun bei uns vorüberfliegen« (Die Nacht auf dem Drachenfels). Auf der Südseite des Gipfels gibt es eine Höhle, die »Drachenloch« genannt wird. Seit Jahrhunderten erzählt man sich Sagenhaftes von diesem Ort: »In dieser Höhle soll der Drache gewohnt haben, der dem Berg den Namen gab. Man sagt ferner, daß der Drache im Inneren des Berges gewaltige Schätze aufgespeichert habe. Ein junger Bursche von Königswinter stieg einst zu nächtlicher Zeit durch die Weinberge nach der Höhle hinauf, um dort oben den Drachenschatz zu heben. Er kehrte am nächsten Morgen mit gebleichtem Haar, doch ohne Schatz, wieder zu den Seinen zurück; aber in seinem ganzen Leben war kein Wort aus ihm herauszubringen davon, was er in jener Nacht in der Höhle erlebt hatte« (Zaunert, Paul: Rheinlandsagen).

Sieben sagenhafte Kultorte in Deutschland

Im Siebengebirge: Die Drachenburg (links) und die Ruine Drachenfels (rechts)

»Drachenfels« und »Drachenloch« scheinen im Besonderen mit der germanischen Heldensage in Zusammenhang zu stehen, wie sie das Nibelungenlied und die altnordische Edda überliefern. Denn dies könnte der Ort gewesen sein, an dem der junge Siegfried aus Xanten (Sigurd) einstmals den Drachen tötete: Angeblich fand der Drachenkampf in dieser Drachenhöhle statt, in der Grotte sammelte sich das Drachenblut, in dem Siegfried badete, um unverwundbar zu werden. Zwar wurde immer wieder der Verdacht geäußert, dass sich hinter dem sagenhaften Siegfried in Wirklichkeit der historische Cherusker Arminius verbirgt (»Hermann«), der im Jahre 9 die überlegenen römischen Legionen des Varus besiegte (»Drachenkampf«). Jedoch scheint es sich beim Drachenkampf um einen Topos zu handeln, der in der germanischen Sagenwelt mehrfach auftaucht: Thor tritt gegen die Midgardschlange an (Edda), Beowulf kämpft gegen einen Höhlendrachen (Beowulf), Woden besiegt den tödlichen Lindwurm (Neunkräuterzauber). Für die Brüder Grimm ist Siegfried daher schlichtweg eine weitere der vielen Erscheinungsformen des Gottes Wotan (Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie).

Der Osning und die Hexenhöhlen

Der Gebirgszug des Teutoburger Waldes wurde früher »Osning« genannt, wobei »ôs« die »sächs. Form für ans« ist und »einen Gott, aber auch Berg« bezeichnet (Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie). Auffälligerweise wird die Lippequelle, die hier entspringt, auch »Odins Auge« genannt, offenbar in Anspielung auf die germanische Göttersage, nach der Wotan sein Auge opfert, um aus der Quelle der Weisheit zu trinken (Edda). Handelt es sich beim Osning also um einen Götterberg beziehungsweise Odinsberg?

»In vorchristlicher Zeit galt die Rhön wohl als ein Wohnsitz der Frau Holle.«

Bei den vorchristlichen Völkern waren es vor allem Frauen, die den Götterdienst ausübten, Zauberinnen und Seherinnen im Gefolge der Frau Holle, die sich zu ihren Weissagungen in Höhlen zurückzogen. Solche Höhlen gibt es auch im Teutoburger Wald, etwa die »Getrudskammer« bei Willebadessen: »In jenen Tagen, als unsere Vorfahren, die Sachsen, noch keine Christen waren und ihren Göttern – insbesondere Wodan – opferten, lebte in einer Höhle bei der Karlsschanze die Drude, von ihren Hunden bewacht. Sie war eine weise, heilkundige Frau, die an den Opfertagen auch das Priesteramt ausübte« (Schweins, Hubert: Der Kreis Warburg in Wort und Bild). Die Höhle wird auch »Drudenhöhle« genannt, wobei »Drude« einen weiblichen Naturgeist oder Alb bezeichnet, aber auch eine zauberkundige Frau beziehungsweise Hexe (das Pentagramm wird auch »Drudenfuß« genannt).

