Gert Heinz Kumpf - ein matriarchaler Festplatz

Gert Heinz Kumpf – Der Heiligenberg als matriarchaler Festplatz

Eine Wanderung durch Zeit und Raum

Der Artikel beschreibt sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Wanderung. Der Autor führt uns anhand der Ortsbeschreibung zu dem Genius Loci, dem Geist des Ortes, der bis in die Zeit der matriarchalen Kulturen vor der Kelten- und Römerzeit zurückgeht. Der kulturellen Überlagerungen dieses zentralen Ortes zum Trotz enthüllt sich so die ursprüngliche Bedeutung des »Heidenberges« und »Heidelbergs«.

 

I  Die Wanderung beginnt

Im Mai beginnen die prächtigen Monate des Jahres, und so war es naheliegend, eine Wanderung auf den berühmten Heiligenberg bei Heidelberg zu unternehmen. Gestartet wurde am 24. Mai des Jahres 2023 am Heidelberger Hauptbahnhof. Nach dem letzten Haus Handschuhsheims hält der Bus am Turnerbrunnen, wobei sich das kuriose Wort rasch aufklärt, ist die Brunnenanlage doch vom Handschuhsheimer Turnverein geschaffen worden, der hier ehrende Gedenkplatten für die gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege schuf. Der Wanderer wendet sich nach rechts auf eine breite, befestigte Fahrstraße, den sogenannten Chaisenweg. Er ist nicht asphaltiert, hat aber sonst alle Qualitäten einer Fahrstraße, und die ersten hinaufstrebenden und herabkommenden Autos lassen nicht lange auf sich warten. Vor der Auto-Zeit sind hier tatsächlich Chaisen, also von Pferden gezogene Kutschen unterwegs gewesen, und das Ziel war heute wie damals dasselbe: der Heiligenberg. Der Weg folgt mit einer weiten Linkskurve der Ausbuchtung des Heiligenbergs, von dem hier freilich außer Wald links und rechts noch gar nichts zu sehen ist. Bald kreuzen Wanderwege von links hinauf und rechts hinab in die Studentenstadt. Wir gehen in der weitgezogenen, flachen Rechtskurve weiter und sind nun bereits deutlich höher hinaufgestiegen. Das Gelände wird steiler und man ahnt, dass sich bald etwas ändern wird. Tatsächlich taucht am Steilhang oberhalb des Weges ein altes Hinweisschild aus dem 19. Jahrhundert auf, das man leicht übersehen kann. Mit ein paar Kletterschritten ist es erreicht. Es weist auf den »inneren Ringwall« einer »vorgeschichtlichen befestigten Siedlung« hin, die etwa 400 Jahre vor Christus angelegt worden sein soll. Das Datum der Anlage mag stimmen, es könnte aber auch früher gewesen sein. Ob die Feinde wirklich Germanen oder nicht vielmehr rivalisierende keltische Stämme waren? Nach Auffassung des Autors kamen die germanischen Kimbern erst um 120 vor Christus auf ihrem Zug nach Rom hier vorbei.

das keltische Heidenloch bei Heidelberg
Bauwerk um das keltische Heidenloch auf dem Heiligenberg
Quelle: Fotografie des Autors am 24.5.2023

II  Das Heidenloch, angeblich und wirklich

 Der Weg führt inzwischen in einer sehr engen Linkskurve in Form einer Haarnadel dergestalt um einen vorgeschobenen Bergsporn herum, dass man nach wenigen Metern seine Richtung um 180 Grad geändert hat. Mit dem zunehmenden Höhengewinn taucht auf einmal links in der Nähe des vorher erwähnten Hinweisschildes ein sonderbares Rundhäuschen auf. Bei genauerem Hinsehen ist es nicht rund, sondern achteckig und recht neuer Bauart. Es ist weder eine Kapelle noch eine Wanderhütte, sondern ist mit einem Gitter abgesperrt, das glücklicherweise gerade offen ist. Beim Betreten des Raumes scheint man auf einmal zu wissen, worum es geht: In der Mitte ist ein abgedeckter, vermutlich sehr tiefer Brunnen, wie er sich häufiger auf hochgelegenen Burgen befindet. Das dunkle Loch gibt freilich wenig Aufschluss über seine tatsächliche Beschaffenheit, und bald wendet sich daher der Blick zu zwei großen Wandtafeln mit erklärenden Texten.

