Wie die Evolution Kooperation und Altruismus entstehen ließ
Kooperation und Konkurrenz, zwei Eigenschaften, die beide zu denselben grundlegenden Zielen führen können: zu überleben und sich evolutionär fortzupflanzen. Jo Eckardt geht der Frage nach, wann wir welche Strategie wählen, welchen Einfluss sie auf die Menschheitsgeschichte hatten und ob wir uns von einer der beiden einen größeren Vorsprung erwarten können.
Warum verhalten sich manche Menschen egoistisch und andere kooperativ? Wie entsteht Empathie auf der einen und Rücksichtslosigkeit und Verachtung auf der anderen Seite? Die Psychologie versucht, diese Fragen aus einer individuellen Perspektive heraus zu beantworten. Je nachdem, welche frühen Erfahrungen ein Mensch macht, entwickeln sich die Bindungsfähigkeit, das Urvertrauen und die Fähigkeit zur Empathie. Hinzu kommt noch die jeweilige Persönlichkeit, mit der jeder Mensch geboren wird. Sie ist zwar bis zu einem gewissen Grad veränderbar, gibt aber doch wesentliche Grundzüge vor: etwa ob jemand extrovertiert oder eher introvertiert ist. Nimmt man sich also eine bestimmte Person vor, kann man wahrscheinlich ziemlich genau herausfinden, warum sie so fühlt und agiert, wie sie es tut. Man könnte dann vermuten, dass ein kooperativer Mensch als Kind viel Empathie erlebt hat und Grund hatte, sich und anderen zu vertrauen. Vielleicht hat auch eine offene und umgängliche Persönlichkeit geholfen, viele gute Bindungen entstehen zu lassen, und die Neigung zur Kooperation hat sich dann ganz einfach entwickelt.
Andersherum ist es möglich, dass ein egoistischer Mensch als Kind das Gefühl hatte, nicht das zu bekommen, was ihm oder ihr zustand. Wer keine Liebe spürt und kein Mitgefühl erlebt, wird selbst wenig Empathie für andere entwickeln und das schwache Selbstwertgefühl durch materielle Erfolge zu kompensieren versuchen.
Ausbau der sozialen Fähigkeiten – der Entwicklungssprung?
Eine ganz andere Frage ist aber, warum wir Menschen überhaupt Empathie und die Fähigkeit zur Kooperation entwickelt haben. Ist die soziale Kompetenz vielleicht sogar das Erfolgsgeheimnis von unserer Spezies, die uns überhaupt erst zu den Wesen gemacht hat, die wir sind? Sind Kooperation und Altruismus Wesensmerkmale von uns Menschen, die uns von den Tieren unterscheiden? Die Anthropologie, aber natürlich auch die Zoologie, Soziologie und Evolutionspsychologie interessieren sich für diese Fragen. Tatsächlich setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es nicht die »Intelligenz« ist, nicht die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen und Sprache zu entwickeln, nicht die Beherrschung des Feuers, nein, was den frühen Menschen geholfen hat, den enormen Entwicklungssprung zu vollziehen, der zum Homo sapiens führte, war der Ausbau der sozialen Fähigkeiten.
Dabei ist es nicht so, dass Tiere keine sozialen Fähigkeiten hätten. In den letzten Jahren ist es Tierpsychologen und Verhaltensforscherinnen gelungen, viele erstaunliche Entdeckungen zu machen: Tiere bemerken, wenn Belohnungen ungerecht verteilt werden, und können ernsthaft wütend werden, wenn andere mehr bekommen. Man kann also voraussetzen, dass sie so etwas wie einen Gerechtigkeitssinn haben. Wenn es darum geht, an Futter zu gelangen, können sie Strategien entwickeln, die Kooperation voraussetzen, bei denen also einzelne Tiere Schritte durchführen, die erst einmal gar nichts mit dem Futter zu tun haben, die aber in der Zusammenarbeit letztlich doch dazu führen, dass alle zu fressen bekommen. Einige Tiere können Emotionen in Menschen erkennen und andere helfen Artgenossen aus prekären Situationen und gehen dabei sogar Risiken für ihr eigenes Leben ein. Dabei geht es nicht nur um intelligente Säugetiere wie Elefanten, Hunde, Affen oder Ratten, sondern auch um Vögel und andere Tierarten. Sind nicht überhaupt die größten Kooperations-Experten Ameisen und Bienen? Und was ist mit der Spinnenart, die den größten Akt der Selbstaufopferung vollführt, der vorstellbar ist: Die Mutter löst sich nach der Geburt auf, um den Nachkommen als Nahrung zur Verfügung zu stehen. Gut, könnte man sagen, aber nur der Mensch empfindet so etwas wie wahres Mitgefühl und Altruismus. Oder nicht? Auch hier würden Tierpsychologen widersprechen und Hundebesitzer sowieso.