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Markante Felsformation: Die Externsteine im Teutoburger Wald

Ein ausdrücklicher Hexenberg im Osning ist der Huckberg bei Bevergern. Dort gibt es eine »Hexenhöhle« (in der die Huckberghexe wohne) und auch einen »Hexenteich« (womöglich ein Hinweis auf ein altes Opfermoor). Überhaupt gilt dieser ganze Berg als ein Versammlungsort der Hexen: »Nicht nur auf den Bergen im Harz trafen sich in der Nacht zum 1. Mai die Hexen, sondern auch auf den Höhen des Teutoburger Waldes. Die Bevergerner glaubten fest daran, daß es in der Walpurgisnacht um Mitternacht ein Hexentreffen auf dem nahen Huckberge gab« (Hunsche, Friedrich Ernst: Sagen und Geschichten aus dem Tecklenburger Land).

Der Brocken und die Bielshöhle

Der Brocken im Harz ist wohl weniger als Götterberg berühmt, sondern vor allem als Teufelsberg verschrien. Das liegt aber daran, dass dieser Ort seit der Christianisierung im Mittelalter von den Missionaren ganz bewusst verteufelt wurde, und zwar genau aufgrund der Tatsache, dass er für die vorchristlichen Völker von so großer Bedeutung war (Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie). Ältere Forscher vermuten sogar, dass auf dem Gipfel des Brockens einstmals ein steinerner Altar zu Ehren Wotans stand: »Auf der Teufelskanzel soll der Sage nach das verehrte Götzenbild gestanden haben. Auf dem geräumigen Hexentanzplatze hingegen wurde der Opfertanz, mit Feuerbränden vom Altar in der Hand, gehalten. Diese heidnischen Feste blieben noch lange in der Zeit Karls des Großen bestehen. Die spätere Zeit stellte diese Opferzüge als Hexenzüge dar, und da die Christen den Götzendienst einen Teufelsdienst nannten, so entstanden die mancherlei Sagen vom Brocken« (Schumann, Johann Christoph Gottlob: Die Missionsgeschichte der Harzgebiete).

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Für die vorchristlichen Völker von besonderer Bedeutung: Der Brocken im Harz

Nicht unwahrscheinlich, dass in heidnischer Zeit der ganze bewaldete Harz eine Art heiliger Hain war mit heiligen Hügeln und heiligen Höhlen. Jedenfalls wurden in der gesamten Gegend viele verschiedene Lokalgottheiten verehrt, zum Beispiel Biel: Dieser »Götze der alten Sachsen und Thüringer« wurde besonders in der Bielshöhle verehrt, die sich in der Bielshöhe befindet; man habe sogar »ein Bild dieses Gottes darin« gefunden (Vollmer, Wilhelm: Lexikon der Mythologie). Während seiner Harzreise besuchte auch Heinrich Heine diese sagenumwobene Höhle, die »eigentlich aus einer Verbindung von fünfzehn Höhlen« besteht, und bewunderte vor allem den gespenstischen Tropfstein: »Dieser hat an allen Ecken die abenteuerlichsten Gestalten hervorgebracht. Die interessanteste ist ›die betende Nonne‹. Wirklich es sieht aus als ob diese von Bildhauerhand reliefartig in den Stein gemeißelt worden« (Reisebilder).

»Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Zeit und Welt, in der das Naturmagische und Numinose noch real war.«

Aber auch für den alten Heiden Goethe war der Brocken ein heiliger Ort. Mehrmals bereiste er den Harz persönlich, besuchte nicht nur Bergwerke und Gruben, sondern bestieg auch selbst den Brocken als ein religiöser Pilger. Zum ersten Mal im tiefsten Winter 1777, woraufhin er abends noch in einem Brief an Frau von Stein schrieb, dass er oben »auf dem Teufels Altar meinem Gott den liebsten Dank geopfert« habe (10.12.1777).

Der Kyffhäuser und die Barbarossahöhle

Im Südharz gibt es außerdem den Kyffhäuser, der ebenfalls als eine Art Blocksberg gilt, und tatsächlich kann man von hier aus sogar den Brocken sehen. Dieser Ort wurde schon von steinzeitlichen Jägern und Sammlern aufgesucht, aber auch von Kelten und Germanen besiedelt. Um 1800 ließen sich Poeten von dem Berg und seiner mittelalterlichen Burgruine inspirieren; Goethe besuchte den Kyffhäuser bereits anno 1776. Leider gilt der Berg heute auch als Treffpunkt für Rechtsextreme, was die Aussicht durchaus trübt.