»Die verborgenen Schatztruhen sind die Schätze der untergegangenen matriarchalen Kulturstufe Europas aus der Zeit der Linearbandkeramik und der Bronzezeit.«

Auf der ersten Wandtafel »Daten und Fakten um das Heidenloch« des Kurpfälzischen Museums Heidelberg wird aufgeklärt: »Das Heidenloch ist ein mächtiger Schacht von etwa zwei bis drei Metern Durchmesser, der 56 Meter tief in den Sandstein des Berges getrieben wurde.« Es folgt ein Bericht der archäologischen Untersuchungen. So sinnvoll diese Arbeit auch war, so muss gesagt werden, dass man bei der positivistischen Auflistung der Befunde nicht stehen bleiben kann. Vielmehr liefern sie erst die Grundlage für eine weitergehende Interpretation. Deshalb wenden wir uns interessiert der zweiten Informationstafel »Mythen und Legenden um das Heidenloch« zu. Der Text beginnt mit einem Zitat von Matthis Quad (um 1600): »Es war zu meiner Zeit so voll Holz und Steine von den Ruinen der Kirche, dass die Sicht nicht tiefer ging wie bemerkt. Es pflegten die Buben in der Schule oft zu fabulieren, wie einmal eine weiße Gans oben zum Loch hineingeworfen und dieselbe unten am Neckar wieder herausgekommen und ganz schwarz gewesen sei.« Es folgen weitere Geschichtchen. Auch diese zweifellos verdienstvolle Zusammenstellung ist informativ und veranschaulichend. Allerdings spiegelt sich auch hier der wissenschaftliche Positivismus des 19. Jahrhunderts wider. Denn es werden Schauergeschichten und unwahrscheinliche Vermutungen über die Jahrhunderte hinweg gesammelt, die nur eines zeigen: Ratlosigkeit der Menschen beim Umgang mit diesem Phänomen. Eine Interpretation oder einen Erklärungsversuch des Phänomens sucht man dagegen vergebens.

Blick auf die Burg Heidelberg
Mythische Blickachse vom Heidenloch zur Oberen Burg »Heidelberg« (ursprünglich »Heidenberg-Blick«)
Quelle: Fotografie des Autors am 24.5.2023
Michaelskloster bei Heidelberg
In der Mitte des Klosters war der römische Merkurtempel. An den Rechteckgrundriss schließt sich rechts die doppelbögige Apsis an.

Dabei treten die Dinge recht offensichtlich zutage:

  • Der Schacht ist erst seit dem 16. Jahrhundert weiter zu einem Ziehbrunnen vertieft worden. Bis dahin hatte er etwa eine Tiefe von der Hälfte, also ca. 28 Metern.
  • In diesem älteren, oberen Schachtteil befindet sich ein Frauenbildnis. Ob die weitere Vertiefung mit den folgenden Nischen in engerer Form bereits vor dem 16. Jahrhundert bestand, lässt sich aus dem archäologischen Bericht nicht entnehmen, ist aber auch zweitrangig, da der Schacht auch so tief genug ist.
  • Tief genug wofür? Sicher nicht für die Gans, ein Druidenzimmer oder phantastische Wesen jeder Art. Diese Phantasien sind zwar amüsant, hatten und haben einen gewissen Unterhaltungswert, führen aber eher zu einer Verschleierung als zu einer Aufklärung.
  • Der Spuk mit dem Satan und dem kletternden Jakobsbruder, »der zweimal in das Heidenloch gestiegen sei und dort Phantastisches gesehen habe. So soll es in der Tiefe einen Raum mit zwei Türen geben, in dem zwei Schatztruhen ständen, die von je einem angeketteten Hund mit feurigen Augen bewacht würden«1Der Genius loci des Heiligenbergs, a. a. O., S. 9., ist unter der Rubrik antichristliche Propaganda abzuhaken.
  • Trotzdem führt gerade diese Sage in verdrehter Form auf die wahre Spur der Sache. Denn christliche Sagen verschleiern frühere Kulturstufen und verkehren sie in ihr Gegenteil. Diese Methode hat zur Genüge die Gründerin der modernen Matriarchatsforschung Heide Göttner-Abendroth in ihren verschiedenen Schriften dargelegt.2Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythen, Märchen, Dichtung. Stuttgart: Kohlhammer 2011, passim.
  • Wir kommen zu folgender Interpretation der Sage: Die verborgenen Schatztruhen sind die Schätze der untergegangenen matriarchalen Kulturstufe Europas aus der Zeit der Linearbandkeramik und der Bronzezeit, ca. 5.500 bis 3.000 vor unserer Zeit: Verehrung der Frau durch die Kraft der Regeneration, friedliche Organisation von Gesellschaft und »Herrschaft« (dieser Begriff ist freilich irreführend). Bewacht werden die Schätze durch Priesterinnen, die das heilige Feuer hüten (glühende Kohlen und schwarzer Rauch, natürlich keine Hunde. Hund = altes Wort für den Feuerbock, zweiteiliges Gestell mit Kette in einer Feuerstelle3Feuerhund. In: Feuerbock. 12.10.23. de.wikipedia.org (Zugriff am 13.10.2023).). Diese wahre Lebensglut ist nur dem Eingeweihten zugänglich und heute in der Tiefe verborgen, deshalb sind die Türen weit unten. Warum sind es zwei? Hatte hier der Mönch die zwei Lebenswege, den breiten bequemen und den engen, anstrengenden, der zur Wahrheit führt, im Sinn? Falls es so gemeint war, ist das eine christliche Beigabe zur alten, heidnischen Überlieferung.
  • Damit erschließt sich das Heidenloch als geheimnisvoller Ort der alten Kulturstufe. Dies bestätigt interessanterweise auch die Archäologie, die bei keltischen Höhensiedlungen, den Oppida, keltische Opferschächte ausgemacht hat, in denen Tierknochen gefunden wurden. Es war offensichtlich zur Zeit der Kelten eine heidnische Opferstätte gewesen, denn sie lag innerhalb des inneren keltischen Ringwalls des Heiligenbergs. Vermutlich haben die Kelten dabei ältere Opfersitten der vorhergehenden Kulturstufe übernommen oder weitergeführt. Damit erweist sich der Sinn des »Heidenlochs« wortwörtlich als ein Erdloch aus der Heidenzeit. Es diente der Verehrung der Erdgöttin, die alles Lebendige trägt, wachsen und gedeihen lässt. Somit ist das Heidenloch ein urweibliches Symbol der alten matriarchalen Kultur und blieb in den folgenden Zeiten, besonders im christlichen Mittelalter, unverstanden und verdächtig, und seine wahre Bedeutung wurde bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Denn niemand war phantasiereicher im Erfinden von Legenden als unsere christlichen Kirchenschriftsteller.

Wir verlassen das Heidenloch mit dem unguten Gefühl, dass durch diese Schutzhütte einiges von dem geheimnisvollen, ursprünglichen Charakter dieses Platzes verloren gegangen ist. Dieser Opferplatz befindet sich im tieferliegenden Bereich des inneren Rings der ursprünglichen keltischen Siedlung, also am gegenüberliegenden Ende vom oben liegenden Kultplatz. Zwischen diesen beiden Plätzen muss man sich die profane keltische Siedlung vorstellen. Aber man muss es noch einmal betonen, sowohl die rationale, sich auf bloße Befunde von Untersuchungen als auch die sich auf Phantastereien beziehende Atmosphäre des Ortes verfehlt deren Charakter als uralter keltischer Opferplatz.

