Katrin Laux – Die Rückkehr der Tempelpriesterinnen

Eine Vision vom heiligen Leben

Wie mag die Heiligung von Sexualität in vergangenen Zeiten ausgesehen haben? Und was führte dazu, dass diese Heiligkeit verloren gegangen zu sein scheint? In einer fiktiven, futuristischen Erzählung nimmt Katrin Laux den Leser in sehr bildhafter Sprache mit auf eine Entdeckungsreise des Lebens der Tempelpriesterinnen, die diese Kunst der heiligen Sexualität lehrten.

Der Journalist ist ein junger Mann von gerade mal 25 Jahren, er heißt Erik und er ist mir sympathisch. Ich frage ihn, ob wir das Interview im japanischen Bassin machen können, weil es mir hier leichter fällt, in die Vergangenheit zurückzureisen. Unser Tempel hat Bereiche und Räume mit ganz unterschiedlichen Qualitäten und Funktionen, aber darauf kann ich später eingehen. Erst einmal entkleiden wir uns, steigen ins warme Wasser. Ich habe Getränke und Früchte bereitgestellt, wir räkeln uns in der Abendsonne. Wir schweigen, und ich bewundere seine Fähigkeit, mir die Zeit zu lassen, die ich brauche. Ich bin bereit, ihm alles zu erzählen, heute an diesem 1. August 2030. Vom Bau dieses Tempels vor drei Jahren, von der Budapester Konferenz 2026, von den großen Unruhen davor, der tiefen Dunkelheit und dem Sinn darin. Später werde ich feststellen, dass wir uns hier nicht zufällig getroffen haben, und Dankbarkeit wird mich überwältigen. Momentan ist es eher eine Ahnung. »Wir beginnen in der Gegenwart, einverstanden?«, höre ich seine Antwort auf die nicht gestellte Frage.

»Wie kam es dazu, dass dieser Sinnes-Tempel gebaut wurde?« Der Archetypus der Tempelpriesterin begleitet mich schon viele Jahre. Informationen darüber habe ich begierig aufgesogen. Mein ganzer Lebensweg hatte mehr oder weniger mit Sexualität zu tun. Vor etwa 15 Jahren begann das Große Erinnern. Zuerst als verschwommene Bildfetzen verschiedener Inkarnationen: als Tempelpriesterin, als Hure, als Folterer, als Indianerin … Diese Erinnerungen sind Teile eines riesigen, weltumspannenden Puzzles, das zu einem Ganzen werden will. Ein Meilenstein dabei war die Budapester Konferenz, bei der die Länder Europas sich neue Regeln und Gesetze für ihr Zusammenleben gaben. Visionen verschiedenster Lebensbereiche wurden ausgetauscht, und wir waren dabei. Danach stürzten sich die Medien auf unser Thema, und das Ministerium für Liebeskultur fand es wichtig, einen Ort zu erschaffen, wo die Liebe in all ihren Formen unterrichtet und erfahren werden kann.

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»Erzähl mir von der Budapester Konferenz, wie seid ihr dort hingekommen?« Während der großen Unruhen wurde unsere Arbeit immer wichtiger. Sie nannten uns damals Prostituierte, Huren, du erinnerst dich vielleicht. Wir wurden als solche registriert, auch wenn wir nur Massagen gaben. Einige von uns hatten die ausgeprägte Fähigkeit, innere Entzündungen zu heilen. Damit meine ich all die Emotionen, die die Menschen seit Beginn der 2020er-Jahre vergifteten, krank machten, Freunde zu Feinden werden ließen. Unsere Fähigkeiten sprachen sich schnell herum. Wir wurden gerufen, wenn eine Demonstration zu eskalieren drohte, wenn es Verletzte gab, wenn jemand sich verstecken musste. Ich will dir ein Beispiel geben. Ich weiß noch, wie wir an einem kalten Novembertag auf dem Heimweg in eine Straßenschlacht gerieten. Ein Mann stand zitternd vor Wut in der Menge und rief immer wieder: »Euer Gift hat meine Frau umgebracht! Ich töte euch alle!« Wir stellten uns an seine Seite und fokussierten uns auf das, was wir gelernt hatten. Immer mehr der alten Techniken kamen uns im Laufe dieser Monate in Erinnerung. Ich legte meine Hand auf seinen Arm, nickte und sagte Ja, einfach nur Ja. Was er nicht aus meinem Mund hören konnte, was ich telepathisch übertrug, war, dass auch ich seine Frau bin und dass mir nicht nach Rache ist. Er beruhigte sich, wir zogen ihn beiseite und redeten noch lange mit ihm. Wir hielten Menschen vom Selbstmord ab, trösteten Frauen, deren Männer gestorben waren. Wir vermittelten und heilten, und es war uns selbst ein Wunder, was wir in diesen Zeiten bewirkten.