Spätestens seit der frühen Neuzeit kursieren allerlei Sagen vom Kyffhäuser. Zum Beispiel die, dass im Bergesinneren der mittelalterliche Kaiser Friedrich I. ruhe, genannt Barbarossa (»Rotbart«): »In dem Kyffhäuser Berge soll, wie unsere Leute erzählen, doch weiß ich nicht in was für Schlupflöchern und Höhlen, Kaiser Friedericus sitzen, schlafen, mit dem Kopfe nicken, mit den Augen zwinkern und mit der einen Hand den Kopf halten, solange bis er einst, sein Reich wiederum zurecht zu bringen, aufwachen werde. Doch keiner weiß genau zu sagen, wann solches geschehen wird« (Praetorius, Johannes: Blockes-Berges Verrichtung). Damals wusste man nicht, in welchem Schlupfloch sich der Rotbärtige verborgen hielt. Denn erst im Jahre 1865 (wieder-)entdeckte man die »Barbarossahöhle« im Bergesinneren: Es handelt sich um eine Großhöhle aus Gips mit unterirdischen Gewölben, Grotten und Gewässern; die Temperatur beträgt konstant 9°C.

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Der Kyffhäuser mit Denkmal im Südharz

In volkstümlichen Überlieferungen und künstlerischen Verarbeitungen heißt es, dass der Kaiser alle 100 Jahre aufwache und den Bergzwerg Alberich befrage, ob noch Raben um die Kuppe kreisen; wenn ja, schlafe er weiter. Aufgrund seiner Attribute – langer Bart, einäugig, Rabengott – wurde Barbarossa immer wieder mit Wotan in Verbindung gebracht: »Die Sagenforscher erkennen in dem alten Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser den einstigen Gott Odin, der nicht nur in himmlischen Wohnungen thront, sondern auch auf der Erde heilige Wohnstätten hat, die in der deutschen Sage meist in Brunnen und Bergen liegen. Wie der nordische Odin mit Frigga seinen Göttersitz teilt, so finden wir die Göttin auch als Frau Holda in dem Berge, während der alte Gott längst in Barbarossa übergegangen ist« (Timme, Marie: Elfenreigen). Inwiefern der Kyffhäuser tatsächlich ein Kultort der Germanen war, bleibt spekulativ. Archäologische Funde lassen gleichwohl auf eine noch viel ältere kultische Nutzung schließen (Behm-Blancke, Günter: Höhlen, Heiligtümer, Kannibalen).

Der Hohe Meißner und der Godesborn

In Hessen gibt es einen Berg mit Namen Hoher Meißner, der als Wohnort der Frau Holle gilt. Von einer Höhle ist hier zwar keine Rede. Aber mehrere alte Sagen überliefern, dass sich auf dem Berg ein See befindet, der als Eingang in die Unterwelt und in das Reich der Holle gilt: »Am Meißner in Hessen liegt ein großer Pfuhl oder See, mehrenteils trüb von Wasser, den man Frau Hollen Bad nennt. Nach alter Leute Erzählung wird Frau Holle zuweilen badend um die Mittagsstunde darin gesehen und verschwindet nachher. […] Weiber, die zu ihr in den Brunnen steigen, macht sie gesund und fruchtbar; die neugeborenen Kinder stammen aus ihrem Brunnen, und sie trägt sie daraus hervor« (Brüder Grimm: Deutsche Sagen). Diesen Teich gibt es tatsächlich, und er ist fürwahr ein Eingang in die Unterwelt, denn auf seinem Grund befindet sich ein Loch, aus dem 9°C kaltes Wasser sprudelt, der »Godesborn« (Hollequelle). Noch im 18. Jahrhundert hielt man den Teich für »unergründlich tief« (Schaub, Johann: Physikalisch-mineralogisch bergmännische Beschreibung des Meißners).

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Im Fulda-Werra-Bergland: Der Hoher Meißner ist Teil des Geo-Naturparks Frau-Holle-Land

Tatsächlich scheinen Berg und See schon in germanischer Zeit aufgesucht worden zu sein: Zumindest deuten Goldmünzen aus dem ersten Jahrhundert, die man im Frau-Holle-Teich gefunden hat, darauf hin, dass hier einstmals die alten Chatten (»Hessen«) ihrer holden Göttin Opfer darbrachten. Fast 2000 Jahre später besuchten auch die Brüder Grimm den Holle-Teich und betrieben volkskundliche Feldforschung. Im Tagebuch von Wilhelm heißt es: »Am Nachmittag zwischen prächtigen Buchen zu dem Frau Hollenteich« (22.07.1821).