III   Die mythische Blickachse vom Stephanskloster

Nur wenige Schritte weiter betreten wir eine erste Verebnungsfläche des Heiligenberger Vorberges auf 375 Metern Höhe (der irreführenderweise in heutigen Karten Michelsberg heißt). Vor uns tauchen die Ruinen des Stephansklosters auf und rechter Hand davor ein eigenartiger Turm aus dem 19. Jahrhundert. Dieser Heiligenberg-Turm ist mit Steinresten des abgerissenen oder verfallenen Klosters errichtet und ermöglicht von oben eine weite Aussicht. Wir aber halten uns lieber an die älteren Baureste des um 1090 errichteten Stephansklosters und stehen am früheren Eingang in die Klosterkirche. Der Vorplatz ermöglicht einen grandiosen Ausblick durch eine Waldlücke hinüber zum Königstuhl. Nähert man sich diesem Platz, der mit einer Aussichtsbank versehen ist, so lässt sich von hier aus auch hinunter auf die Stadt Heidelberg blicken, die aber fast im grünen Waldgewoge des Kleinen Odenwalds gegenüber vom Neckar verschwindet. Vor dem Kloster bestand hier zunächst eine Klause des Benediktinermönchs Arnold und ab 1090 wurde eine zugehörige Stephanskapelle errichtet, die im 12. Jahrhundert zu einem Kloster mit Kreuzgarten ausgebaut wurde. Im 16. Jahrhundert wurde wegen der Reformation das Kloster aufgelöst und verfiel schließlich. Dass die Wälder nicht immer so dicht waren wie heute; dass besonders die Bergeshöhen nicht oder nur schütter bewaldet waren, hat der Autor an anderer Stelle dargelegt.4Gert Heinz Kumpf: Zum Namen der Stadt Heidelberg. Forschungen unter Einbezug von Geo-graphie und Kulturgeschichte. München: Grin 2023. Es gab noch zur Zeit Matthäus Merians (1593–1650) großartige Ausblicke von den Bergeshöhen, wie seine vielfältigen Kupferstiche vom Heiligenberg zeigen.5G. H. Kumpf: Heidelberg, a. a. O., S. 17 Heutzutage, nach 200 Jahren Aufforstung praktisch aller Höhen unserer deutschen Mittelgebirge, ist dieser schüttere, verbuschte Wirtschaftswald, der im Mittelalter als Waldweide von Ziegen, Schafen, Schweinen und Kühen genutzt war und als Schande empfunden wurde, verschwunden.

»Das Heidenloch diente der Erdgöttin und ist ein urweibliches Symbol der alten matriarchalen Kultur.«

Bis oben hin ist heute alles zugewachsen, und von der rundherum freien und weiten Aussicht der ehemaligen Keltensiedlung auf dem Heiligenberg ist bis auf die genannte kleine Blicklücke nichts übrig. Mehr als der kaiserzeitliche Aussichtsturm über die hochgezogenen Wälder interessiert uns das Stephanskloster, das später als das Michaelskloster und offensichtlich ganz bewusst hier vorne neben dem Heidenloch errichtet wurde. Natürlich auch, um an Wasser zu kommen, aber doch nicht primär! Hier wurde im Sinne christlicher Mission ein heidnischer Platz christlich überformt und besonders die Sichtlinie hinüber zum Königstuhl »in Besitz genommen«, die noch etwas von der alten Ehrfurcht gegenüber der Natur und der in ihr verkörperten urweiblichen, lebensspendenden Kraft erahnen ließ und lässt. Wir sagen heute »Mutter Natur« und sagen es richtig, ohne aber noch zu wissen, w a s  wir sagen.

