Das Markenzeichen von Spiritualität

Prof. Dr. Markolf H. Niemz – Das Markenzeichen von Spiritualität

Charles Darwin, Werner Heisenberg und Alfred North Whitehead

Der Physiker Prof. Dr. Niemz zeigt anhand von drei nachvollziehbaren Beispielen, wie sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse und spirituelle Eingebungen gegenseitig befruchten und beide den Menschen dabei unterstützen, die Zusammenhänge des inneren und äußeren Kosmos zu erforschen und womöglich ein Stück weit besser zu verstehen. Ein Plädoyer für die Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität.

Immer wieder werde ich gefragt, was mich als Physiker bewegt, spirituelle Bücher zu schreiben. Die Antwort lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Naturwissenschaft und Spiritualität schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil – sie bringen sich gegenseitig voran. Dies möchte ich in diesem Beitrag anhand von drei Beispielen erläutern: der Evolutionstheorie von Charles Darwin, der Quantentheorie mitformuliert von Werner Heisenberg und der Prozessphilosophie von Alfred North Whitehead.

Schon Aristoteles hatte Lebewesen im Mittelmeer beobachtet und eine erste Evolutionstheorie für das Leben aufgestellt.1Aristoteles: De Generatione Animalium. Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte der Franzose Jean-Baptiste Lamarck viele Ähnlichkeiten bei Tieren und folgerte, dass Organismen in der Lage sind, sich an eine veränderliche Umwelt anzupassen, um zu überleben.2Lamarck J-B: Recherches sur l’organisation des corps vivants. Lecture held at the Muséum National d’Histoire Naturelle, Paris 1802. Unklar blieb jedoch der Zusammenhang zwischen dieser Anpassung und der Entstehung neuer Arten.

»Naturwissenschaft und Spiritualität schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil – sie bringen sich gegenseitig voran.«

Es war Charles Darwin, der im Jahr 1859 die damals vorherrschende Meinung der Kirche endgültig über den Haufen warf, dass jede biologische Art einzeln von Gott erschaffen worden und der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Er postulierte die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen und erkannte die natürliche Auslese als den wichtigsten Mechanismus der Evolution:3Darwin C: On the Origin of Species. London 1859. Es überleben nur diejenigen Arten, die in der Lage sind, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen; alle anderen sterben aus. Inzwischen hat die Molekulargenetik die gemeinsame Abstammung von Mensch und Menschenaffe eindeutig nachgewiesen: 99 Prozent ihrer Gene sind identisch.4The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium: Initial Sequence of the Chimpanzee Genome and Comparison with the Human Genome. Nature 2005, 437, pp. 69–87.

Mithilfe von Darwins Evolutionstheorie sind wir heute in der Lage, ein uraltes philosophisches Rätsel zu lösen (Abbildung 1): Was kam zuerst – das Huhn oder das Ei? Ich war noch ein Teenager, als ich mich zum ersten Mal mit diesem Rätsel konfrontiert sah. Damals dachte ich wie fast alle Menschen, dass es keine vernünftige Lösung haben kann. Falls das Huhn zuerst da war, woraus soll dieses allererste Huhn geschlüpft sein? Falls das Ei zuerst da war, wer soll dieses allererste Ei gelegt haben?

Huhn oder Ei?
Abb. 1: Was kam zuerst – das Huhn oder das Ei?

Tatsächlich gibt es aber eine Lösung, und diese Lösung ist verblüffend einfach, wenn Sie mal den Dreh herausgefunden haben. Sie lautet: Es gibt weder das Huhn noch das Ei. Hühner von heute unterscheiden sich genetisch von denen, die vor hundert oder vor Millionen Jahren gelebt haben. Dasselbe gilt für Eier. Hühner und Eier entwickeln sich mit jeder Generation weiter. Deshalb schlage ich in meinem neuen Buch Die Welt mit anderen Augen sehen5Niemz MH: Die Welt mit anderen Augen sehen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2020, p. 103. vor, von den Verbformen »huhnend« und »eiend« zu sprechen. Unsere Substantive haben einen großen Nachteil – sie verschleiern, dass sich das Leben entfaltet!