»Nicht unwahrscheinlich, dass in heidnischer Zeit der ganze bewaldete Harz eine Art heiliger Hain war mit heiligen Hügeln und heiligen Höhlen.«

Frau Holle selbst ist natürlich vor allem aus dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm bekannt, in der ein junges Mädchen in einen Brunnen (»Born«) fällt und auf einer grünen Wiese über den Wolken herauskommt. Nicht unplausibel, dass dieser märchenhafte Topos auf den Bergsee auf dem Hohen Meißner zurückgeht: »Nirgends kamen in diesem Lande die ›Wasser der Tiefe‹ dem Himmel so nahe wie auf der Oberfläche dieses kleinen Teiches. Wir erinnern uns hier natürlich zuerst an die räumlichen Dimensionen von Grimms Frau-Holle-Märchen, das ja in Sichtweite des Meißners aufgezeichnet wurde, an Holles Unter-Wasser- und In-den-Wolken-Reich« (Timm, Erika: Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten).

Der Hörselberg und die Liebesgrotte

Der Hörselberg befindet sich in der Nähe der Wartburg und gilt als Wohnstätte des Wilden Heers, also jenes heidnischen Gespensterzuges, der laut alter Sage wahlweise von Wotan und Frau Holle angeführt wird. Der Berg wird auch »Venusberg« genannt, was sich wohl als Hinweis darauf werten lässt, dass an diesem Ort einstmals naturreligiöse Fruchtbarkeitsriten vollzogen wurden, heidnische Hexensabbate. Grimm setzt Venus mit Frau Holle gleich und erwähnt auch ihren treuen Diener Eckart, jenen »heidnischen Priester« vom Hörselberg: »In dieser Darstellung macht Frau Holda an der Spitze ihres Geisterheeres vollkommen den Eindruck einer im Land umherziehenden heidnischen Göttin« (Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie).

Der Hörselberg ist durch mehrere markante Höhleneingänge gekennzeichnet, die volkstümlich als Eingänge in die Anderswelt gedeutet werden. Die zwei bekanntesten Höhlen sind die »Venushöhle« und die »Tannhäuserhöhle«. Wahrscheinlich handelt es sich um alte Kulthöhlen. Jedenfalls heißt es noch in einer mittelalterlichen Volkssage, dass einstmals ein Ritter namens Tannhauser an die Pforten des Venusberges klopfte und die darin wohnende Göttin um Einlass bat: »Dort blieb er sieben Jahre lang und lebt in Freud’ und Liebe; ein Sünder wurde er genannt, dem der Himmel verschlossen bliebe«. Auch Richard Wagner besuchte im 19. Jahrhundert diesen Ort und ließ sich von Berg und Höhle zu seiner romantischen Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg (1845) inspirieren. In seiner Fantasie befinden sich in dieser Grotte Heerscharen von tanzenden Naturgeistern: Nymphen und Najaden, Bacchanten und Bacchantinnen, Satyri und Fauni.

Mit der Christianisierung Europas im Mittelalter wurde der Hörselberg ebenfalls zu einem Höllenberg umgedeutet: »Das frühe Mittelalter bildete aus der Frau Hulda eine Teufelin, wandelte das Innere des Berges zur Fegefeuerstätte um« und »so wurde das wüthende Heer zugleich ein teuflisches, sein Umzug war Strafe, Buße, analog der Buße im Fegefeuer« (Bechstein, Ludwig: Sagenbuch des Hörselberges).

Die Rhön und die Wichtelhöhlen

Lange vor unserer Zeitrechnung lebten Kelten im Gebirge Rhön und errichteten zum Beispiel Siedlungsanlagen auf den Bergen Milseburg und Öchsenberg. Aber auch was die Germanen angeht, scheint dieser Ort von historischer Bedeutung zu sein: Zumindest zeige die Rhön »in ihrem Namen selbst, daß sie zu den Kerngebieten altgermanischer Siedlung gehörte« (Udolph, Jürgen: Namenkundliche Studien zum Germanengebiet).