Die Blickachse vom Kloster zum Königstuhl wird durch den heutigen Blick auf die Ruinen des Heidelberger Schlosses ergänzt. Wichtiger aber ist der Blick hinüber zur Molkenkur, die sich auf dem Platz der Oberen Burg des 11. Jahrhunderts befindet, womit sich der tiefere Sinn des Stadtnamens Heidelberg6G. H. Kumpf: Heidelberg, a. a. O. aufklärt: Heidelberg ist die »Burg Heidenberg« oder kurz »Heidenburg«, da sie eine direkte Blickachse hinüber zum mythischen Heidenloch ermöglichte, als damals auf den Höhen des Heiligenbergs noch keine Bäume standen. Denn auch der heutige Name des Berges Heiligenberg existiert erst seit dem 12. Jahrhundert; vorher war es der fränkische Aberinesberg und die Jahrhunderte vor der fränkischen Landnahme schlicht und einfach der »Heidenberg« mit dem römischen Merkurtempel, der in alle Richtungen zu sehen war: das Neckartal aufwärts, hinüber zum Königstuhl, etwas tiefer hinüber zum Anfang der Stadt bei der Oberen Burg und in die weite Rheinebene nach Speyer und Worms.

IV  Thingstätte ohne Thing Beim Weitergehen passiert man linker Hand die Waldschenke Heiligenberg mit einladendem Biergarten, der sich der Wanderer für den Rückweg vorgenommen hat. Das Gelände wird etwas steiler, und auf einmal taucht im Wald rechts ein düsteres, langgezogenes Bauwerk auf, das nicht so recht hierher zu passen scheint. Wir stehen vor dem Eingang der »Thingstätte«7Das Thing war bei den Germanen eine Volks-, Heeres- und Gerichtsversammlung, auf der alle Rechtsangelegenheiten eines Stammes behandelt wurden., einem Bauwerk aus der Nazizeit, jetzt »Freilichtbühne Heiligenberganlage« genannt. Das Thing war eine germanische Einrichtung, eine Art Gerichts-Vollversammlung, auf der auch über Krieg und Frieden entschieden wurde. Dies war aber beim Bau in den dreißiger Jahren gar nicht bezweckt, weshalb der damals gewählte Name sehr unpassend war und ist. Wenn man die Anlage betritt, wähnt man sich scheinbar in einem antiken Amphitheater. Es ist überliefert, dass diese »Thingspiele« an falschem Pathos und Langeweile, einfach gesagt: an schlechter Qualität kaum zu überbieten waren, und die Menschenmassen außerdem bei einsetzendem Regen das Freigelände verließen und nach Hause gingen. Da diese Umstände und vor allem das so gar nicht ‚heldenhafte Verhalten‘ der ‚breiten Masse‘ nicht dem entsprach, was man beabsichtigt hatte, so beendete man diesen »Freiluft-aktionismus«. Nun steht die Anlage aber heute immer noch in ihrer Ungefügigkeit herum und wird manchmal für Rockkonzerte und ähnliche Massenveranstaltungen unserer Zeit genutzt. Leider mit den bekannten Nebenwirkungen der Massenfahrt mit Pkws und Motorrädern den Berg hinauf zum Waldparkplatz. Bei den Bauarbeiten 1934 soll man sich über die archäologischen Reste des keltischen Oppidums, das sich hauptsächlich hier in der breiten Geländemulde zwischen den beiden Gipfeln befand, einfach hinweggesetzt haben. So scheint wegen der Großmannssucht der Anlage das eigentlich Wichtige zerstört worden zu sein. Kurt Derungs vermutet sogar die Sprengung eines kulturgeschichtlich wertvollen Felsengrabs, eines Verehrungsortes der drei heiligen Frauen.8Kurt Derungs & Sigrid Früh: Der Kult der drei heiligen Frauen. Mythen, Märchen und Orte der Heilkraft. Grenchen bei Solothurn: Amalia 2008, S. 45f. Der vom Autor konsultierte Stadtarchivar Heidelbergs konnte diesen Informationsgehalt nicht bestätigen, weshalb der Autor vermutet, dass Derungs hier die Felssprengungen der Nazis zum Bau der Thingstätte meinte.
Michaelskloster bei Heidelberg
Weiter Blick vom Michaelskloster in die Rheinebene. Oben auf 440 Metern Höhe auf dem Gipfel des Heiligenbergs hat man weite Blicke nach Westen (zum Sonnenuntergang) in die Rheinebene.