Und doch ist die soziale Kompetenz das herausragende Merkmal, das unseren Vorfahren den entscheidenden Schub gab, um sich von den engsten Verwandten fortzuentwickeln. Funde von Hominiden kurz vor der Abspaltung der menschlichen Spezies lassen darauf schließen, dass die Gehirne gerade in den Bereichen, die für Empathie und Kooperation benötigt werden, sich anfangs nicht von denen der anderen Menschenaffen unterschieden. Einige Millionen Jahre schienen unsere Vorfahren den anderen Affenarten wahrscheinlich sogar unterlegen. Erst als die Entwicklung des Gehirns einen Sprung machte und soziale Fähigkeiten ausgeprägt wurden, begann der Siegeszug der Menschheit. Wie kam es dazu?
Die Großmutter-Theorie
Die US-amerikanische Soziobiologin und Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy entwickelt in ihrem spannenden Buch Mütter und andere (Berlin 2010) die Theorie, dass alles mit der Fürsorge für den Nachwuchs begann. Menschenaffenbabys bleiben ja jahrelang von Erwachsenen abhängig und sind alleine nicht überlebensfähig. Sie werden von ihren Müttern gesäugt und gefüttert, bis sie ungefähr fünf Jahre alt sind. Der Preis dafür ist, dass die Mütter während dieser ersten Jahre nicht wieder schwanger werden können. Andere Gruppenmitglieder beschäftigen sich zuweilen auch mit den Kleinen, aber die Hauptarbeit liegt ganz klar bei der leiblichen Mutter. Genau hier setzt der kleine Unterschied ein, mit dem sich Hrdys Meinung nach die Frühmenschen von ihren Cousins trennten. Mütter begannen, Helfer einzuspannen und die Fürsorge für die Erziehung der Kleinen mit anderen Verwandten zu teilen: mit den Vätern, aber auch mit anderen Familienmitgliedern – allen voran mit den eigenen Müttern. Diese Großmütter, die im günstigen Fall noch Jahre nach ihrer letzten eigenen Schwangerschaft lebten, halfen bei der Aufzucht ihrer Enkel und machten so den entscheidenden Unterschied. Sie trugen dazu bei, dass Mütter früher wieder schwanger wurden und dass die eigenen langlebigen Gene weitergegeben wurden, sodass auch diese Kinder später alt genug werden würden, um wiederum in die Großelternrolle schlüpfen zu können. Neuere Forschung der Anthropologen James Coxworth und Kristen Hawkes weist noch auf einen weiteren, möglichen »Oma-Effekt«: Dass nämlich Mütter, deren Kinder in einer Großfamilie gut versorgt wurden, nicht nur mehr Kinder bekamen, sondern sich auch fester an die jeweiligen Väter banden und so monogame Zweierbeziehungen die Regel wurden.