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Die Röhn bei Bad Kissingen: In den Wichtelhöhlen soll noch heute bei Vollmond »die Versammlung des kleinen Volkes« stattfinden

In vorchristlicher Zeit galt die Rhön wohl als ein Wohnsitz der Frau Holle (Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie). Aber noch in der frühen Neuzeit kannten die anliegenden Dörfer diese alte Göttin: »Der Huldadienst hielt sich hier am längsten. Die Mägde besonders hatten heiligen Respekt vor der Frau Holle. Am Sonnabend wurde weder der Stall ausgemistet, der Hof gesäubert noch Dünger auf das Feld gefahren, eine Sitte, welche sogar durch die Dorfordnung jedem angehenden jungen Nachbar eingeschärft wurde« (Spieß, Balthasar: Die Rhön).

Viele Orte erinnern noch an die heidnische Bedeutung dieses Gebirges, etwa ein alter »Ibengarten« am Westhang des Neuberges, aber auch eine Höhle namens »Teufelskeller« beziehungsweise »Teufelskirche« an der Südseite des Gangolfsberges. Vor allem aber gibt es in der Rhön die Wichtelhöhlen bei Bad Kissingen, rund 20 an der Zahl, von denen man noch heute sagt, dass dort bei Vollmond die Versammlungen des kleinen Volkes stattfinden: »Im Saalegrund bei Kissingen«, heißt es in einem alten Gedicht des Regionaldichters Johann Nepomuk Müller, »dort hausen noch die Wichtelen, du kannst die kleinen Dingerchen, wohl sehn bei Vollmondzeiten«. Damals schmückten noch zwei Zwergenstatuen die Höhlengegend; sie gelten heute jedoch als verschollen. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Zeit und Welt, in der das Naturmagische und Numinose noch real war.

Zum Autor

Unser Autor Dr. phil. Thomas Höffgen

Dr. Thomas Höffgen erforscht naturmagische Folklore in Europa. Weitere Publikationen auf dem Gebiet der germanischen Religionsgeschichte (»Der verteufelte Waldgott. Die Christianisierung der Germanen«), der europäischen Naturspiritualität (»Waldphilosophie. Warum der Wald nicht nur gesund, sondern auch weise macht«) und der paganen Zauberpraxis (»Weißt du zu ritzen? Die schamanischen Wurzeln unserer Runen«).

Webseite: thomashoeffgen.de

Literaturverzeichnis

Bechstein, Ludwig: Sagenbuch des Hörselberges. Originalausgabe 1838. Bad Langensalza 2009.

Behm-Blancke, Günter: Höhlen, Heiligtümer, Kannibalen. Archäologische Forschungen im Kyffhäuser. Leipzig 1958.

Grimm, Brüder: Deutsche Sagen. Originalausgabe 1816/18. Zwei Bände. Frankfurt/Main 1981.

Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Originalausgabe 1835. Drei Bände. Einleitung Leopold Kretzenbach. Um eine Einleitung vermehrter Nachdruck der 4. Auflage, besorgt von Elard H. Meyer, Berlin 1875-78. Graz 1968. Wiesbaden 1992.

Hunsche, Friedrich Ernst: Sagen und Geschichten aus dem Tecklenburger Land. Ibbenbüren 1964.

Praetorius, Johannes: Blockes-Berges Verrichtung. Hexen-, Zauber- und Spukgeschichten aus dem Blocksberg. Herausgegeben von Wolfgang Möhrig. Frankfurt/Main 1979.

Schaub, Johann: Physikalisch-mineralogisch bergmännische Beschreibung des Meißners. Kassel 1799.

Schumann, Johann Christoph Gottlob: Die Missionsgeschichte der Harzgebiete. Ein Beitrag zur deutschen Kirchengeschichte. Halle 1869. Reprint o. A.

Schweins, Hubert: Der Kreis Warburg in Wort und Bild. Paderborn 1961.

Spieß, Balthasar: Die Rhön. Würzburg 1882.

Timm, Erika: Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten. 160 Jahre nach Jacob Grimm aus germanistischer Sicht betrachtet. 2. Auflage. Stuttgart 2010.

Timme, Marie: Elfenreigen: deutsche und nordische Märchen aus dem Reiche der Riesen und Zwerge, der Elfen Nixen und Kobolde. Leipzig 1877.

Udolph, Jürgen: Namenkundliche Studien zum Germanengebiet. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband. Berlin 1994.

Vollmer, Wilhelm: Lexikon der Mythologie. Originalausgabe 1874. Dreieich 1993.

Zaunert, Paul: Rheinlandsagen. Erstauflage 1924. Düsseldorf/Köln 1969.

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