V  Keltisches Oppidum

Am Rande des Parkplatzes war dem interessierten Zeitgenossen bereits ein ganzes Bündel von Informationstafeln begegnet. Die Keltensiedlung mit den beiden religiösen Kultplätzen auf dem Vorgipfel am Heidenloch (375 Metern NN) und auf dem Hauptgipfel am Michaelskloster (440 Metern NN) wurde von einer doppelten Ringwallanlage, die sich der Geländeform anpasste, geschützt. Der innere Ringwall hatte eine sich von Norden nach Süden erstreckende Länge von etwa 1800 Metern und eine Breite von 300 Metern. Er war von einem äußeren Ringwall umgeben, der eine Länge von etwa 2400 Metern und eine Breite von 1000 Metern umfasste. Beim Weitergehen erfahren wir aus der nächsten Informationstafel Wissenswertes über die wirtschaftlichen Grundlagen der Keltensiedlung mit ihrer Doppelwallanlage. Sie trägt den Titel »Der Heiligenberg – Zentrum keltischer Macht«. Dass die Kelten ab dem 3. Jahrhundert vor Christus die zentrale wirtschaftliche und siedlungsmäßige Funktion des Oppidums auf dem Heiligenberg aufgaben, wird nicht dazu geführt haben, dass dort niemand mehr wohnte. Aber die zentralen Funktionen gingen jetzt an Lopodunum (Ladenburg auf dem Mündungstrichter des Neckars). Vermutlich waren die Eisenerzvorkommen auf dem Berg erschöpft.

»Wir sagen heute »Mutter Natur« und sagen es richtig, ohne aber noch zu wissen, was wir sagen.«