Dass sich die soziale Struktur der frühen Menschen langsam veränderte, hatte weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Denn das kleine Baby hatte es bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, wie gut es versorgt wurde. Wenn es ihm gelang, die Erwachsenen für sich einzunehmen, sie an sich zu binden, dann vergrößerten sich die Chancen, dass es auch die Zuwendung bekam, die es für eine gesunde Entwicklung brauchte. Dafür brauchte es neue Fähigkeiten: Es musste lernen, die Befindlichkeiten der Erwachsenen zu verstehen und vorherzusehen, es musste lernen, sich in andere hineinzuversetzen. Es musste die Kunst der Kommunikation erlernen und selbst umgänglich sein. Je einfühlsamer Kinder und Erwachsene sich begegneten, je empathischer sie waren, umso häufiger überlebten sie und konnten ihre Gene weitergeben. Von hier führt der Weg zu weiteren Entwicklungsschritten: Wer sich gut in andere hineinversetzen kann, plant besser und kann seine Intelligenz besser einsetzen. Kommunikative Bedürfnisse begünstigen die Entwicklung der Sprache. Die Intelligenz wird angeregt und führt zu planvollem und bewusstem Verhalten. Einerseits wären die Errungenschaften der Menschheit der letzten Jahrtausende nicht möglich gewesen, wenn der Mensch nicht ein Wesen wäre, das über Empathie, Einfühlungsvermögen, Intelligenz und Gemeinschaftssinn verfügte. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass der Mensch ohne Bindung und Gemeinschaft nur schwer Sinnhaftigkeit erfahren kann und im Falle des Verlustes von Bindung und Gemeinschaft großes seelisches Leid erfährt.
Die Großmutter-Theorie ist letztlich nicht bewiesen. Sie würde aber nicht nur den emotionalen Quantensprung erklären, der die Menschheit in ihrer Frühzeit in ein neues Zeitalter katapultiert hat, sondern auch, warum die Weibchen der menschlichen Spezies noch Jahrzehnte nach ihrer Gebärfähigkeit weiterleben.
Das System der Gegenseitigkeit
Eine andere Theorie widerspricht dieser ersten keineswegs, sondern ergänzt sie noch. Hierbei geht es darum, dass frühe Menschen begannen, ein Tauschsystem einzuführen, das auf Gefälligkeiten beruhte. Menschenaffen tun dies ja bereits: »Wenn du mir die Läuse vom Pelz aufklaubst, tue ich das später bei dir!« Die Dienste und Gefallen, die Menschen sich gegenseitig angedeihen ließen, könnten mit der Zeit immer komplexer geworden sein: Hilfe beim Bau eines Nachtlagers, gemeinsamer Kampf gegen Feinde, Betreuung von Kindern, Teilen von Nahrung und anderen Dingen, die im Leben eines kleinen Stammes anfallen. Wahrscheinlich begannen die frühen Menschen dann relativ schnell, Arbeit aufzuteilen, sodass einige besondere Aufgaben übernahmen.
»Gegenseitige Unterstützung fördert den sozialen Zusammenhalt und macht das Leben ein Stück weit sicherer.«
Gegenseitige Unterstützung fördert den sozialen Zusammenhalt und macht das Leben ein Stück weit sicherer. Damit dieses System der Gegenseitigkeit sich wirklich entfalten konnte, brauchte der Mensch ein gewisses Maß an Empathie und Einfühlungsvermögen. Je besser ich verstehe, was mein Gegenüber wünscht, um so treffendere Angebote kann ich machen. Je reibungsloser die Zusammenarbeit klappt, umso erfolgreicher wird der Stamm sein.
Auch Gefühle wie Scham, Schuld und Wut passen in dieses System. Denn wer den Erwartungen nicht gerecht wird, wird durch Schuld- und Schamgefühle darauf aufmerksam gemacht, dass er oder sie den »Vertrag« nicht eingehalten hat. Die anderen empfinden Wut und Ärger über die Regelbrecher und sorgen durch Strafen oder Rache dafür, dass es einen Anreiz gibt, sich das nächste Mal an die Regeln zu halten. Schuld, Scham und Wut sind demnach Gefühle, die ursprünglich dafür sorgten, dass Einzelne sich innerhalb einer Gemeinschaft möglichst regelkonform, also sozial verhalten. Im weiteren Verlauf führte die emotionale Entwicklung des Menschen so zu moralischen Grundsätzen und ethischen Normen.