Huhn und Ei sind also nicht zwei, sondern ein großes, sich entfaltendes Ganzes. Was wir eben über Hühner und Eier gelernt haben, ist kein Einzelfall. Charles Darwin lehrt uns in seiner Evolutionstheorie, dass alles Leben ein großes, sich entfaltendes Ganzes ist. Somit war es Darwin, der – ohne es zu wissen – das Fundament geschaffen hat, auf dem wir heute die Huhn-oder-Ei-Frage korrekt beantworten können. Doch die eigentliche Pointe kommt erst jetzt: Seit Charles Darwin wissen wir, dass selbst der Mensch vom Tier abstammt. Folglich sind wir gut beraten, auch uns Menschen als Verbformen zu begreifen. Wir sind mitnichten Individuen. Mit jeder Erfahrung, die wir machen, verändern wir uns.

»Alles sei relational, das heißt, es existiere bloß in einer gefühlten Beziehung zu allem anderen.«

Wenn das kein Beispiel für die gegenseitige Befruchtung von Naturwissenschaft und Spiritualität ist, was dann? Ich kann nicht verstehen, weshalb die meisten von uns Charles Darwin zustimmen, dass keine biologische Art individuell erschaffen wurde – und dennoch an der Individualität jedes Menschen festhalten. Es wäre ein spiritueller Quantensprung, wenn es uns endlich gelingt, nicht mehr von »Ausländern«, »Ungläubigen« und »Selbstverwirklichung« zu sprechen, sondern alle Menschen als ein großes Ganzes – als Menschheit – zu begreifen.

Wenige Jahrzehnte nach Darwins Tod gab es zwei ähnliche Revolutionen in der Physik: die Relativitätstheorie von Albert Einstein6Einstein A: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Annalen der Physik 17, 1905, pp. 891–921.,7Einstein A: Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie. Annalen der Physik 49, 1916, pp. 769–822. und die Quantentheorie, wie sie unter anderem von Werner Heisenberg8Heisenberg W: Über die quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen. Zeitschrift für Physik 33, 1925, pp. 879–893. und Erwin Schrödinger formuliert wurde. Ich möchte mich in diesem Beitrag auf die spirituelle Komponente der Quantentheorie beschränken. Prominentes Beispiel ist ein Gedankenexperiment von Werner Heisenberg. Es ist in Abbildung 2 skizziert. Ziel ist es, den Ort eines Teilchens exakt zu messen. Hierzu legt Heisenberg es unter ein Mikroskop. Um es sehen zu können, schaltet er eine Lampe ein. Doch jetzt überträgt das Licht einen Teil seiner Energie auf das Teilchen und versetzt es so ungewollt in Bewegung. Allein der Versuch, das Teilchen zu beobachten, zwingt es, seinen Ort zu verändern. Natürlich findet auch der umgekehrte Effekt statt: Das Beobachten verändert kontinuierlich Heisenbergs Gehirn; es entstehen neue Zellverknüpfungen, die das Beobachtete in sein Gedächtnis speichern.

Welle und Teilchen
Abb. 2: Versuch, den Ort eines Teilchens (rot) exakt zu messen

Was lernen wir daraus? Es gibt im Kosmos keine passiven Objekte; alles wechselwirkt mit seinem Umfeld. Unbeteiligte Zuschauer – wie in der klassischen Physik – existieren nicht mehr. Alles hängt mit allem zusammen. Der Kosmos und jedes in ihm lebende Wesen sind ein unteilbarer, sich kontinuierlich entfaltender Prozess. Sie können sich sehr leicht selbst davon überzeugen, dass auch Sie kein gleichbleibendes Wesen, sondern ein Prozess sind. Schauen Sie sich dazu bitte Abbildung 3 an. Was sehen Sie dort: Beeren, Gemüse, Getreide oder Nüsse? Bitte geben Sie zunächst Ihren Tipp ab, und lesen Sie erst danach weiter.

Erdbeeren
Abb. 3: Beeren, Gemüse, Getreide oder Nüsse?