Das Geheimnis war, dass wir uns nicht abhalten ließen, lustvoll zu sein, was unsere Angst in Mut verwandelte. Aus dem Stigma wurde allmählich eine Auszeichnung. Als sich die neue Regierung bildete, drängten wir darauf, dass unsere Stimmen gehört und unsere Erfahrungen genutzt werden sollten. So kam es, dass meine Freundin Klara zur Budapester Konferenz eingeladen wurde und ich sie begleiten durfte. Durch ein Losverfahren bekam Klara die Möglichkeit, einen Vortrag über unsere Arbeit zu halten. Die ganze Welt hörte zu. Es waren unglaublich bewegende, lebendige Zeiten damals. Unser Zug, mit dem die Delegierten aus Deutschland nach Ungarn fuhren, war geschmückt, ein Waggon war zu einem großen Begegnungsraum umgestaltet worden. Auf der Rückfahrt saßen wir eng beieinander und versicherten uns immer wieder: Diese Konferenz war der Schlussstein. Wir haben gewonnen. Es ist vorbei. Der Machtwechsel auf der Erde hat stattgefunden. Die Erleichterung senkte sich so tief in unsere Zellen, dass wir nicht aufhören konnten, uns zu umarmen, zu lachen, zu weinen.
Als es dunkel wurde und an den Zugfenstern Nachtlichter vorbeihuschten, begann Klara zu tanzen. Es war ihr Dank an die Welt, die uns jetzt Respekt entgegenbrachte. Wie hatten wir uns danach gesehnt über die Jahrtausende hinweg!

Das große Erinnern

Erik schweigt eine Weile, bis er seine nächste Frage stellt. »Du sprichst von dem Erinnern – was meinst du damit?« Es gibt Dinge, die so unsagbar sind, dass die Erinnerung gern einen Bogen darum machen würde. Wir lassen das nicht mehr zu. Erinnern brachte die Wende. (Es ist inzwischen zum Schulfach geworden, ebenso wie Glück.) Bis dahin hatten allein Fakten gezählt. Es gab Faktenchecker, und man fütterte uns mit Zahlen bis zum Erbrechen. Bis wir feststellten, dass Fakten – und mit ihnen die gesamte Wissenschaft – ohne das Fundament der Ethik nicht das Geringste wert sind.

Die Hauptaufgabe der Priesterinnen war jedoch, Frauen und Männer die Kunst der Liebe zu lehren.

Mein Erinnern begann ein paar Jahre vor der großen Zeitenwende auf einer Wiese am Feuer, als ein Lichtwesen erschien, das sich Artemisa nannte. Sie zeigte mir ihren Tempel, in dem ich vor vielen Tausend Jahren Priesterin war. Vor etwa 10.000 Jahren wurde unser Tempel erbaut und vor 4.000 Jahren zerstört. Er lag im Zweistromland nahe bei einer Stadt und hatte die Form eines Ovals. Das Treiben war oft so geschäftig, dass man von einer Stadt selbst sprechen konnte. Wir bauten Nahrung und Kräuter an und handelten damit, wir heilten und unterrichteten, wir verstanden uns auf Rechtsprechung und vollzogen Trauungen. Die Hauptaufgabe der Priesterinnen war jedoch, Frauen und Männer die Kunst der Liebe zu lehren. Frauen durften ein Jahr lang bei uns dienen, sie durften Erfahrungen sammeln mit Gästen aus fernen Ländern und wurden dafür bei uns hochgeschätzt. Kein Mann wollte eine Frau heiraten, die nicht dieses Wissen in sich erweckt hatte. Keine Frau wollte sich mit einem Mann einlassen, der seine Aufgaben und seine Kraft nicht kannte. Artemisa erschien mir von da an noch oft in dieser Zeit. Ich erlebte Schönes und Grausames. Mit jedem Erinnern holte ich einen Teil meiner Kraft zurück.

Katrin Laux Sofian Krüger

Sexualität im Tempel

»Kannst du etwas darüber erzählen, wie in diesem Tempel Sexualität gelebt und was unterrichtet wurde?« Wenn wir uns begegneten, nahmen wir Verbindung zueinander auf und wussten telepathisch, was der andere uns sagen wollte. So gab es damals keine Lüge in der Welt. Uns umhüllte ein Kokon von Energie, wie ein Ei. Der schützte uns, trug uns, und wir strahlten und hatten tiefes Glück im Herzen. Wenn dieser Kokon dünn wurde und Löcher bekam, durch Krankheit, Kämpfe oder karmische Verstrickungen, vereinigten wir uns mit einem Partner und luden den Kokon wieder auf, wir reparierten ihn. Später, als die Zeiten rauer geworden waren, die Priester männlich und sie der körperlichen Liebe entsagten, trugen sie diesen Kokon nur noch um den Kopf herum – als Heiligenschein.

Sexualität war für uns damals so selbstverständlich, dass es kein Wort dafür gab.

Sexualität war für uns damals so selbstverständlich, dass es kein Wort dafür gab. Wir waren umgeben und durchdrungen von ihr. Sie war die Urlust der polaren Kräfte, sich zu vereinen – ein Verweben, ein Tanzen immerzu. Wir kannten keinen Trieb, aber wir kannten Ekstase. Wir nutzten dafür auch die Zauberwesen der Natur, um in andere Bewusstseinsräume zu gelangen. Später wurden sie Suchtmitteln gleichgestellt, Drogen genannt und ebenso respektlos behandelt wie wir. 

Wir kannten keinen Trieb, aber wir kannten Ekstase.

Es gab im Tempel Initiationen und es gab Unterricht. Die meisten Tempelpriesterinnen waren Frauen, aber es gab auch Männer unter uns, die sich besonders berufen fühlten und spezielle Aufgaben übernahmen. Sie waren die Verkörperung des Göttlichen in Zeremonien. Sie brachten anderen Männern bei, wie sie im Akt der Vereinigung einen Schutz machen konnten. Hier waren die energetischen Kanäle weit offen und Hungerwesen waren begierig darauf, Energie abzusaugen. Die Männer schützten unseren Raum. Sie konnten mit ihrem Willen Löwen bändigen. Tiere waren unsere Gefährten und unsere Lehrmeister, denn Zerstreutheit in wesentlichen Augenblicken bedeutete hier Gefahr.

Im Roten Zelt trafen sich Frauen, die gemeinsam menstruierten. Wurde ein Mädchen zur Frau, wurden wir zur Initiation gerufen. Sie wurde mit unserem Zaubertrank auf eine innere Reise geschickt, von der sie als Frau zurückkam. Eine Priesterin salbte, massierte und weihte ihren Schoß. Von da an wusste die junge Frau, wie Lust sich anfühlen konnte und was ihr Schoß brauchte, nämlich Sicherheit, Liebe und Würdigung. Es war ihr fortan unmöglich, mit weniger zufrieden zu sein. Ein Junge erfuhr von Männern, was Mannsein in unserer Zeit bedeutete. Er wurde im Wald ausgesetzt und musste zeigen, dass er gelernt hatte, mit Tieren zu sprechen und das Gras wachsen zu hören. Um ein Krieger zu werden, lernte er, was Erobern heißt – nämlich Geduld, Mut und sich selbst treu zu bleiben. Keine Frau mag einen Mann, der ihr zuliebe seinen Weg nicht geht.

Und wir heilten mit Liebe! Wir hatten wunderbare Räume, in die jeder kommen konnte, der krank war. Wir musizierten und entfernten ungute Verstrickungen mit Klängen. Wir spielten Theater, um Handlungsspielräume zu zeigen. Wir legten uns zu den Kranken – und unsere Energie vertrieb die Krankheit aus den Körpern. Wir räucherten und nutzten Pyramiden. Zu uns kamen Menschen von weit her. Die Priesterinnen und Priester wussten, was zu tun war.

Das Liebesspiel

»Und wie sah das damals praktisch aus mit der Liebe?«, lässt der Journalist in ihm nicht locker. Ich richte mich auf, nehme einen Schluck der köstlichen Kräuterlimonade, die wir nach altem Rezept herstellen. Sie öffnet Türen. Das Erinnern setzt wieder ein. Ich sehe mich mit einem Mann in einem großen Kreis sitzen, wir sitzen sehr lange voreinander, bis wir ein großes JA fühlen und es nichts anderes mehr gibt als dieses JA. Dann beginnt der Tanz. Der Körper übernimmt die Führung. Wenn wir präsent sind, ist seine Weisheit unbeschreiblich. Von außen betrachtet sah es nicht viel anders aus als heutiger Sex, wobei der Koitus oft eher symbolisch vollzogen wurde. Das Bewusstsein ist der Unterschied, das Wissen um die energetische und spirituelle Dimension. Die Zeit, die stillsteht. Die Atmung, die anders gelenkt wird. Die Verbundenheit, die wir spüren. Die Räume, die sich öffnen.

Ich sah mich später auch in anderen Inkarnationen, in anderen Teilen der Erde. Es gibt unendlich viele Formen, Sexualität zu praktizieren. Was damals, vor der Zeit der großen Dunkelheit, allen Völkern gemeinsam war, waren gelebte Ekstase und das Bewusstsein, dass Sex ein heiliges Geschenk ist. Mit heilig ist nicht gemeint, dass sanfte Musik spielt, sich alles behutsam und langsam vollzieht, die Hände vor der Brust zusammengelegt. Heilig kann animalisch sein, kann an die Tore der Unterwelt klopfen, kann rituell sein. Heiligkeit ist Freiheit und ein Gefühl absoluter Stimmigkeit.

Einmal erlebte ich mich in Sibirien. In diesem Stamm wurde Sexualität in einem gemeinsamen Ritual praktiziert. Wir spürten, wenn die Zeit dafür herannahte. Die Männer, die sich gerufen fühlten, gingen in den Wald, ich sah nicht, was sie taten, aber wenn sie zurückkamen, waren sie von unglaublicher Kraft und Schönheit erfüllt. In der Nähe unseres Dorfes lebten ein paar Bären, mit ihnen verbrachten wir Frauen den Tag vor der Zeremonie. Wir rieben uns an ihrem Fell, wir balgten mit ihnen herum, bis wir es kaum erwarten konnten, den Männern zu begegnen. Sie fingen uns ein, banden uns aneinander und reizten unsere Bärenkraft, bis wir den Verstand verloren.

Die Rolle von Mann und Frau

»Wie war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und wie sollte es heute sein?« Auf diese Frage habe ich gewartet, aber ich muss etwas ausholen. Die Antwort wird so leicht missverstanden, gerade in dieser neuen Zeit. Wir brauchen jetzt keine Rückkehr ins Matriarchat, wir brauchen neue Rollenmodelle für Frauen und Männer, die berücksichtigen, dass wir zwar gleichwertig sind, aber keinesfalls gleich. Gerade die Würdigung der Unterschiede bringt uns Kraft und Ausstrahlung zurück. Die Rückkehr zum spirituellen Urgrund unseres Seins lässt uns erleben, dass wir beides in uns haben. Hat unsere Seele einen weiblichen Körper gewählt, ist der männliche Pol unsere spirituelle Seite, bei den Männern entsprechend andersherum. So sind wir verbunden und ganz. Wenn wir uns nur aufs Materielle beschränken, sind wir halb. Kommt ein Mensch ohne spezifische Geschlechtsmerkmale auf die Welt oder fühlt er sich im falschen Körper, hat seine Seele die Wahl getroffen, besondere Erfahrungen zu machen. Dem gilt es, Respekt zu zollen, nur sollte sich nicht eine ganze Gesellschaft davon beirren lassen.

Ja, wir Frauen hatten damals sehr viel Macht. Wir sorgten für das emotionale und spirituelle Gleichgewicht der Gemeinschaft. Ich versuche, zu erinnern, was Artemisa mir beschrieb. Das Sonnenlicht, das Feuer, der aktive Pol, die göttliche Präsenz vereinigt sich mit der Erde, dem empfangenden Pol, aus dem wiederum alles hervorgeht, was Form und Gestalt hat; alle Materie – die Mater. Das Weibliche ist die Ausformung, die Vielfalt an Gestalt, letztlich reine Energie. Eine zarte Blume besteht aus demselben Urgrund wie rauer Fels. Die Frau in der alten Kultur ruht in ihrer Kraft. Sie ist eine Königin. Sie braucht für die körperliche Liebe eine Struktur, um grenzenlos zu sein. Sie will sich verschenken, wie ein Baum voller Äpfel. Sie möchte nicht darum bitten müssen, dass jemand ihre Äpfel pflückt, sie möchte sie nicht faulen lassen, denn das macht sie hilflos, wütend und emotional.

