Vivian Dittmar - Echter Wohlstand

Vivian Dittmar – Echter Wohlstand 

Wie ein gutes Leben für alle gelingen kann

Was ist echter Wohlstand? Beschränkt sich dieser auf materielle Besitztümer, die aktuell insbesondere in den westlichen Industrienationen unseren Heimatplaneten und seine Ökosysteme in den Ruin treiben? Die Bestsellerautorin und Wandelinitiatorin Vivian Dittmar möchte im folgenden Beitrag unser Verständnis von Wohlstand erweitern und uns animieren, durch dieses andere Verständnis und Übungen neue Lebensqualitäten zu entdecken und zu kultivieren. 

Kurzdefinition Zeitwohlstand:

  1. Wir können das Phänomen Zeit genießen, ohne dagegen anzukämpfen.
  2. Wir sind mit der Zeit und ihren Zyklen im Einklang.
  3. Wir brauchen keine Hetze und keine Zeitvertreibe.

Kurzdefinition Beziehungswohlstand:

  1. Wir haben Menschen, die uns Halt geben und denen wir Halt geben.
  2. Wir leben gesunde Beziehungen, in denen wir einfach wir selbst sein können.

Kurzdefinition Kreativitätswohlstand:

  1. Wir entwickeln unsere Talente und teilen sie mit anderen.
  2. Wir verbringen viel Zeit im Flow-Zustand, wo wir uns ganz in einer Tätigkeit verlieren.

Kurzdefinition Spiritueller Wohlstand:

  1. Wir erleben uns eingebunden in ein Universum, das sinnvoll ist.
  2. Wir wissen, dass das Leben ein Wunder ist, und achten es als solches.

Kurzdefinition Ökologischer Wohlstand:

  1. Wir leben in einer gesunden, natürlichen, lebensfördernden Umgebung.
  2. Wir stillen unsere Bedürfnisse durch gesunde, tragfähige, wechselseitig nährende Beziehungen mit den Pflanzen, den Tieren, den Ökosystemen.
  3. Wir erleben uns als Teil des Netz des Lebens.

Bald sind 50 Jahre vergangen, seit der bahnbrechende Bericht an den Club of Rome eine breite Öffentlichkeit erstmals mit der unangenehmen Tatsache konfrontierte, dass unsere Lebensweise nicht zukunftsfähig ist. Ein halbes Jahrhundert, in dem erschreckend wenig passiert ist, um diese Warnung ernst zu nehmen und uns entsprechend anzupassen, trotz der Anstrengungen vieler, diesen Wandel einzuleiten. Lange erschien alles so weit weg, so abstrakt und die Verdrängungsmechanismen funktionierten ausgezeichnet. Es war einfach viel bequemer, zu glauben, dass es so schlimm schon nicht werden würde, dass jemand anderes sich darum kümmern würde oder dass es ohnehin schon zu spät sei. Alle drei Strategien verhinderten eine effektive, konstruktive und vor allem frühzeitige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, denen wir uns heute gegenübersehen. 

Doch es gibt noch einen weiteren, häufig übersehenen Faktor, der verhinderte, dass wir den notwendigen Wandel vollzogen: Es war die stillschweigende Annahme, dass die notwendigen Veränderungen nicht nur einen Verzicht auf lieb gewonnene Annehmlichkeiten, sondern vor allem einen Verlust an Lebensqualität bedeuten würden Wir fürchteten um unseren Wohlstand und übersahen dabei, dass unsere Lebensweise nicht nur fatale Auswirkungen für die Ökosysteme der Erde hat, sondern auch für uns selbst. Wir leben nicht nur gegen die Natur, die uns umgibt und erhält, wir leben auch gegen unsere eigene Natur.

Meine persönliche Geschichte

Mir wurde diese Tatsache sehr früh bewusst, da ich das große Glück hatte, bereits als kleines Mädchen zeitweise in einem traditionellen Dorf auf Bali zu leben. Dort lernte ich Menschen kennen, die materiell arm waren, jedoch auf eine andere, schwer greifbare Art reich erschienen. Ich sah es im Leuchten ihrer Augen, in der unbeschwerten Heiterkeit ihres Lachens. Ich spürte es in der Ruhe, mit der sie ihrer täglichen Arbeit nachgingen, und der Gelassenheit, mit der sie ihre Kinder hüteten. 

Um es gleich vorwegzunehmen: Es liegt mir fern, die Lebensweise der Menschen oder gar ihre Armut zu idealisieren. Mir ist natürlich bewusst, dass auch die Lebensweise der Balinesen schwierige Seiten hat. Doch sie hat auch Vorteile, die wir leicht übersehen, wenn wir nur die Fehler suchen oder unser Blick an der offensichtlichen materiellen Bescheidenheit hängen bleibt. Wie andere intakte traditionelle Kulturen deckt sie psychologische, soziale und spirituelle Grundbedürfnisse ab, die in unserer Gesellschaft – bei allem materiellen Überfluss – schmerzlich zu kurz kommen.

Zurück in Deutschland überkam mich jedes Mal ein großes Staunen, wie unzufrieden die Gesichter der Menschen aussahen, wie gehetzt sie waren, wie verloren sie wirkten. Mich erschrak die Kälte, die mir in all der Perfektion, Sauberkeit, Hochwertigkeit, Aufgeklärtheit und Absicherung entgegenschlug. Ich begriff nicht, was hier vor sich ging, wurde mir doch stets von allen Seiten suggeriert, wir seien die Reichen und sie die Armen. Warum war ich dann dort so viel glücklicher? Warum erschienen mir die Menschen – bei allen Herausforderungen, über die Runden zu kommen – so viel erfüllter?

Meine Verwirrung steigerte sich noch, als ich im Alter von 13 Jahren, nachdem ich einige Zeit in Deutschland die Schule besucht hatte, mit meiner Mutter in die USA umzog. Aufgrund von einer Verkettung von Umständen landete ich auf einer sehr elitären Privatschule, umgeben von den Sprösslingen der Superreichen. Und das Unglück, das ich hier wahrnahm und selbst erlebte, war noch greifbarer, geradezu unerträglich. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten erschien mir schon damals wie ein Albtraum, und zwar auch für diejenigen, die den amerikanischen Traum für sich verwirklichen konnten. 

Über Jahrzehnte arbeiteten diese Fragen in mir. Zahlreiche Reisen sowie innere und äußere Forschung waren auch Ausdruck einer Suche nach Auflösung der erlebten Widersprüche. Als die Umwelt- und Klimakrise sich immer weiter zuspitzten und als Lösung immer nur die gleiche Leier des angeblich notwendigen Verzichts angestimmt wurde, bekam der Wunsch, meine Erkenntnisse in Worte zu fassen, zunehmende Dringlichkeit. Wie konnte ich Menschen begreifbar machen, dass es Formen von Wohlstand gibt, die nicht mit einem riesigen ökologischen Fußabdruck einhergehen, sondern im Gegenteil auf einem Leben im Einklang mit unseren wahren Bedürfnissen und unserer Umgebung basieren? Wie ließ sich dieser nicht materielle Wohlstand, den ich als Kind auf Bali erleben durfte, in Worte fassen? Und zwar auf eine Weise, die sich kulturunabhängig auf uns und jedes andere Land übertragen ließe? 2020, mitten im ersten Lockdown, flossen die Ergebnisse meiner Reflexionen in ein Buch mit dem Titel »Echter Wohlstand«. Darin schlage ich eine neue Definition von Wohlstand in fünf Dimensionen vor, die ich hier kurz vorstellen möchte. Es handelt sich um Zeitwohlstand, Beziehungswohlstand, Kreativitätswohlstand sowie spirituellen und ökologischen Wohlstand.

Die fünf Dimensionen von echtem Wohlstand im Überblick
Die fünf Dimensionen von echtem Wohlstand im Überblick

Zeitwohlstand: Im Einklang mit Kairos und Chronos

Das Empfinden, keine Zeit zu haben, ist bei uns so weit verbreitet, dass es eigentlich schon normal ist. Dabei ist Zeit nicht etwas, das man hat oder nicht. Sie ist ein Phänomen, das wir erleben und dem wir alle unterworfen sind. Doch je mehr wir versuchen, in einen Tag, eine Woche oder einen Monat hineinzupacken, desto weniger Zeit scheinen wir zu haben. 

Ein gut gehütetes Geheimnis der Zeit lautet, dass sie mehrere Dimensionen hat. In unserer Kultur kennen wir nur die linear messbare Dimension, die sich in Sekunden, Minuten und Stunden unterteilen lässt. Die alten Griechen nannten diese Art von Zeit Chronos. In anderen Kulturen – oft solche, die wie die balinesische ein zyklisches Zeitverständnis haben – ist eine zweite Zeitdimension bekannt. Man könnte sie die vertikale Dimension von Zeit nennen, die alten Griechen nannten sie Kairos. Während die lineare Dimension von der Vergangenheit in die Zukunft verläuft, verbindet die vertikale Dimension den jeweiligen Moment mit der Ewigkeit. Das hört sich zunächst etwas abstrakt an, ist aber jenes Phänomen, das Zeit so dehnbar erscheinen lässt. Während für eine Maschine oder ein Atom jede Sekunde oder jede Minute gleich lang ist, trifft das für unser Bewusstsein überhaupt nicht zu. 

Es gibt Stunden und Tage, die vergehen wie im Flug, und es gibt Minuten, die sich endlos hinzuziehen scheinen. Dieses Phänomen kennt jeder aus der Schule, wo eine Stunde Unterricht – die ja noch nicht einmal eine volle Stunde ist! – unendlich lang erscheinen kann. Die 30 Sekunden, die der Zahnarzt an unserem Backenzahn herumbohrt, kommen uns oft länger vor als die halbe Stunde im Wartezimmer. Genauso wenn wir auf einen Zug warten und sich der Zeiger der Bahnhofsuhr unendlich langsam zu bewegen scheint. Hetzen wir hingegen durch den Bahnhof, um unsere Bahn noch zu erwischen, rasen die Minuten oft dahin, als hätte jemand die Zeiger geölt. 

»Zeitwohlstand ermöglicht es uns, mit der aktuellen Zeitqualität, Kairos, in Kontakt zu sein und mit ihr im Einklang zu leben.«

Die mechanistische Sichtweise von Zeit verkennt, dass alles seine eigene Zeit hat. Kairos war bei den alten Griechen auch ein Gott, und zwar der Gott des günstigen Augenblicks, der sich nur erschließt, wenn wir präsent sind. Die alte Redewendung »Wenn die Zeit reif ist« bringt dies wunderbar auf den Punkt. Zeitwohlstand ermöglicht es uns, mit der aktuellen Zeitqualität, Kairos, in Kontakt zu sein und mit ihr im Einklang zu leben.

Zeitwohlstand erschließt sich nicht durch Beschleunigung, sondern durch das genaue Gegenteil. Indem wir bewusst entschleunigen und dabei auch lernen, regelmäßig innezuhalten, kommen wir genau dort an, wo wir ohnehin die ganze Zeit sind: in diesem Moment. Wir erkennen, dass es nichts gibt, dem wir hinterherhetzen müssen, und dass dieser Moment auch nicht durch irgendeinen Zeitvertreib gefüllt werden muss. Er ist einfach da, und das ist gut so.

Anregungen für mehr Zeitwohlstand

Um Zeitwohlstand bewusst zu kultivieren, können wir üben, regelmäßig innezuhalten und nichts zu tun, als unsere Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Moment zu richten. Wir können neu definieren, wann ein Tag oder eine Woche voll ist, und darauf achten, dass auch unstrukturierte Zeiten und Leerlauf ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags sind. Oder wir verbringen Zeit mit Kindern und alten Menschen, ohne ein Programm zu haben oder einer strukturierten Tätigkeit nachzugehen. Was in unserem Leben können wir loslassen, um mehr Zeitwohlstand zu leben? Dabei kann es sich um Beziehungen, Verpflichtungen, Ziele, Vorstellungen, Hobbys oder einen Job handeln. Auch Ausmisten ist hilfreich. Die meisten Dinge brauchen Zeit, damit wir sie überhaupt nutzen können. Wenn wir viele ungenutzte Dinge besitzen, erzeugt das leicht ein Gefühl von Zeitmangel, denn jedes Ding scheint zu rufen: Wann hast du Zeit für mich? 

Beziehungswohlstand: Halt finden, Halt geben, verbunden sein

Die Anzahl und Stabilität naher Beziehungen hat in den letzten Jahrzehnten in den reichen Industrienationen beständig abgenommen. Wir vereinzeln und vereinsamen immer mehr, mit verheerenden Folgen für unsere Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt. 

Beziehungswohlstand entsteht, wenn wir unseren Verbindungen mit anderen Menschen wieder bewusst eine hohe Priorität einräumen und neue Netzwerke entstehen lassen, die uns wirklich tragen – das gilt im Job genauso wie privat.

Die zunehmende Vereinsamung kommt nicht von ungefähr. Sie wurzelt in einem falschen Ideal, das uns stets Unabhängigkeit und Freiheit maximieren lässt und Abhängigkeit um jeden Preis vermeiden möchte. Erwachsen zu sein, so meinen wir, bedeutet, möglichst unabhängig zu sein. 

Dabei verkennen wir, dass eine gesunde Abhängigkeit ein natürlicher Teil des Lebens ist. Der Pubertierende strebt nach absoluter Unabhängigkeit und Freiheit. Die wirklich Erwachsene weiß, dass wir als Menschen aufeinander angewiesen sind. Sie nutzt ihre Freiräume, um diese Abhängigkeiten positiv zu gestalten. So entstehen gesunde Beziehungen.

»Der Kapitalismus bedient unser pubertierendes Streben nach maximaler Unabhängigkeit ganz ausgezeichnet.«

Der Kapitalismus bedient unser pubertierendes Streben nach maximaler Unabhängigkeit ganz ausgezeichnet. Der Vorteil einer Ware oder Dienstleistung ist, dass ich ohne bleibende Verbindlichkeiten ein Bedürfnis erfüllen kann. Verbindlichkeiten sind jedoch nicht nur lästiges Beiwerk, das wir in Beziehungen nach Möglichkeit vermeiden sollten. Sie sind auch die unsichtbaren Fäden, die Beziehungsnetzwerke zusammenweben. Und diese Beziehungsnetzwerke sind für uns Menschen unverzichtbar. Die Gewissheit zu haben, dass es Menschen gibt, auf die wir uns verlassen können, ist eines unserer tiefsten Bedürfnisse. Sie gibt uns ein Empfinden von Sicherheit, das keine Versicherungen, keine Überwachungssysteme, keine Security, keine Geldsumme uns je vermitteln können.

Zugleich fehlen uns Begegnungsräume mit Menschen, in denen wir einfach wir selbst sein können. Untersuchungen haben gezeigt, dass die hohe Ungleichheit in den reichen Industrienationen zu sehr hohen Stresspegeln führt. Man spricht hier von Statusangst. Dieser ständige Druck, gut rüberzukommen, dazuzugehören, den Anschluss nicht zu verlieren, gleicht einem permanenten inneren Überlebenskampf. Für diesen sozialen Überlebenskampf opfern manche Menschen ihre Zeit, ihre Gesundheit und die Möglichkeit, wirklichen Kontakt mit anderen zu haben. Beziehungswohlstand zu pflegen, bedeutet auch, Begegnungsräume zu schaffen, in denen wir nicht klüger, hübscher, cooler, spiritueller oder sonst irgendwie besser sein müssen, als wir es sind.

Anregungen für mehr Beziehungswohlstand

Übe dich darin, dir deiner Beziehungsnetzwerke bewusst zu sein, in die du eingebettet bist. Prüfe, welche Beziehungen dich nähren und in welchen es nur um Status, Pseudozugehörigkeit oder gemeinsamen Konsum geht. Wo erlebst du Gemeinschaft und Zugehörigkeit? Welche Menschen in deinem Leben kannst du mehr als bisher in dein Herz schließen, einfach so, obwohl sie vielleicht anstrengend, schwierig, nervig oder lediglich anders sind? 

Tragende Beziehungsnetzwerke entstehen, wenn wir uns wieder trauen, einander zu brauchen und füreinander da zu sein. Mit wem kannst du mehr Verbindlichkeit und dadurch Verbindung wagen? Wer kann sich noch mehr an dich anlehnen – und bei wem kannst du dich anlehnen? Wen kannst du anrufen, wenn du in Not bist? Wer ist für dich da, wenn du nicht mehr weiterweißt? Wen kannst du um Hilfe bitten, ohne groß erklären zu müssen, warum oder wofür? Wer in deinem Leben freut sich, wenn er etwas für dich tun kann? Auf wen kannst du zählen, wenn es hart auf hart kommt?

Verbinde dich bewusst mit Menschen, auf die du dich verlassen kannst, und werde selbst mehr zu einer Person, auf die andere sich verlassen können. Du wirst merken, dass es dein Leben schöner, entspannter und sicherer macht.

Eine einfache Möglichkeit, wieder mehr Verbindungen entstehen zu lassen, besteht darin, andere öfter um Hilfe zu bitten, statt Probleme mit Geld zu lösen.

Kreativitätswohlstand: Im Flow-Zustand versinken

In einer Zeit, in der wir auf Knopfdruck die weltbesten Sängerinnen, Schauspieler und Entertainer präsentiert bekommen, scheinen die Talente von unzähligen Menschen tragisch überflüssig. Wer will schon mich auf meiner Gitarre hören, wenn ich keine zehn Akkorde kann? Ähnliches ist im handwerklichen Bereich geschehen: Jedes Produkt ist heute nur einen Mausklick entfernt, warum also noch etwas selber machen? Diese Entwicklung verkennt, dass der kreative Akt an sich für uns Menschen von übergeordneter Bedeutung ist. Nur dort entsteht jener magische Zustand, der in der Glücksforschung als Flow bezeichnet wird: Wir verlieren uns komplett in einer Tätigkeit, vergessen Hunger, Durst, Profitdenken und Zeit. Und vor allem: Wir sind glücklich!

»Wenn du im Flow bist, dann ist es dir völlig egal, ob dich irgendjemand für deine Tätigkeit bezahlt.«

Wenn du im Flow bist, dann ist es dir völlig egal, ob dich irgendjemand für deine Tätigkeit bezahlt. Menschen, die sehr glücklich mit ihrem Beruf sind, empfinden das oft so. Mein Sohn hatte einmal eine solche Kindergärtnerin. Ich sah sie immer mit leuchtenden Augen inmitten des Trubels und mehr als einmal erzählte sie mir freudestrahlend: »Ich habe den schönsten Beruf der Welt. Dass ich dafür auch noch bezahlt werde!« 

Bei kreativem Wohlstand geht es jedoch um weit mehr als unseren Beruf. Er kann alle Aspekte unseres Lebens umfassen: Wie wir arbeiten, wie wir unsere Freizeit verbringen, wie wir unsere Beziehungen gestalten, unsere Häuser bauen, unsere Kinder begleiten und so vieles mehr. Die Betonung liegt hierbei auf wie statt auf was. Kreativer Wohlstand ist nicht das Privileg einiger weniger, die ihr Geld in der sogenannten Kreativbranche verdienen, sondern er betrifft die schöpferische Gestaltungsfreude, mit der wir unsere Liebe zum Leben ausdrücken und Schönheit in die Welt bringen, egal welcher Tätigkeit wir gerade nachgehen. 

»Viele Menschen denken, dass es bei kreativem Wohlstand um Selbstverwirklichung geht. Meines Erachtens ist dies ein großes Missverständnis.«

Viele Menschen denken, dass es bei kreativem Wohlstand um Selbstverwirklichung geht. Meines Erachtens ist dies ein großes Missverständnis. Es geht bei kreativem Wohlstand eher um das genaue Gegenteil: Man könnte es Dienen nennen. Deine Gabe in die Welt zu bringen, bedeutet, zu dienen. Es ist ein Akt der Demut, nicht der Selbstverwirklichung. Ich sage, es ist das genaue Gegenteil von Selbstverwirklichung, da es in gewisser Weise sogar einer Selbstaufgabe bedarf. Nicht einer Selbstaufopferung, das ist etwas anderes, jedoch einer Selbstaufgabe, bei der unsere falschen Vorstellungen von uns selbst sterben. Erst dann werden wir durchlässig genug, das mit der Welt zu teilen, was durch uns geteilt werden möchte: große und kleine Dinge, spielerische und ernste, freudvolle und tiefgründige, gesellige und einsame, öffentliche und ganz private. 

Anregungen für mehr Kreativitätswohlstand

Um Kreativitätswohlstand zu kultivieren, beginne, Tätigkeiten um ihrer selbst willen nachzugehen, einfach weil sie dir Freude machen. Es geht nicht um das Ergebnis, lass den Prozess selbst im Vordergrund stehen. Spiele! Was möchte durch dich in die Welt kommen, in diesem Augenblick und in jedem weiteren? Wie machst du diese Welt bunter, fröhlicher, lebendiger, schöner? 