»Jedes vertrauliche Gespräch oder gesellige Beisammensein führt zu vermehrter Hormonausschüttung, sodass wir diese Art von Glücksgefühl wieder erleben wollen.«
Indem sich das menschliche Gehirn zu verändern begann, passten sich auch die physiologischen Gegebenheiten im Körper an. So ist Oxytocin beispielsweise ein wichtiges Hormon, das gebärende Mütter vermehrt ausschütten und sie dazu bringt, besonders viel Fürsorge zu empfinden. Auch bei Tieren hat Oxytocin diese Wirkung. Je fürsorglicher und sozialer der Mensch wurde, umso mehr Oxytocin wurde produziert, was wiederum das soziale Verhalten der Menschen weiter ankurbelte. Ohne Oxytocin, auch Kuschelhormon genannt, ist Empathie und Mitgefühl nicht möglich, aber ohne Empathie wird die Produktion von Oxytocin nicht angeregt. Soziales Verhalten und physiologische Vorgänge bedingen sich also gegenseitig. Man kann diesen Effekt übrigens ganz bewusst selbst nutzen, indem man etwa die Nähe von liebenden Menschen sucht, wenn es einem schlecht geht. Ganz automatisch wird die Oxytocinproduktion angeregt, und man fühlt sich besser. Jedes vertrauliche Gespräch oder gesellige Beisammensein führt zu vermehrter Hormonausschüttung, sodass wir diese Art von Glücksgefühl wieder erleben wollen. Umgekehrt wird der Hormoncocktail dünner, wenn wir uns einsam fühlen, und folglich haben wir dann auch weniger Lust, unter Leute zu gehen.
Die emotionalen und sozialen Entwicklungen der menschlichen Psyche führten dazu, dass unsere Vorfahren immer komplexere Projekte durchführen und auch ihren Verstand immer weiter ausbauen konnten. Sie begannen, Dinge zu hinterfragen, zu experimentieren und zukünftige Unternehmungen zu planen. Sie fingen an, sich die Umwelt zu unterwerfen und in immer größeren Gruppen zusammenzuleben. Die Sprache war sicherlich eine Folge der neuen Fähigkeiten und gleichzeitig ein Beschleuniger dieser Vorgänge, denn sie macht es so viel leichter, sich über Befindlichkeiten und Bedürfnisse auszutauschen.
Solidarität und Ablehnung
Seit der Entstehung des Homo sapiens sind einige Hunderttausend Jahre vergangen, und doch wird der moderne Mensch noch immer von Instinkten und Bedürfnissen geleitet, die sich in der Frühzeit entwickelt haben dürften. So ist davon auszugehen, dass gewisse Urängste (vor Dunkelheit, vor Spinnen und vor Schlangen) und interessanterweise auch das Gefühl des Ekels (vor Verwesung, faulen Gerüchen und Körperflüssigkeiten) uns auf Gefahren hinweisen, die für unsere Urahnen durchaus lebensbedrohlich waren. Die große Verzweiflung, die Menschen erfahren, wenn sie sich isoliert und einsam fühlen, ergibt Sinn, wenn man bedenkt, dass unsere Vorfahren alleine nicht überleben konnten und ein Verstoß aus der Gruppe einem Todesurteil gleichkam. Der Mensch hat in vielen Jahrtausenden gelernt, dass Hilfsbereitschaft und Kooperation einen Vorteil bringen, und ist daher oft erstaunlich solidarisch. Gleichzeitig kann er aber auch extrem abweisend und feindlich Fremden gegenüber sein. Diese sich zu widersprechen scheinenden Eigenschaften sind bis heute stark ausgeprägt. So lösen Naturkatastrophen oft eine überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung aus, während die Ankunft von »fremden« Menschen an eine unbestimmte Angst zu rühren scheint, sodass zumindest einige sofort eine Abwehrhaltung einnehmen und bereit sind, sich zur Wehr zu setzen.
Studien haben gezeigt, dass Menschen, die willkürlich in zwei Gruppen aufgeteilt werden (die eine Gruppe bekommt blaue, die andere gelbe T-Shirts), sich in kürzester Zeit der eigenen Gruppe verbunden fühlen und sich Mitgliedern der anderen Gruppe gegenüber feindselig verhalten. Obwohl es also überhaupt keine offensichtlichen Gründe gibt, warum die anderen abgelehnt werden sollten, entwickelt sich ganz spontan ein Wir-Gefühl innerhalb der Gruppe und Abneigung gegen die anderen. Es geht also in Wirklichkeit gar nicht darum, was die anderen von uns unterscheidet. Gründe, die aufgeführt werden, warum die anderen uns vielleicht schaden könnten, sind immer nur vorgeschoben. In Wirklichkeit sind wir Menschen einfach so programmiert, dass wir uns zu unserem »Stamm« zugehörig fühlen und andere erst einmal als Feinde sehen. So wie es die frühen Menschen in der afrikanischen Savanne hielten: Man wusste nie, was der fremde Stamm für Absichten hatte. Und selbst, wenn sie nichts Böses wollten, so hatten sie vielleicht Vorräte oder verfügten über Territorien, die dem eigenen Stamm nützen konnten. Es galt Stamm gegen Stamm, wobei die eigenen Leute immer die Guten sind und die anderen immer die Bösen. Diese Art von Stammesdenken nennen Soziologen Tribalismus. Wenn sich heute Fahrradfahrer und Autofahrer, Rechte und Linke, Impfgegner und Impfbefürworter oder ähnliche Gruppierungen hasserfüllt gegenüberstehen, dann ist dies nichts anderes als ein Überbleibsel von purem Tribalismus!
Es gibt aber trotzdem gute Nachrichten. Die Geschichte ist voller Beispiele von »tribalistischen« Grabenkämpfen, die sich mit der Zeit aufgelöst haben. So war es noch vor 100 Jahren in Deutschland entscheidend, ob ein Mensch katholisch oder protestantisch war. Meine eigenen Großeltern konnten erst heiraten, als meine Großmutter ihren Katholizismus aufgab und zum Protestantismus übertrat. Wenn wir noch etwas weiter zurückgehen, waren sich Bayern und Preußen spinnefeind, und Brokatweber taten sich nicht mit einfachen Webern gemein. Über solche historischen Feindseligkeiten können wir heute schmunzeln. Vormals streng getrennte Gruppen haben sich mit der Zeit einfach vermischt. Je öfter wir mit anderen Menschen Kontakt haben und sie als Individuen kennenlernen, umso weniger fallen die Unterschiede ins Gewicht. Daher sind Menschen, die in Städten zu Hause sind, in denen viele verschiedene Ethnien zusammenwohnen, meist weniger fremdenfeindlich als Menschen, die in Gemeinden wohnen, in denen vorwiegend Einheimische leben.
Fassen wir einmal zusammen: Frühe Menschen haben durch ihre veränderte Sozialstruktur eine tiefere Bindungsfähigkeit gewonnen, emotionale Tiefe erlangt und dementsprechende neurologische und physiologische Veränderungen im Körper erfahren. Sie haben Empathie und Einfühlungsvermögen entwickelt und dadurch auch die Fähigkeit gewonnen, sich ihrer Motivationen und Gefühle bewusst zu werden. So sind wir heute in der Lage, große Liebe, Hilfsbereitschaft, Altruismus und Bereitschaft zur Selbstaufopferung zu entwickeln. Gleichzeitig sind wir aber auch fähig, Hass und Ablehnung auszuleben bis hin zur Bereitschaft, andere zu vernichten, bloß weil uns irgendetwas an ihnen stört. Sind also Altruismus und Egoismus zwei Seiten der gleichen Medaille? Und wie unterscheiden sie sich von tierischer Aggression und Selbstaufopferung?
Gründe für den menschlichen Altruismus
Wenn Tiere andere Tiere töten, dann tun sie dies immer, um sich selbst in eine bessere Position zu bringen, weil sie die Beute verzehren, einen Rivalen beseitigen oder sich lästiger Jungtiere entledigen wollen, um eigene Nachkommen zu zeugen. Wenn Tiere anderen Tieren helfen, dann spielen die gleichen Motive eine Rolle: Sie verschaffen sich oder ihren Nachkommen einen Vorteil. Es müssen auch nicht immer die eigenen Nachkommen sein – zuweilen opfern sich einzelne Tiere, um etwa der Bienenkönigin oder anderen Ameisen bei der Aufzucht der Jungtiere zu helfen. Der britische Biologe William D. Hamilton untersuchte solches Verhalten bei Insekten in den 1960er- und 70er-Jahren und formulierte die sogenannte Hamilton-Regel, die besagt, dass Tiere ihre eigene Fortpflanzung vernachlässigen, wenn sie dadurch Verwandten helfen, die bessere Chancen auf Nachwuchs haben.
»Anerkennung und Respekt sind enorme Triebfedern für menschliches Verhalten.«
Bei Menschen ist dies anders. Hilfsbereitschaft und Kooperationsbereitschaft haben zu einer Form von Altruismus geführt, die mit keinerlei Vorteilen für das eigene Leben oder die eigenen Gene verbunden ist. Zumindest erscheint uns das so. Oder warum sonst helfen wir Menschen, die unseren Gefallen nie werden zurückgeben können? Als der Mensch begann, anderen selbstlos zu helfen, muss dies irgendeinen Vorteil gebracht haben, sonst hätte sich diese Form des Verhaltens nicht etablieren können. Ein Wesen, das selbst Nachteile in Kauf nimmt, um andere voranzubringen, wäre laut Evolutionstheorie im Überlebenskampf ganz klar im Nachteil. Was also haben wir davon, wenn wir anderen helfen? Man könnte argumentieren, dass selbstloses Verhalten von anderen beobachtet werden kann. Es ist durchaus denkbar, dass unsere Vorfahren einst besonders altruistischen Menschen Respekt entgegenbrachten. Vielleicht wurde ein großzügiger Jäger, der seine Beute geteilt hat, schneller als Anführer akzeptiert und hatte dadurch eine bessere Chance, seine Gene zu verbreiten. Anerkennung und Respekt sind enorme Triebfedern für menschliches Verhalten. Bis heute sind die höchsten Auszeichnungen, die überhaupt zu vergeben sind, die, die es für Selbstlosigkeit gibt: Sei es die Selig- und Heiligsprechung der katholischen Kirche, der Friedensnobelpreis, das Bundesverdienstkreuz oder die Tapferkeitsmedaillen der unterschiedlichen Armeen.
Indem Menschen sich gegenseitig helfen und unterstützen, vergrößern sie die Chance, das menschliche Gen zu erhalten. Eine Forschergruppe um Robert Kurzban hat die menschliche Hilfsbereitschaft genau analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass menschlicher Altruismus nicht so selbstlos ist, wie wir denken. Entweder nützt es den Nachkommen, einem selbst, dem Ausbau von Gemeinschaftlichkeit, oder aber sie ermöglicht das Erreichen von gemeinschaftlichen Zielen. Ohne soziale Fähigkeiten und ohne die Bereitschaft zur Zusammenarbeit wären Menschen nicht imstande, gemeinsam Großprojekte durchzuführen. Jede Zivilisation – in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart – basiert darauf, dass viele Menschen miteinander kooperieren. Manche glauben sogar, dass die Veranlagung zur Kooperation auf einem bestimmten Gen liegen könnte, sodass soziales Verhalten sozusagen vererbt wird. Dann wäre es aber auch möglich, dass ein konkurrierendes Gen eher eine Neigung zum Egoismus vererbt, denn es hat in der menschlichen Entwicklung immer beides gegeben: Individuen, die durch Zusammenarbeit Bahnbrechendes schufen, und solche, die sich durch machtorientiertes und selbstsüchtiges Handeln fortpflanzen konnten.
Die Spieltheorie
Wahrscheinlicher ist aber wohl doch, dass die Veranlagung zu beiden Extremen in jedem Menschen vorgegeben ist. Eine Person kann sich einmal kooperativ und selbstlos und ein andermal egoistisch verhalten. Die Spieltheorie hat die Frage, wieso dies so ist, auf spielerische Weise zu lösen versucht. In den 1950er-Jahren entwickelten Forschende in den USA das sogenannte Gefangenendilemma, um herauszufinden, wann Menschen sich kooperativ und wann egoistisch verhalten. Studienteilnehmer wurden gebeten, sich vorzustellen, sie hätten ein Verbrechen begangen und seien verhaftet worden. Sie können nun gestehen und wandern für zwei Jahre ins Gefängnis, oder aber sie behaupten, ihr Komplize hätte die Tat begangen. Dann kämen sie frei, allerdings nur, wenn die andere verhaftete Person nicht ebenso versucht, die Tat abzustreiten. In dem Falle müssten dann beide ins Gefängnis. Eine dritte Möglichkeit wäre, ein geringeres Vergehen zuzugeben und dafür ein Jahr ins Gefängnis zu kommen. Die frühen Experimente um diese und ähnliche Spielsituationen haben ergeben, dass Menschen die eigenen Vorteile sehr klar abwägen und daher oft auch egoistische Entscheidungen treffen, im Großen und Ganzen jedoch die kooperative Vorgehensweise vorziehen. Es ist ja auch wirklich so, dass langfristige Ziele eher durch kooperative Vorgehensweisen erreicht werden können.
Die moderne Spieltheorie ist dank der Computertechnik in der Lage, noch viel komplexere Spiele zu entwerfen und weitreichendere Fragestellungen zu untersuchen, etwa wie: Wann lohnt sich Kooperation und wann nicht? Wie viele Nachteile nimmt man in Kauf, um anderen zu helfen? Wie formieren sich Gruppen und Netzwerke? Können solche Spielsimulationen nachvollziehen, wie sich die Evolution entwickelte? Einer, der solche Fragen stellt, ist Martin Nowak, ein ursprünglich aus Österreich kommender Professor für Mathematik und Biologe an der Universität Harvard, dessen unrühmliche Verbindungen zu Jeffrey Epstein ihn 2020 vorerst seinen Job gekostet haben. Nowak ließ Computer-Spielvariationen so lange wiederholen, bis sich Muster bildeten und sich Gewinner hervortaten. Manchmal erstarkten die Kooperatoren (also die Spieler, die kooperierten), manchmal die Defektoren (die Spieler, die sich egoistisch verhielten). Wenn die Spiele lange genug liefen und alle Defektoren besiegt schienen, entstanden plötzlich neue Defektoren, also neue Regelverletzer, und das ganze Spiel begann wieder von vorn. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Entwicklung zyklisch verläuft. Tiere, Menschen, Nationen, Gene: Alle Organismen tendieren zur Kooperation, doch es ist genauso jederzeit möglich, dass die Entwicklung umkippt und alles wieder von vorne beginnt.
Die Spieltheorie hat darüber hinaus aber auch festgestellt, welche Dynamiken sich entwickeln, wenn Menschen miteinander in Verbindung stehen und sich zwischen Kooperation und Egoismus entscheiden müssen. Zum einen werden Egoisten, die nie kooperieren, von der Gemeinschaft abgestraft. Sie erzielen vielleicht zwischendurch hohe Gewinne, doch nur die »netten« Spielteilnehmer schaffen es, langfristig Verbündete zu finden und erfolgreich zusammenzuarbeiten. Wer andererseits zu nett ist und sich alles gefallen lässt, wird bald über den Tisch gezogen. Auch Spieler, die besonders nachtragend sind, werden von den anderen eher abgelehnt. Tatsächlich führen harte Strafen gegen Regelbrecher meist nicht dazu, dass die Kooperation sich verbessert. Eine Spirale von Vergeltung stört die Zusammenarbeit und bringt das Spiel ins Stocken. Genauso nachteilig wie Egoismus ist Neid, denn Spieler, die vom Gefühl getrieben werden, dass andere im Vorteil sind, haben es ebenso schwer, andere zur Kooperation zu gewinnen.
Lassen sich die Erkenntnisse der Spieltheorie auf das wahre Leben übertragen? Die erste Regel besagt, dass Kriminelle, die sich nicht an die Regeln halten, zwar die Chance auf hohe finanzielle Gewinne haben, aber auch Gefahr laufen, im Gefängnis zu enden. Sie müssen in jedem Fall mit der Angst leben, erwischt zu werden, und gewissermaßen immer am Rand der Gesellschaft leben.
Die zweite Regel zeigt, dass jemand weniger respektiert wird und selbst nicht mehr zum Zug kommt, wenn er zu nett ist, sich also immer breitschlagen lässt, nie Nein sagt und seine eigenen Interessen aus dem Blick verliert.
»Feindschaft ist nicht gut für das gemeinsame Spiel, das Leben heißt.«
Die dritte Regel besagt, dass man auch verzeihen können muss. Wenn andere die Regeln missachten und sich wenig kooperativ verhalten, sollte man dies anmahnen, um die eigenen Interessen zu vertreten. Man sollte aber keine großen Straf- oder Racheaktionen durchführen, denn sonst gerät man in einen Kampf darum, wer recht hat, oder man erschafft sich einen dauerhaften Feind. Feindschaft ist nicht gut für das gemeinsame Spiel, das Leben heißt.
Die vierte Regel lautet, dass Neid und Ungerechtigkeit die Motivation zur Kooperation schmälern. Hier scheint mir eine mögliche Antwort auf die Frage zu liegen, woran unsere Gesellschaft krankt. Es gibt einfach zu viele Menschen, die glauben, dass sie nicht das bekommen, was ihnen zusteht. »Die anderen bereichern sich, die Flüchtlinge bekommen das Geld noch hinterhergeworfen, die Politiker denken nur an ihre eigenen Vorteile« und viele ähnliche Vorwürfe kommen dann hoch.
»Wer den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hat, tritt aus dem kooperativen Spiel aus.«
Wer den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hat, tritt aus dem kooperativen Spiel aus. Wer Neid fühlt, glaubt nicht mehr daran, dass das Spiel fair ist, und sieht also auch keinen Sinn mehr darin, sich kooperativ, also hilfsbereit und altruistisch zu verhalten. Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Mitglieder sich unfair behandelt fühlen und die Gemeinschaft verlassen, läuft Gefahr, sich selbst zu zerstören.
Während die evolutionäre Psychologie bzw. Anthropologie nachzuvollziehen versucht, wie sich Empathie, Hilfsbereitschaft, Kooperation und Altruismus entwickelt haben, beschäftigt sich die Spieltheorie also mit den Mechanismen, nach denen Menschen ihre sozialen Fähigkeiten einsetzen. In jedem Fall wird klar, dass Kooperation als Lebensstrategie einen wesentlichen Anteil am Erfolg der Menschheitsgeschichte hatte. Egoismus ist möglich, verschafft aber meist nur einen kurzzeitigen Vorsprung und ist auf lange Sicht gesehen nicht erfolgreich. Angesichts der anstehenden Herausforderungen, vor denen wir stehen – Klimawandel, Artensterben und mögliche Vernichtung der lebensnotwendigen Ressourcen wie Wasser, Holz und Mineralien, Verteilungskämpfe und nukleare Schreckensszenarien –, ist eigentlich klar, dass Kooperation und Gemeinschaftlichkeit wichtiger denn je sind. Es gibt kaum etwas, das Menschen so aus der Bahn werfen kann wie das Gefühl, isoliert zu sein, ohne Bindung und Liebe zu leben und keinen Sinn im Leben zu finden. Spätestens am Ende des Lebens werden wir alle merken, dass es nicht die materiellen Dinge und beruflichen Erfolge sind, die das Glück des Lebens ausmachen, sondern die Beziehungen zu anderen Menschen. Das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, anerkannt und geliebt zu werden und der Gemeinschaft auch etwas zurückgeben zu können, ist das, was den meisten Menschen erlaubt, ihr Leben als sinnvoll zu erfahren. Und ohne diese Gemeinschaftlichkeit werden wir als Menschen nicht überleben.
Über die Autorin
Jo Eckardt hat Bücher zu Themen wie Trauma, Trauer und Kommunikation geschrieben. Das 2022 bei Kamphausen erschienene Buch »Das neue Miteinander« beschäftigt sich mit der Bedeutung von Gemeinschaft nicht nur für den einzelnen Menschen, von Geburt an bis ins hohe Alter, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Gemeinschaftlichkeit ist die größte Chance dafür, dass wir die Herausforderungen der Zukunft meistern können und die Menschheit am Ende überlebt.
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