Der männliche Pol ist reines Bewusstsein. Nur durch Bewusstsein kann Energie zur Wirklichkeit werden. Der Mann in unserer Kultur ist der Frau ebenbürtig und erweist sich ihrer Liebe würdig. Er hält ihre Emotionen aus, ihre zyklischen Besonderheiten, und besteht ihre Tests. Die Frau spürt, ob ein Mann mutig genug ist, dass er für sie töten würde, um sie zu beschützen. Ob er ihr zuliebe seine Kraft kontrollieren kann und bereit ist, alle Äpfel aufzusammeln – Energie-Äpfelchen, die er mit seiner Penisspitze pflückt. In jedem Augenblick – wovon es letztlich nur einen einzigen gibt – vereinen sich männliches und weibliches Prinzip, machen Heilige Hochzeit miteinander und halten das Weltgeschehen aufrecht. Ein großer Liebestanz, der unsere Welt zusammenhält.

Die dunkle Seite

»Wenn es gut war, warum begann es, sich grundlegend zu ändern?« Die Antwort darauf gehört zu meinen Lieblingsgeschichten, lasse ich Erik wissen. Mit ihrer Hilfe kam ich gut durch die Zeitenwende. Sie wird immer populärer und ersetzt sogar in Schulen inzwischen die These, dass wir vom Affen abstammten. Also … Die Quelle, die viele Namen hat, hatte sich entschlossen, Leben zu erfahren, sich aufzuspalten in unzählige Spielarten. Seitdem tobt und flirrt die Welt. Die Quelle erschuf Wesen des Lichts nach ihrem Bilde. Sie gab ihren Kindern alles mit, was auch sie ausmachte; die Fähigkeit zu erschaffen, reine Liebe zu sein. Aber vor allem eines: den freien Willen. Eines dieser Lichtwesen, später sollte man ihn Luzifer nennen, kam nun auf die Idee: Wenn ich eine Mauer baue und Dunkelheit schaffe, dann kann ich etwas, was die Quelle nicht kann. Ihn durchfuhr das unbeschreibliche Gefühl der Macht, größer zu sein als Gott. Die Quelle sah die Qual der Wesen, die sich vom Licht abgetrennt hatten und den Weg zurück nicht mehr fanden, und ersann einen Plan. Es sollte einen Ort geben, wo die Lichtwesen den Mächten der Finsternis so nahe kommen, dass sie sie verführen können, sich für die lichte Seite zu entscheiden. Dafür erschuf Gott die Erde, die göttliche Gaia. Die Lichtwesen verlangsamten ihre Energie über sieben Stufen herab, verdichteten sich allmählich und materialisierten sich zu Menschen. Sie bekamen einen Körper, behielten den freien Willen und waren anfangs voller Freude und Unschuld. Die Wesen der Finsternis wurden angelockt und entdeckten uns Menschen als Energiequellen. Denn nicht mehr mit der Quelle verbunden zu sein, heißt, ständig hungrig und auf der Suche nach Nahrung zu sein. So inkarnierten auch die Wesen der Finsternis in menschlicher Gestalt auf der Erde und machten Menschen zu Untertanen – durch Gewalt, Angst und Lüge.

Die Lichtwesen, deren Natur es ist, zu lieben, hatten nicht immer die Kraft dazu. Zum Zeitpunkt gewaltsamer Tode starben sie mit Wut, Rache, Angst. So entstanden die ersten Karmaketten, und so kam ein Teil der Finsternis in jeden von uns. Vor 5.000 Jahren begann das Zeitalter der Spaltung und Täuschung. Überall auf der Welt erzählen die alten Kulturen davon. Sie sagen auch, dass jetzt dieses Zeitalter zu Ende ist.

»Welche Rolle war euch Tempelpriesterinnen dabei zugedacht?« Magst du noch eine Geschichte? Es ist eine der Schlüsselgeschichten der frühen Tempelzeit, und ich war dabei. Ein Mädchen, das erst kurze Zeit in unserem Tempel diente, kam aufgeregt zu mir gerannt. »Finde dich heute Abend bei Sonnenuntergang im Steinkreis ein, es wird eine ganz besondere Zeremonie geben! Eine Zeremonie!« Das Mädchen hüpfte weiter barfuß durch die Wiese zu den anderen Behausungen. Die Älteren von uns hatten jeweils eine Hütte, in der wir unsere Übungen machten, das Universum bewunderten und träumten. Einmal am Tag kamen wir alle im Tempel zusammen, wir tauschten uns aus, nährten uns und bekamen unsere Lektionen. Zeremonien gab es, wenn Neue aufgenommen wurden oder bestimmte Prüfungen anstanden. Oder um die göttlichen Wesen zu feiern, die uns ab und an besuchten. Dann war es also wieder so weit. Besuch von den Sternenvölkern würde kommen.