Um Kreativitätswohlstand zu kultivieren, ist es hilfreich, unseren Medien- und Kulturkonsum zu hinterfragen. Vertreibst du dir die Zeit oder tust du wirklich gerade das, was du tun willst? Vielleicht gibt es etwas, das du schon immer machen wolltest, es aber stets weggeschoben oder dich nie getraut hast, weil es immer Leute gab, die talentierter schienen als du, es dir peinlich war, es nicht wichtig schien oder du keine Zeit dafür hattest. Lässt du Langeweile zu? Liebst du deine Arbeit? Hör nicht auf, deine Kreativität zu erforschen, darauf zu lauschen und auszuprobieren, was geschieht, wenn du sie lebst. 

Spiritueller Wohlstand: Das Leben als Wunder anerkennen und feiern

Wenn ich an die Tempelfeste meiner Kindheit denke, dann erinnere ich mich neben der betörenden Schönheit der Trachten, Farben, Blüten, Düfte, Ornamente, Früchte und Gebete vor allem an eine Beseeltheit, die alles durchdrang. Es ist die gleiche Beseeltheit, die ich Jahre später in einem Gottesdienst der legendären Glide-Church in San Francisco spürte. Oder in den indigenen Ritualen Brasiliens, bei denen die ganze Nacht lang zu Trommelrhythmen um ein Feuer getanzt wurde. Oder beim Ganga Aarti, dem täglichen Feuerritual am Ganges in Rishikesh. Dort versammeln sich täglich Hunderte Menschen, um uralte Mantras zu singen, während die Nacht sich über den Fluss senkt. In diesen Situationen erübrigt sich die Frage nach dem Glauben, denn die Heiligkeit des Lebens wird zu einer direkten Erfahrung. 

Menschen aller Kulturen feiern die Heiligkeit des Lebens seit Urzeiten intensiv in solchen Ritualen. Sie geben Menschen einen Sinn für die Schönheit des Lebens, wecken die Liebe in ihren Herzen, lassen sie Weisheit entwickeln und ihre innere Anbindung immer wieder finden. Dadurch entsteht ein direktes Erleben von der Sinnhaftigkeit des Lebens, jenseits von allen Erklärungsansätzen. Das Leben offenbart sich als sein eigener Sinn, immer wieder neu. 

Doch spiritueller Wohlstand entsteht nicht allein durch rituelle Zusammenkünfte. Spiritualität ist in traditionellen Kulturen, wie ich sie als Kind auf Bali erleben durfte, eine ganz selbstverständliche, alles durchdringende Dimension des Alltags. Sie ist keine Glaubensfrage, sondern eine Lebensweise. Zwar gibt es Feste und Riten, in denen die Heiligkeit des Lebens besonders gefeiert wird, dennoch ist dieses Bewusstsein tief mit allen Handlungen und Abläufen verwoben. Alles ist heilig. Aber nicht auf diese süßlich scheinheilige, unauthentisch steife Art, die wir oft mit dem Wort assoziieren, sondern heilig im Sinne von lebendig, im Sinne von verbunden und einzigartig. 

Heute entdecken immer mehr Menschen auch in unserem Kulturkreis neu, wie wichtig eine solche innere Anbindung an das Leben ist. Sie praktizieren Yoga oder Achtsamkeit, pilgern auf dem Jakobsweg oder integrieren einfache Rituale in ihren Tagesablauf. Diese und andere Praktiken erinnern uns mitten im Alltag daran, dass das Leben ein Wunder ist, das wir nie verstehen werden, das wir jedoch feiern und in seiner Gesamtheit würdigen können.

Spiritueller Wohlstand äußert sich auch durch unsere innere Anbindung. Hier offenbart sich das große Ganze in unserem konkreten Ausdruck. Dies geschieht nicht durch Worte, wie der Begriff »innere Stimme« oft fälschlicherweise suggeriert, sondern durch zunächst wortlose, oft auch abstrakte und sehr subtile Impulse, die unser inneres Navi sind.

Anregungen für mehr spirituellen Wohlstand

Das Kultivieren von spirituellem Wohlstand beginnt mit Entschleunigung und Achtsamkeit. Da der Zugang zur inneren Ordnung, die Wahrnehmung von Schönheit, die Liebe, die Weisheit und das Erleben von Sinn sich alle nur im jetzigen Moment erschließen, liegt die erste Übung immer darin, präsent zu sein. Spiritueller Wohlstand erschließt sich weder durch körperliche Anstrengung noch durch intellektuelle Akrobatik. Der Yogi, der seinen Körper in die schönste Brezel formen kann, ist zwar sehr beeindruckend – ob er in sich Zugang zur inneren Ordnung, zum großen Ganzen hat, erschließt sich aus seinem Kunststück nicht. Doch Yoga ist, genau wie Qigong, Tai-Chi, Meditation und viele andere spirituelle Praktiken, eine wunderbare Möglichkeit, Gegenwärtigkeit zu kultivieren. 

Übe dich dann darin, Schönheit zu sehen und sie zu würdigen. Befasse dich mit Licht und Schatten in deinem Leben und lerne, die Verbindung zwischen beidem anzuerkennen. Experimentiere damit, was es bedeutet, eine Arbeit mit Liebe zu verrichten. Kultiviere deine eigene innere Anbindung, indem du dich darin übst, deine Intuition, deine Inspiration und deine Herzintelligenz wahrzunehmen. 

Ökologischer Wohlstand: Gesunde, nährende und tragfähige Verbindungen stillen unsere Bedürfnisse

Ökologischer Wohlstand bedeutet, nach und nach alle Verbindungen zu heilen, die uns erhalten, und neue, gesunde Beziehungen aufzubauen. In letzter Konsequenz bedeutet es, uns der Heiligkeit der Natur wieder bewusst zu werden und diese entsprechend zu würdigen. Und es bedeutet auch, uns Menschen als untrennbaren Teil der Natur wiederzuerkennen. Traditionelle Kulturen waren immer ein organischer Teil jener Ökosysteme, die sie hervorbrachten und am Leben erhielten. Ihre Lebensweise fügte sich in ihre Umgebung wie die jedes anderen Tieres: der Bau eines Fuchses, der Horst eines Adlers, die Waben eines Bienenvolkes. 

Das bedeutet übrigens nicht, dass sich diese Ökosysteme nicht veränderten und anpassten, als sich der Homo sapiens in ihnen niederließ. Jede neue Spezies, die in einem Ökosystem auftaucht, verändert dieses, teilweise sogar dramatisch. Das Gleiche gilt natürlich auch für den Menschen. Die Frage ist: Wie verändert sich das Ökosystem? Durchläuft es einen Anpassungsprozess, um dann eine Organisationsform zu finden, in der die neue Spezies ihren Platz gefunden hat? Oder wird es einfach nur zerstört? 

Ausschlaggebend für die Beantwortung dieser Frage ist das Denken in Besitz oder das Denken in Beziehung, in Objekt oder Geschenk, in Trennung oder Verbindung. Die Annehmlichkeiten des modernen Lebens haben uns zunehmend von den vielfältigen Verbindungen entfremdet, die uns erhalten. Mobilität und Digitalisierung machen uns ortsunabhängig, globale Lieferketten sorgen dafür, dass wir keinerlei Bezug mehr zu den Ursprüngen unserer Nahrung und anderer Produkte haben, die unsere essenziellsten Bedürfnisse stillen. Das alles ist natürlich sehr praktisch, doch es führt zugleich zu einer großen Halt- und Bezugslosigkeit – von den verheerenden Folgen für die Ökosysteme ganz zu schweigen. Doch wie kann es uns gelingen, diese Verbindungen wiederherzustellen?

Ein guter Startpunkt ist Dankbarkeit. Werde dir der Tatsache bewusst, dass alles ein Geschenk ist. Und auch wenn du dein Essen in einem Supermarkt kaufst, es von einem Unternehmen supertoll verpackt wurde und du es mit Geld bezahlst, das du verdient hast: Es ist ein Geschenk der Erde, die deine Heimat ist. Auch wenn du Fleisch oder Milchprodukte isst, Kartoffelchips oder Gummibärchen. Wenn du beginnst, dankbar zu sein für alles, was du empfängst, dann verabschiedest du dich von der Anspruchshaltung, die für unsere Kultur normal ist. Dankbarkeit ist in diesem Paradigma ein revolutionärer, fast schon subversiver Akt. Dankbarkeit ist der Beginn einer neuen, notwendigen Demut. Durch sie entsteht eine neue Verbindung mit den Gaben der Erde, die dich erhalten. 

Anregungen für mehr ökologischen Wohlstand

Nimm dir Zeit, dein Umfeld neu kennenzulernen. Verbringe Zeit in der Natur. Mache dich mit den Pflanzen und Kräutern vertraut, die dort wachsen – auch in der Stadt. Lerne, welche du essen kannst und wie man sie erntet, ohne ihren Bestand zu gefährden. Finde einen Ort in der Nähe deines Zuhauses, wo du dich mit der Natur verbinden kannst, und verbringe dort täglich Zeit. Schließe mit einem Baum Freundschaft. Übernachte in der Natur. Nimm dabei so wenig Dinge wie möglich mit. Lass deine Uhr zu Hause. Lerne die Tiere kennen, die in deiner Nähe wohnen. Nimm dir Zeit, dich mit ihnen vertraut zu machen, ohne dich ihnen aufzudrängen. Nimm wahr, wie anders die Luft schmeckt, wenn du von Leben umgeben bist. Atme. Übe dich in Dankbarkeit für alles, was du empfängst. Werde dir deiner vielfältigen Verbindungen bewusst. Experimentiere damit, auf Annehmlichkeiten und Dinge zu verzichten, um herauszufinden, ob dein Leben dadurch möglicherweise reicher wird. Heile Schritt für Schritt deine Beziehungen. Sei dabei liebevoll, achtsam und geduldig mit dir und allen anderen. Laufe. Finde Wege, Leben zu fördern: Pflanze Blumen für Bienen, lass eine Ecke deines Gartens unaufgeräumt, um Kleintieren Rückzugsräume zu schaffen, lege ein kleines Biotop an. Verwende einen Teil deines Einkommens, um Bäume zu pflanzen, Ökosysteme zu heilen und dadurch der Erde etwas zurückzugeben. 

dittmar-buch

Buchtipp:

Vivian Dittmar, Echter Wohlstand – Warum sich die Investition in inneren Reichtum lohnt. Ein Plädoyer für neue Werte.
Kailash Verlag, 272 Seiten, ISBN 978-3-424-63214-9 

Bei jeder der besprochenen Formen von echtem Wohlstand geht es im Kern um eine Rückverbindung, eine re-ligio. Zeitwohlstand bedeutet, sich wieder mit diesem Moment und den natürlichen Zyklen des Lebens zu verbinden. Beziehungswohlstand bedeutet, sich wieder miteinander und mit unserem natürlichen Sein zu verbinden. Kreativitätswohlstand ist die Rückverbindung mit unseren Gaben, unserem ureigenen Ausdruck und unserem Beitrag zu der Gemeinschaft, in der wir leben. Bei spirituellem Wohlstand hingegen geht es um die innere Verbindung mit dem großen Ganzen, bei ökologischem Wohlstand um eine neue Verbindung mit allem, was uns erhält.

Die Neuausrichtung auf echten Wohlstand ist ein Paradigmenwechsel, der in Teilen der Gesellschaft bereits in vollem Gange ist. Eine wachsende Anzahl von Menschen kehrt klassischen, karriereorientierten Lebensentwürfen den Rücken und verzichtet auf hohe Gehälter und Boni, um sich dem zuzuwenden, was wirklich wichtig ist. Gerade die jüngere Generation legt mehr Wert auf gute Beziehungen, Sinnerfüllung und Lebensqualität als auf Kontostand und Statusgerangel. An die Stelle des altbekannten Schneller-Höher-Weiter tritt ein neues Langsamer-Tiefer-Näher. Und wir erkennen, dass der dringend notwendige ökosoziale Wandel nicht primär Verzicht, sondern eine enorme Bereicherung bedeuten könnte, einen Zugewinn an Lebensqualität, nach dem wir uns alle insgeheim sehnen. Wenn wir uns auf diese fünf Dimensionen von nicht-materiellem Wohlstand ausrichten, wird unser Leben auf eine völlig neue Weise reich: an Zeit, an Beziehungen, an Kreativität, an Kontakt mit dem Mysterium des Lebens und der unbändigen Schönheit der Natur.

Vivian Dittmar

Zur Autorin

Vivian Dittmar ist Autorin, Gründerin der Be the Change-Stiftung und Impulsgeberin für kulturellen Wandel. Ihre Kindheit und Jugend auf drei Kontinenten sensibilisierte sie früh für die globalen Herausforderungen unserer Zeit und sind bis heute ihr Antrieb, ganzheitliche Lösungen zu finden. Durch ihre Bücher, Vorträge, Seminare, Onlineangebote und umsetzungsorientierten Projekte engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. Zu ihren Bucherfolgen zählen unter anderem »Echter Wohlstand«, »Gefühle & Emotionen«, »beziehungsweise« und »Das innere Navi«. www.viviandittmar.net 

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