Viele Menschen halten die Erdbeere für Beerenobst, weil sie süß-säuerlich schmeckt und sehr viel Vitamin C enthält. Aber botanisch gesehen ist die Erdbeere gar keine Beere, sondern eine sogenannte Sammelnussfrucht. Die kleinen gelben Pünktchen auf der Erdbeere sind Nüsschen! Der rote Fruchtboden ist nur eine Scheinfrucht. Sollten Sie das noch nicht gewusst haben, dann haben Sie eben gelernt, was die Erdbeere wirklich ist. Sollten Sie richtig getippt haben, habe ich dennoch eine Überraschung für Sie: Wenn Sie genüsslich Ihr nächstes Stück Erdbeerkuchen verzehren, dann wissen Sie seit heute, dass es kein Beerenkuchen ist, sondern ein Nusskuchen! Der springende Punkt ist: Vor wenigen Minuten kannten Sie die Wahrheit über »Erdbeeren« oder »Erdbeerkuchen« noch nicht. Stimmen Sie mir zu, dass Sie jetzt irgendwie anders sind als vor wenigen Minuten – dass sich Ihr Ich also ein wenig verändert hat?

Doch nicht nur unser Wissen verändert sich permanent, solange wir leben, sondern auch unser Körper. Fast alle unsere Zellen erneuern sich alle paar Jahre, ohne dass wir dies bemerken.9van Lommel P: Near-Death Experience, Consciousness, and the Brain. World Futures 62, 2006, p. 134. Im Grunde bin ich also gar kein Wer, sondern ein Prozess, eine Verbform – ein »Menschend«. Was wir vorhin über Hühner und Eier gelernt haben, gilt auch für uns Menschen, denn auch wir sind Teil der Evolution des Lebens. Leider sind wir allzu oft die Opfer unserer eigenen Sprachen, die auf Substantive fokussieren und nur die Worte »Huhn« und »Ei« und »Mensch« kennen, aber weder »huhnend« noch »eiend« geschweige denn »menschend«.

Ein großer Philosoph hat aus dem, was wir eben erkannt haben, eine eigene Theorie formuliert. Leider kennen viele von uns nicht einmal seinen Namen: Alfred North Whitehead. Es scheint, als hätten schon seine Eltern geahnt, dass ihr Sohn der Menschheit zukünftig den Weg weisen wird: nach Norden (auf Englisch: north), in einem übertragenen Sinn »vorwärts«. Noch ist Whiteheads Weltsicht weitgehend unbekannt, und doch ist wohl niemand der Wahrheit bisher näher gekommen als er. Mit 18 Jahren entschied sich Whitehead für ein Studium der Mathematik. In seinem Hauptwerk Process and Reality10Whitehead AN: Process and Reality. Free Press, New York 1929. (auf Deutsch: Prozess und Realität) fasste er seine Erkenntnisse aus jahrelanger Meditation zusammen.

Whiteheads Theorie wird oft als »Prozessphilosophie« bezeichnet, doch dieser Begriff verschleiert ihr wichtigstes Merkmal: Lebendigkeit. Whitehead selbst spricht von einer philosophy of organism11Whitehead AN: Process and Reality (corrected edition). Free Press, New York 1979, p. xi. (auf Deutsch: Philosophie des Organismus). In der Tat begreift er die einzigartigen Qualitäten eines Organismus – Erfahrungen – als Grundbausteine des Kosmos. Whitehead nennt sie nicht Elementarteilchen, sondern drops of experience (auf Deutsch: Erfahrungstropfen). »Objekte« wie Menschen, Tiere, Pflanzen, Sand oder Atome existierten nicht an sich. In Wirklichkeit würden Verben erst das erschaffen und formen, was wir als »Objekte« bezeichnen. Alles sei relational, das heißt, es existiere bloß in einer gefühlten Beziehung zu allem anderen. Demnach kann auch jedes Elektron fühlen: Indem es im Atom ein elektromagnetisches Feld »fühlt«, wird es auf seine Umlaufbahn gelenkt. Erst »Fühlen« macht es zu einem Elektron.