VI  Michaelskloster, Merkur und Wodan Wir halten uns auf dem linken Weg und steigen dann einen etwas steileren Hang hinauf, bis wir nach 200 Metern (von der Thingstätte ab gerechnet) auf ein sich verebnendes Plateau gelangen (die bereits erwähnte Einzäunung ist glücklicherweise offen). Das Gipfelplateau bildet den höheren Gipfel des Heiligenberges mit 440 Metern über NHN. Es ist nahezu ganz von den Ruinen des Michaelsklosters eingenommen, vor denen wir nun stehen. Die Größe der Anlage macht es schlechterdings unmöglich, sie ins Bild zu fassen. Erstaunlich ist die klar erkennbare, meistens auf etwa einen Meter, manchmal bei Türmen auch höher aufgemauerte Grundrissanlage des Klosters. Es ist 1987 unter der Leitung des Archäologen Berndmark Heukemes und anderer in dieser Form restauriert worden, sodass der interessierte Besucher sich einen guten Eindruck von der Anlage verschaffen und sie begehen kann. Es soll an dieser Stelle nicht auf die Einzelheiten der Bauphasen über die Jahrhunderte eingegangen werden. Was wir heute sehen, lässt die größte und letzte Anlage des Klosters erkennen, bevor es im 16. Jahrhundert wegen der Reformation in der Kurpfalz aufgelassen wurde und dann zerfallen ist. Ziemlich genau in der Mitte der Anlage ist der Grundriss des römischen Tempels nachgebildet, ein kleiner rechteckiger Raum mit halbkreisförmiger Apsis Richtung Norden. Hier befinden wir uns im vorchristlichen, römischen Zentrum des Heiligtums, das sich exakt auf dem höchsten Punkt des Heiligenbergs befand und den römischen Gott des Handels (für die römischen Provinzen) und Totenbegleiter Merkur (lateinisch Mercurius9Mercurius. 28.4.2023. de.wikipedia.org (Zugriff am 13.6.2023)) verehrte. Dieser höchste Punkt des Berges war später auch der Platz, auf dem die Christen den Genius loci10Genius loci: nach römischem Mythos die Schutzgottheit eines Ortes bzw. Tempels, die auf Menschen und Orte gleichermaßen wirkt. Eine lokale Atmosphäre: Sie kann trivial (Münchner Hofbräuhaus) oder spirituell (geweihte gotische Kirche) sein. Dass ein Kriegsschauplatz oder eine Marienandacht nicht von demselben Geist getragen sind, ist offensichtlich. spürten und d e s h a l b  dort oben ihr Michaelskloster errichteten, benannt nach Sankt Michael, dem starken Kämpfer gegen das Heidentum, zum Beispiel gegen den römischen Merkur oder den germanischen Wodan. In der römischen Provinz Germania superior (Obergermanien), zu welcher der Odenwald mit dem Heiligenberg im Römischen Reich rechnete, wurden sieben Weiheinschriften gefunden, die den germanischen Gott »Mercurius Cimbrianus« nennen. In diesem »Merkur der Kimbern« wird »im Zuge der Interpretatio Romana … üblicherweise der germanische Gott Wodan/Odin gesehen und als ‚Wodan der Kimbern‘ identifiziert.«11Mercurius Cimbrianus. 14.8.2021. de.wikipedia.org (Zugriff am 13.6.2023 Dieser römische Merkur und vorher der germanische Wodan wurden oben auf dem Heiligenberg verehrt: „Auf dem Heiligenberg bei Heidelberg wurden drei Inschriften gefunden, die zu einem römischen Kultkomplex gehören, der bis in die Spätantike genutzt wurde.12Mercurius Cimbrianus, a. a. O. Wir blicken somit – traditionell historisch gesehen13Nach dem Geschichtsbild der Schulbücher – bis in die Zeit der germanischen Kimbern zurück, die 120 vor Christus am Heiligenberg vorbeizogen, oben auf dem Berg ihren (nordgermanischen) Odin verehrten14Gert Heinz Kumpf: Der Name des Odenwaldes. Von Odin zur Wassermutter. München: Grin 2023, passim. und wahrscheinlich nach ihm das umliegende grüne Waldgewoge »Wald des Odin« oder »Odenwald« nannten. Sie übernahmen den Kultplatz von den Kelten.
Heidenloch 1645 Merian
Eine Abbildung des Heiligenberges von Merian aus dem Jahre 1645

VII  Die Verehrung der Erdgöttin als Genius loci

Nun brauchen wir den Mut, die Dinge weiter zurückzudenken15Wie es die Moderne Matriarchatsforschung tut, z. B. die Schriften von Heide Göttner-Abendroth.. Die patriarchal ausgerichteten, kriegerischen, eisenzeitlichen Kelten wiederum sind ebenfalls nicht die Erfinder des Bergheiligtums, sie hatten dort »Besseres« (?) zu tun: Eisengewinnung zur Waffenherstellung für ihre kriegerischen Auseinandersetzungen. Dies war oben auf dem Berg möglich, außerdem bot er seiner Form wegen Schutz, wenn man ihn befestigte. Das alte Heiligtum wurde »im Vorbeigehen mitgenommen«, denn man achtete das Alte, Hergebrachte und setzte es fort. So führten sie die vorgefundene matriarchale Tradition aus der Bronzezeit und der Zeit der Bandkeramiker fort, die auf Bergeshöhen, dem Himmel nahe, mit herrlichen Sichtlinien zum Lebensanfang (Sonnenaufgang im Osten) und Lebensende (Untergang des Gestirns im Westen) ihre Erdgöttin anbeteten16Die Verehrung der Muttergöttin, Großen Mutter oder Erdgöttin ist in der Archäologie der Jung- und Mittelsteinzeit mehrfach belegt, z. B. in Catal Höyük in Anatolien.. So gelangen wir in die Zeit 5.500 vor unserer Zeit und zu gut 7.000 Jahren Heiligenverehrung auf dem Heiligenberg177.000 Jahre Heiligenberg. Schutzgemeinschaft Heiligenberg – Handschuhsheimer
Geschichtswerkstatt. https://heiligenberg-handschuhsheim.de (Zugriff am 13.6.2023).
. Die Hochachtung vor der Großen Mutter18Muttergöttin. 16.4.2023. de.wikipedia.org (Zugriff am 13.6.2023)., der Muttergöttin (lateinisch Magna Mater), die Leben, Fruchtbarkeit und Reichtum der Erde beinhaltet, führte hier oben in exponierter Lage zu ihrer Verehrung. Dies begann in der Jungsteinzeit nach dem Ende der letzten Eiszeit, denn erst nach dem Abschmelzen des Eises konnte Mitteleuropa besiedelt werden. Sie war zugleich die Erdgöttin (griechisch Gaia, Demeter), und für sie, die »Mutter Erde«19Wir haben das Wort noch im »Mutterboden«., wie wir es bis heute sagen, wurden auf dem Heiligenberg an der Stätte des »Heidenlochs« Opfer dargebracht. Dagegen war ganz oben auf der Verebnungsfläche des späteren Wodan-/Merkur-/Michaelsplatzes20Man beachte die Inbesitznahme des »Mutterberges« durch spätere patriarchale Götter. So auch noch bei Jesaja 25, 6 + 10: »Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben … Ja, die Hand des Herrn ruht auf diesem Berg.« (Die Bibel in der Einheits-übersetzung). der ursprüngliche matriarchale Festplatz, umgeben von der Überfülle der schönen, weiten Blicke in die Welt hinein.

Was wissen, was ahnen wir davon noch heute? Wenn man oben auf dem Heiligenberg bei schönstem Wetter steht, wie es dem Autor bei seiner Wanderung vergönnt war, so hat man zwischen den heutigen »Waldmauern« hindurch noch zwei offene Blicke: nach Westen in die Rheinebene und nach Osten in das Neckartal und auf die Odenwaldberge. Da in der Nacheiszeit im Periglazial21Periglazial: Das baumlose Vorfeld der in der letzten Eiszeit vergletscherten Areale in Nord-deutschland und den Alpen, in dem sich auch der Odenwald befand. und auch später zur Zeit der Römer bis weit in die Barockzeit hinein (man denke an Merians Bild vom Heiligenberg) der Berg  n i c h t  bewaldet war, sah man früher auch in die anderen Richtungen, zum Beispiel nach Süden gegenüber zum Königstuhl (»Stuhl der mütterlichen Königin«) oder nach Norden zum Weißen Stein (»Stein der göttlichen weißen Frau«22Beide Ausdrücke in Klammern: Mythische Deutungen des Autors gemäß der Sagenwelt des Odenwaldes, vgl. seine Schrift »Sagenkreise und Nibelungenorte im Odenwald«.), der im grünen Waldgewoge aufragt. Die Großartigkeit dieser Blicke macht einfach s p r a c h l o s. Die großartige F e i e r der Natur, die man hier erlebt, kann zu nichts anderem als zu einer tiefen religiösen Verehrung der  M u t t e r   N a t u r  führen.

D i e s  ist der  G e n i u s   l o c i  des Heiligenbergs, und nicht das Übrige, das Sonstige, das Periphere, der Zeitgeist in seinen teils abstrusen Ausprägungen, der in dieser Betrachtung eines Wanderers auch gestreift wurde.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von: Gert Heinz Kumpf: Der Genius loci des Heiligenbergs. Eine Wanderung zwischen Zeitgeist und matriarchalem Ursprung. München: Grin 2023, 33 Seiten.

Gert Heinz Kumpf

Gert Heinz Kumpf, M. A., geboren am 19. Mai 1952 in Erbach im Odenwald, studierte an den Universitäten Marburg, Freiburg i. Br., München und Wien/Österreich die Fächer Germanistik, Geographie und Geschichte; Weiterbildung in Ethik. Er war Oberstudienrat an Gymnasien im Odenwald, in Tauberfranken und in Prag/Tschechien. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und zwei Enkeltöchter.

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