Nachdem die Sonne untergegangen war, wurden die Feuer entzündet. Und tatsächlich, da landeten sie. Sie stiegen aus ihren Raumschiffen und kamen zu uns. Wie immer, wenn solch hoher Besuch uns beehrte, ergriff mich eine Welle der Liebe, die über das hinausging, was mich ansonsten durchströmte. Unsere Besucher, insgesamt zwölf Frauen und Männer, gingen herum und segneten uns. Dann begannen sie zu erzählen. »Wie ihr wisst, werden sich die Zeiten ändern. Unvorstellbares wird auf der Erde geschehen. Gerade haben wir uns von den kosmischen Kämpfen erholt, die uns zuletzt die Sintflut brachten. Ihr habt wieder genug zu essen, weil wir euch neue Pflanzen schenkten, wie Mais und Reis, und Tiere, die euch Milch und Kleidung geben. Was jetzt auf uns zukommt, bringt uns nicht nur den Tod, mit dem wir umgehen können. Was jetzt auf uns zukommt, ist die größte Prüfung überhaupt, denn ihr werdet vergessen, wer ihr seid. Lüge und Spaltung werden auf die Erde kommen, und damit die Angst.« Die Besucher machten eine lange Pause, bis ein junges Mädchen fragte: »Was ist das, die Angst?« »Du wirst nicht mehr die große Mutter fühlen. Du wirst Dinge tun, die du eigentlich nicht tun willst. Du wirst, wenn du nicht achtgibst, werden wie sie, wie die Herrscher der Finsternis.« Neugierig beugten wir uns vor, um kein Wort zu verpassen. Ja, wir hatten davon gehört. Also sollte jetzt der Plan beginnen. »Wenn du trotzdem bereit bist, wieder und wieder auf der Erde zu inkarnieren, um den Wesen der Finsternis zu helfen, wenn du deinen Schwur erneuern willst, dann erhebe dich.«

Ohne zu zögern, leise und entschlossen, standen wir auf, ausnahmslos alle. »Dann stimmt ihr also zu. Das freut uns. Ihr habt dabei eine überaus wichtige Mission zu erfüllen.« Wieder schwiegen die Abgesandten. Feierlich sprach einer von ihnen die Worte, die sich in mein Herz brannten. »Der Rat der Sternenvölker hat beschlossen, euch Werkzeuge mitzugeben. Wir können nicht verhindern, dass sie euch Böses antun. Wir können nicht verhindern, dass ihr dem Vergessen anheimfallt, denn nur so erfüllt sich der Plan. Aber wir zeigen euch einen Kompass und Energiequellen, die wie eine Nabelschnur sind. Wir verknüpfen sie mit etwas, was ihr als Menschen immer tun müsst: Ihr müsst euch fortpflanzen. Das, was ihr jetzt als Seinszustand empfindet, wird später Orgasmus heißen. Diese Fähigkeit werdet ihr nie verlieren. Gebt gut auf diese Werkzeuge acht, ihr seid ab jetzt deren Hüter.«

Freude ist Liebe in Aktion.

»Du wirst jetzt sicher die Werkzeuge erklären, ja?« Das ist nicht kompliziert, bemerke ich. Der Kompass besteht aus Atem, Schönheit und Freude. Der Atem ist wie ein Anker auf hoher See. Er hält dich im Moment, er zeigt dir den Weg zu deinem inneren Frieden. Die Schönheit ist der Trost, den die Quelle uns für unsere Mission mitgab. Nirgendwo im Weltenraum gibt es so viel Schönheit wie auf dieser Erde! Sogar die Lichtwesen beneiden uns um die Fähigkeit unserer Sinne, all die Schönheit wahrzunehmen. Der dritte Kompass ist die Freude. Freude ist Liebe in Aktion. Wenn du wissen willst, wo es zur Göttlichkeit geht, folge der Freude. 

Die Energiequellen, die uns als Werkzeuge anvertraut wurden, sind Ekstase, sexuelle Lust und Orgasmus. In uns allen schlummert die Sehnsucht nach Intensität. Ekstase ist unerlässlich für alchemistische Prozesse, für jede Art von wirklicher Veränderung, von Transformation. Die Wege zur Ekstase sind vielfältig, Tanz gehört dazu oder das Versinken in Stille. Aber kaum ein Werkzeug ist so mächtig wie der Magnetismus zwischen Frau und Mann. Während des Orgasmus löst sich unser Ich auf, wir sind wieder mit der Quelle verbunden, erinnern uns an unseren Ursprung und unser Zuhause.

Missverstandene Sexualität

»Was ist dann passiert, dass ihr aufhörtet, Tempelpriesterinnen zu sein?« Weil die Mächte der Finsternis uns kontrollieren mussten, um ihre Macht, ihren Reichtum zu vergrößern, hielten Lüge und Verrat Einzug, und es wurde immer schwerer, unsere Tradition zu bewahren. Wenn Menschen in Liebe vereint sind, haben die Wesen der Finsternis keine Chance. Also mussten sie die spirituelle Verbindung kappen und die sexuelle Nahrung wegnehmen, wollten sie die Menschen beherrschen. Sie mussten Angst auf die Erde pflanzen. Wie machten sie das? Sie säten zum Beispiel Zwietracht zwischen Mann und Frau, sie griffen in die Geburt ein und sie vernichteten das Wissen.

Sie sagten als Erstes, die Frau sei dem Manne Untertan, obwohl sie bis dahin die Hüterin und Bewahrerin der Erde war. Sie hielten den Mann davon ab, die Frau zu beschützen, und verwickelten ihn in Kriege. Die Frau konnte ihn die Liebe nicht mehr lehren, weil sie selbst bedürftig war. Jetzt war die Urverletzung der Frau gegenüber dem Mann, dass sie ihren Schoß verschloss. Sie achtete seine Autorität nicht, sie liebte nicht die Kraft seines Schwanzes. Sie verhinderte, dass der Mann seine Bestimmung erfüllte, die reifen Äpfel zu pflücken. Die Frauen waren keine Königinnen mehr, sie waren zu Bettlerinnen geworden.

Die Urverletzung des Mannes gegenüber der Frau war, dass er aus Ungeduld nahm und forderte, was sie ihm gern geschenkt hätte. Er penetrierte sie, bevor ihr Schoß sich öffnen wollte. Er endete, bevor er ihre Äpfel allesamt gepflückt hatte. Damit beraubte er sich der Möglichkeit, die wahre Liebe zu erfahren. Seine Kraft brannte aus, weil sie nicht in der Vereinigung genährt wurde. Die größte Katastrophe in dieser Welt war, dass wir die körperliche Liebe verlernt hatten – und verlernt hatten, ihr Respekt zu zollen.

Sie sagten als Zweites, die Frau solle in Schmerzen gebären, und verboten ihr, die alten Zaubermittel anzuwenden, die aus einer Geburt einen Megaorgasmus machen. Es ist kein Zufall, dass die Klitoris den Geburtskanal umschließt. Wenn ein Kind mit orgiastischen Botenstoffen im Blut auf die Welt kommt, wird es wissen: Die Erde ist ein wunderbarer Ort. Wenn es mit den Botenstoffen von Angst und Schmerz auf die Welt kommt, wird es fortan misstrauisch sein und ebenfalls Angst haben.

Und weil als Drittes die Sehnsucht nach wirklicher Vereinigung unauslöschlich in jeder menschlichen Zelle verankert ist, mussten die Wesen der Finsternis alle Tricks und alle Macht anwenden, um die Menschen von dieser Glut zu trennen. Sie verknüpften die heilige Verbindung mit Gewalt. Sie sagten, dass es Sünde sei. Sie machten daraus einen banalen Freizeitspaß. Sie verfolgten und verbrannten freie Menschen. Kurzum: Weil sie die Sexualität nicht von der Erde verbannen konnten, wiesen sie ihr den Platz auf dem Hinterhof zu, bei den Ratten und Mülltonnen. Wo doch ihr Platz vorher im Thronsaal zwischen König und Königin war und man auf dem roten Teppich zu ihr hinschritt.

Wir kannten uns kaum noch aus mit diesen Dingen, unsere Werkzeuge waren stumpf geworden. Aber weil es die Aufgabe unserer Seelen war, die Fackel der Lust durch diese dunklen Zeiten zu tragen, nutzten wir jede noch so geringe Möglichkeit. Wir zelebrierten unsere Rituale und trugen das Wissen in unseren Zellen weiter, auch wenn wir dafür als Huren, als Ehebrecher oder einfach als lustvolle Menschen geächtet, gesteinigt oder gefoltert wurden. Wir mussten es tun, denn wir hatten ein heiliges Versprechen gegeben. 

Aufgaben für eine neue Zeit

»Was sind jetzt eure Aufgaben, in dieser Zeit?« Sollen Liebe und Erotik glücken, braucht es mehr, als den Trieben und Mustern zu folgen. Bestimmte Fertigkeiten, Einstellungen und Tugenden sind notwendig, außerdem Erfahrungsräume und Menschen, die andere auf diesem Weg begleiten. Ich schaue Erik einen Moment lang an, wieder überkommt mich diese Ahnung. Ich stehe auf und werfe ihm einen Kimono zu. »Komm mit, ich will dir etwas zeigen!« Wir gehen durch die Hallen, die in unterschiedlichen Farbtönen und Stilen gebaut sind. In einem Bereich ist das Café untergebracht, die Besucher diskutieren hier oder lesen. Zur Budapester Konferenz haben wir uns darauf geeinigt, dass Bildschirme aller Art und Mobiltelefone nur im Beruf und in dringenden Fällen verwendet werden sollten. In anderen Bereichen finden sich Massageräume, Saunen oder Heilungsbetten, die neuzeitliche Technik nutzen und mit elektromagnetischen Schwingungen den genetischen Urzustand wiederherstellen können. In den letzten Jahren wurden wir immer wieder überrascht von technischen Möglichkeiten, die uns schon seit langer Zeit vorenthalten worden waren und jetzt unser Leben wirklich erleichtern.

Dann stehen wir in der Tempelhalle mit den Skulpturen und Obelisken und dem Yoni-Lingam-Altar. »Das ist unsere Kirche, nur ohne Folteropfer mit blutenden Wunden«, scherze ich. Die Kuppel ist rund mit einem Glasdach, das sich auffächern lässt, sodass wir Zeremonien unter freiem Himmel abhalten können. Der Architekt hat unsere Vorstellungen nicht nur umgesetzt, sondern weit übertroffen. Er hatte Geomanten hinzugezogen und ein energetisches Meisterwerk geschaffen. Das neue Ministerium fand zu Recht, dass diese Räume für Liebe, Lust und Heilung viel dringender benötigt wurden als eine christliche Kirche und dass sie jedem offenstehen sollten.

Erik setzt sich auf eine der einladenden Bänke, die mit weichem Fell überzogen sind. Er hat die Augen geschlossen, und ich weiß, dass auch er sich jetzt erinnert. Leise beginnt er zu sprechen. »Ich sehe dich. Man hat dich aus dem Tempel vertrieben, nachdem du mit ansehen musstest, wie die Frauen deines Tempels von Horden fremder Männer geschändet und getötet worden waren und nachdem man dir einen Fuß abgehackt hatte, damit du nicht weglaufen konntest. Ich wusste, dass du sterben würdest ohne Hilfe, und ich blieb bei dir. Wir bettelten und manchmal aßen wir den Staub der Straße. Dann verließ ich dich, denn ich hielt es nicht mehr aus.« – »Ist es nicht wunderbar, dass wir uns wiedergefunden haben?«, tröste ich Erik. Wir nennen diesen Raum auch Tempel des Erinnerns, fast jeder erinnert sich hier. So viele Menschen haben hier ihre gemeinsamen Geschichten entdeckt, sich erkannt und vergeben. »Willst du noch ein Schlusswort für deinen Artikel? Es hat sich gelohnt, jedes einzelne der 5.000 Jahre durchzuhalten. Es hat sich verdammt noch mal gelohnt.«

Katrin Laux

Zur Autorin

Katrin Laux gründete das AnuKan-Zentrum, in dem Menschen ermutigt werden, Wissen um Sexualität und Spiritualität durch den Weg der Erfahrung für ein selbstbestimmtes, freudvolles Leben zu nutzen. Sie ist u. a. Heilpraktikerin (Psy) und Sexualberaterin, seit über 20 Jahren Masseurin für Sinnliche (Heil-)Massagen und absolvierte eine dreijährige schamanische Ausbildung »Der Weg des offenen Herzens« (Schweiz).

Literature

Quellen, die zu diesem Artikel inspirierten:

Armin Risi: »Machtwechsel auf der Erde«, Heyne Verlag / »Ihr seid Lichtwesen«, Govinda Verlag

Barry Long: »Making Love«/ »Deine Liebe le- ben«, MB Verlag

Sabine Lichtenfels: »Tempel der Liebe«, Meiga Verlag

Osho: »Mut – Lebe wild und gefährlich«, Ull- stein Verlag

© Die Bilder wurden uns freundlicherweise von Sofian Krüger zur Verfügung gestellt. sofian-photography.com

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