»Nach Whitehead besteht die Wirklichkeit gar nicht aus materiellen Objekten, sondern aus Prozessen des Werdens.«

Nach Whitehead besteht die Wirklichkeit gar nicht aus materiellen Objekten, sondern aus Prozessen des Werdens. Deshalb heißt sein Hauptwerk Process and Reality. Das Werden geschehe in bestimmten Mustern: order and novelty (auf Deutsch: Ordnung und Neues). Die Ordnung sei von einer mathematischen Natur und offenbare sich in Naturgesetzen. Revolutionär ist der Begriff novelty, der Whiteheads Theorie lebendig macht. Viele Philosophen betrachten leblose Fakten als das ultimative Fundament der Welt. Nicht so Whitehead: Für ihn sind Prozesse ultimativ. Der Kosmos bestehe nicht aus Objekten, sondern mittels Objekten, die sich immer wieder neu anordnen und dadurch so manche überraschende Wendung einleiten.

Physiker Prof. Dr. Markolf H. Niemz

Whitehead gelangt zu demselben Schluss, den wir eben aus Darwins Evolutionstheorie und der von Heisenberg mitformulierten Quantentheorie abgeleitet haben: Unsere Welt besteht nicht aus individuellen Lebewesen und individuellen Objekten, sondern aus Prozessen. Nach Whitehead ist alles Leben ein gigantischer Prozess. Auf meiner Suche nach Sinn im Leben bin ich nirgendwo auf einen größeren Schatz gestoßen als bei Alfred North Whitehead. Insbesondere sein Gottesbegriff ist von so einer Schönheit, dass es schwerfällt, sich einem anderen Gott anzuvertrauen – wenn Sie die folgenden Zeilen gelesen haben:

»Es ist ebenso wahr zu sagen,
dass Gott eins und die Welt viele sind,
wie dass die Welt eins und Gott viele sind;

… dass Gott im Vergleich mit der Welt erhaben ist,
wie dass die Welt im Vergleich mit Gott erhaben ist;

… dass die Welt in Gott ist,
wie dass Gott in der Welt ist;

… dass Gott die Welt transzendiert,
wie dass die Welt Gott transzendiert;

… (und) dass Gott die Welt erschafft,
wie dass die Welt Gott erschafft.«12Whitehead AN: Process and Reality (corrected edition). Free Press, New York 1979, pp. 347–348.

Diesen Worten Whiteheads ist nichts hinzuzufügen. Es ist ein Gedicht – das Gedicht eines großen Philosophen über seine Liebe zu Gott. Vielleicht müssen Sie es zehnmal lesen, wie ich es getan habe, um die wahre Größe des Schatzes zu erfassen: Whitehead lehrt uns, einen Gott lieben zu lernen, der wirklich Gott ist für alles, was lebt.

Ich schließe mit folgendem Resümee: Alle drei Wissenschaftler – Darwin, Heisenberg und Whitehead – stellten die zu ihrer jeweiligen Zeit vorherrschende Lehrmeinung infrage. Sie alle drei beschritten neue Wege, um Erkenntnis zu gewinnen. Dieses »Neue« ist das Markenzeichen von Spiritualität. Spiritualität lässt sich weder lehren noch überliefern – sie kann nur durch spontane Eingebung selbst erfahren werden. Wir können von Glück sagen, dass Darwin, Heisenberg und Whitehead solche spontanen Eingebungen vergönnt waren. In allen drei Fällen entwickelte sich daraus eine bis heute gültige wissenschaftliche Theorie.

Prof. Dr. Markolf H. Niemz

Zum Autor

Prof. Dr. Markolf H. Niemz ist Physiker und hat einen Lehrstuhl für Medizintechnik an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Seine Forschungen zur Lasermedizin wurden 1995 von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit dem Karl-Freudenberg-Preis ausgezeichnet. Niemz studierte Physik und Bioengineering in Frankfurt a. M., Heidelberg und San Diego. Er war Research Fellow der Harvard Medical School mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Bücher sind spirituelle Bestseller und beleben den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen