Ken Wilber – Dem Urgrund des Seins auf der Spur

Sind wir mehr als das Ego?

In diesem Interview teilt der integrale Philosoph Ken Wilber sein Verständnis von einem der häufigsten Themen spiritueller Befreiungswege: der Erfahrung des Erwachens und der Erkenntnis des non-dualen, mit allem verbundenen Selbst. Gleichzeitig integriert Wilber die Bewusstseinsstufen, die die Perspektive des Subjekts auf die Welt prägen und von keiner spirituellen Tradition bisher beschrieben wurden. In seinen Augen jedoch müssen Aufwachen und Aufwachsen Hand in Hand gehen, um eine friedliche und integrale Gesellschaft zu gestalten.

Frage: Wir befinden uns heute an einem Zeitpunkt der Evolution, wo mehr Menschen sich daran erinnern, wer wir wirklich sind: Wir sind nicht nur ein Individuum oder ein Ego. Es gibt etwas Tieferes, das uns ausmacht. Deshalb stellt sich die Frage, was ist das Wesen des wahren Selbst oder absoluten Bewusstseins im Unterschied zum relativen Bewusstsein des Egos?

Ken Wilber: Das ist eines der häufigsten Themen der großen Befreiungswege oder Wege des Aufwachens. Dabei besteht die grundlegende Entdeckung weltweit darin, dass der Mensch mindestens zwei verschiedene Identitäten besitzt. Eine davon ist ein fragmentiertes, leidendes, entfremdetes Selbst. Und das andere ist unser wahres Selbst, das erwachte Selbst, das wir wahrhaft und wirklich sind. 

In den meisten großen meditativen Traditionen wurden Praktiken entwickelt, die uns dabei helfen, unser Gewahrsein von der Identifikation mit dem kleinen, entfremdeten, begrenzten Selbstempfinden zu lösen, um unser wahres Selbst zu entdecken, das eins mit dem Urgrund des Seins ist. Dieses Erwachen erfüllt uns mit tiefer Sinnhaftigkeit, Glück und tiefer Freude. 

Wenn dich also jemand fragt: Wer bist du? Dann könntest du beispielsweise sagen: Ich heiße soundso, ich bin soundso viele Jahre alt, ich bin so groß, wiege so viel. Ich habe einen Universitätsabschluss in diesem Studienfach, ich arbeite in diesem Beruf und verdiene so viel Geld. Ich habe keine Partnerin, keinen Partner usw. Du beschreibst also das, was du für dein Selbst hältst.

Bei dieser Liste und in Bezug auf das Selbst, das du beschrieben hast, wird dir auffallen, dass es sich um Objekte handelt, die wir sehen können. Immer, wenn du nach innen schaust und dich selbst beschreibst, dann betrachtest du dein Inneres als ein Objekt, das du sehen kannst, ein Objekt des Gewahrseins. Und dann beschreibst du, was es ist, und nennst es: Ich.

ICH-SEIN

Die Weisheitstraditionen weisen darauf hin, dass all dies Objekte sind, die wir sehen können. Aber keines dieser Objekte ist der Beobachter dieser Objekte. Denn wer sieht das alles eigentlich, wenn du die Dinge beschreibst, die als Objekte durch dein Gewahrsein ziehen? Wer ist das wahre Subjekt? Wer ist das wahre Gewahrsein, das wirkliche Selbst? So haben wir versehentlich unser wahres Selbst gefunden: den reinen Zeugen, den wahren Sehenden. Wir haben uns ganz natürlich mit etwas erkannt, das nicht gesehen werden kann.

»So gut wie jede Weisheitstradition stellt der Menschheit die Diagnose, dass sie an einem Fall von falscher Identität leidet.«

So gut wie jede Weisheitstradition stellt der Menschheit die Diagnose, dass sie an einem Fall von falscher Identität leidet. Diese Traditionen übernehmen die Aufgabe, uns zu erklären: Also, das, was du für dein Selbst hältst, ist nicht dein Selbst. Diese ganze Liste von Dingen, mit denen du dich selbst beschreibst, ist genau das, was du nicht bist. So gelangen wir zum wahren Selbst, zur Fähigkeit, einfach unvoreingenommen alles, was erscheint, zu bezeugen.

Dieser Zeuge ist ein echtes Subjekt. Er ist das wahre Selbst. Der Zen-Meister Shibayama nennt es »Absolute Subjektivität«. In Sanskrit umfasst es die Zustände von Purusha bis Turya, dem Vierten Zustand, wie dieses reine Bezeugen, dieses reine Gewahrsein genannt wird. Der Zeuge ist also das Gewahrsein selbst, keiner der Inhalte des Bewusstseins.

Dieses wahre Selbst wird manchmal als reines ICH-SEIN bezeichnet. Es ist einfach dieses ICH-SEIN ohne begrenzende Identifizierung: Ich bin dieses oder jenes, ich bin diese Person, ich habe diesen Körper. All das sind Objekte. Wir sprechen jetzt vom reinen, einfachen ICH-SEIN, bevor es irgendetwas wurde. Dieses ICH-SEIN ist der spirituelle Urgrund und damit eins mit dem absoluten GEIST: Dieser absolute GEIST kommt in dir zum Ausdruck.

Dieses ICH-SEIN wurde traditionell in religiösen Begriffen beschrieben. Es lebt ewig, aber Ewigkeit wird fast immer missverstanden. Ewigkeit bedeutet nicht, dass wir für immer in der Zeit weiterexistieren. Das ist unendliche Zeit, aber nicht Ewigkeit. Ewigkeit ist ohne Zeit, ein zeitloser JETZT-Moment. Dieses zeitlose JETZT ist die grundlegende Wirklichkeit, die wir nicht leugnen können. 

Der zeitlose Zeuge

Mit anderen Worten, das Einzige, dessen wir uns jemals bewusst sein können, ist ein zeitloses JETZT. Wir leben immer in der Ewigkeit, obwohl wir es womöglich nicht erkennen. Ein Aspekt des Weges zum Erwachen ist die Einsicht, dass wir immer diese Fähigkeit des Bezeugens hatten – der Zeuge ist immer gegenwärtig.

Meditierende, die zehn oder 15 Jahre lang meditieren, berichten, dass ihr Gewahrsein bis hinein in den tiefen traumlosen Schlaf bestehen bleibt. Auch in diesem Zustand ist ein sehr subtiles Gewahrsein präsent. Dementsprechend haben die meisten Weisheitstraditionen den Zeugen definiert: Er ist das, was sich all der Bewusstseinszustände bewusst ist. 

Ein bekannter Zen-Koan besagt: »Zeig mir dein ursprüngliches Gesicht, das du hattest, bevor deine Eltern geboren wurden.« Das ist keine Metapher oder poetische Aussage, es ist wortwörtlich gemeint. Dein ursprüngliches Gesicht existierte, bevor deine Eltern geboren wurden, und dieses ursprüngliche Gesicht ist natürlich dein wahres Selbst, dieser Zeuge, dieses ICH-SEIN.

Das bedeutet, dieses reine Gewahrsein existiert vor der Zeit, vor der Illusion der Zeit.

Die absolute Wirklichkeit

Frage: Wenn ich dich richtig verstehe, erfahren wir JETZT das gleiche Gewahrsein, das vor dem Urknall gegenwärtig war. 

Wilber: Wir müssen vorsichtig sein, wie wir es beschreiben. Denn eigentlich ist dieser Urgrund des SEINS, diese absolute Wirklichkeit unbeschreiblich, man kann sie nicht mit Worten erfassen. Damit wird einfach gesagt, dass alle Wörter, die wir benutzen, ihre Bedeutung aus einem Gegensatz erhalten: vergänglich und ewig, Freude und Schmerz, Gut und Böse, oben und unten, innen und außen. Das trifft für all unsere Konzepte zu. Sie ergeben einen Sinn nur in Bezug zu dem, was sie nicht sind. 

»Die absolute Wirklichkeit hat keinen Gegensatz.«

Aber die absolute Wirklichkeit hat keinen Gegensatz. Deshalb werden alle Wörter, die wir nutzen, nicht ganz zutreffen. Sie können als gute Metapher dienen. Man könnte sagen, diese absolute Wirklichkeit umfasst alles. Das kommt dieser Wirklichkeit schon nahe. Aber dieses Umfassende enthält beispielsweise nicht die Zustände, die etwas ausschließen, ist also nicht vollkommen umfassend. Wir sehen, schnell sind wir mit Paradoxien und Widersprüchen konfrontiert, wenn wir versuchen, ein Wort in einem absoluten Sinne zu deuten.

Die Erfahrung des Erwachens – Satori

Gott ist nicht Liebe. Gott ist nicht Licht. Gott ist nicht Mitgefühl. Gott macht sich keine Sorgen. Gott ist nicht glücklich. Gott ist nicht allumfassend. Gott ist nicht allgegenwärtig. Gott oder jeder andere Name, den wir benutzen mögen, ist für die absolute Wirklichkeit nicht angemessen. 

»Der einzige Weg, wie man herausfinden kann, was Gott ist, besteht darin, eine Satori-Erfahrung, eine Erfahrung des Erwachens zu machen.«

Der einzige Weg, wie man herausfinden kann, was Gott ist, besteht darin, eine Satori-Erfahrung, eine Erfahrung des Erwachens zu machen. Die absolute Wirklichkeit können wir nur erkennen, wenn wir eine Praxis annehmen, die uns hilft, den gewöhnlichen denkenden Verstand zu transzendieren und zum absoluten non-dualen Gewahrsein zu erwachen. 

Wenn man fragt, »Existiert Gott?«, kann man darauf mit Ja oder Nein antworten. Nach Ansicht von jemandem wie Nagarjuna, einem der Begründer des Mahayana-Buddhismus, sind beide Aussagen falsch. Sie sind bedeutungslos. Du kannst auf diese Frage mit Ja oder Nein antworten, aber trotzdem weißt du nicht, was Gott ist. Es macht einfach keinen Sinn. Um die Frage wirklich zu beantworten, musst du dich in eine Form von meditativer Praxis begeben, die es dir ermöglicht, zu diesem non-dualen Gewahrsein zu erwachen. Wenn du erwachst, ein Satori erlebst, dann kennst du die Antwort. Du wirst unmittelbar in der Antwort auf diese Frage sein. Bis das geschieht, ist alles, was du sagst, falsch. 

TV: Du würdest also sagen, dass ein Satori im Leben ausreicht, um die absolute Wahrheit zu erkennen und einen neuen Hintergrund für das eigene Leben zu finden?

Wilber: Ja, eine tiefe Satori-Erfahrung reicht. Und man kann solch eine Erfahrung machen, wenn man in der Natur wandert oder ein Musikstück von Bach hört oder in der intimen Begegnung oder in vielen anderen Situationen. Etwas Ähnliches scheint sich bei einer Nahtoderfahrung zu ereignen. 

Die fünf Zustände

Wenn wir nun die vielen Traditionen in Ost und West zusammenbringen, können wir fragen: Was haben sie alle gemeinsam, obwohl sie unterschiedliche Begriffe und Interpretationen nutzen?

Daniel P. Brown ist ein brillanter Forscher, der diese Gemeinsamkeiten erforscht hat. Er studierte jahrzehntelang die wichtigsten Texte des tibetischen Vajrayana-Buddhismus und des Theravada-Buddhismus, die Yoga-Sutras von Patanjali, die chinesische Tradition und die neoplatonischen Traditionen im Westen. Dabei fand er etwa fünf allgemeine Stufen auf dem Weg vom gebrochenen Ego zum geheilten wahren Wesen. 

Wenn du mit einer Meditationspraxis beginnst, die von einer bestimmten Tradition vermittelt wird, wirst du dich durch diese fünf Schritte bis hin zur dauerhaften Verwirklichung bewegen. Und jeder dieser Schritte umfasst einen bestimmten Bewusstseinszustand. 

Der tibetische Buddhismus, der Vedanta-Hinduismus und einige neoplatonische Traditionen nutzen dafür im Grunde genau das gleiche Modell. Es sind fünf Bewusstseinszustände, die als grobstofflich, subtil, kausal, Turya und Turya-Tita bezeichnet werden. 

Ein Beispiel für das grobstoffliche Bewusstsein ist das typische Wachbewusstsein mit der Ego-Identifikation und der herkömmlichen Wirklichkeit. Ein subtiles Bewusstsein zeigt sich in meditativen Zuständen oder im Traum. Wenn wir tiefer in den Prozess des Schlafes gehen, zeigen sich keine Phänomene mehr, weil wir uns der Quelle nähern und so in einen tiefen, traumlosen Schlaf eintreten. Hier sind wir nah am formlosen Urgrund. Diese Stufen umfassen das grobstoffliche, subtile und kausale Bewusstsein. Darauf folgt der vierte Zustand, der auch einfach so genannt wird: Turya, der vierte Zustand. 

Ken Wilber

Das ist der reine Zeuge, dein wahres Selbst. Das ist dein reines ICH-SEIN, ohne dass es sich mit irgendetwas identifiziert. Es ist das reine Zentrum des Gewahrseins. Das ist eine sehr wichtige Stufe in der Meditation. Wenn wir weitergehen und uns tiefer hineinbegeben, dann wird auch der Zeuge verschwinden, und wir werden eins mit allem, was wir bezeugen. Im Zustand des Zeugens sagen wir: Ich sehe den Berg, ich bin nicht der Berg. Ich sehe den Stuhl, ich bin nicht der Stuhl. Ich sehe die Sterne, ich bin nicht die Sterne.

Wenn wir in den fünften Zustand übergehen, der als Turya-Tita bezeichnet wird – was »jenseits von Turya« bedeutet –, dann gehen wir über eine Dualität von Subjekt und Objekt hinaus. Der Zeuge hält Abstand und beobachtet alles, er wird auch als absolute Subjektivität bezeichnet. Der höchste Zustand ist aber nicht subjektiv, auch nicht absolut subjektiv. Er wird als non-dual bezeichnet, es ist die Einheit von Subjekt und Objekt.

»Du bist eins mit allem, was in deinem Gewahrsein erscheint. Das ist ein absolutes Einssein.«

Als Zeuge bist du mit nichts identifiziert: Ich bin nicht der Berg, ich bin nicht die Wolken, ich bin nicht die Bäume. Aber plötzlich ereignet sich der Übergang zu Turya-Tita, und der Zeuge löst sich in gewisser Weise auf. Nun erscheint einfach alles so, wie es ist, Augenblick für Augenblick. Und das bist du: Du bist eins mit allem, was in deinem Gewahrsein erscheint. Das ist ein absolutes Einssein.

Jenseits der Dualität

Dieser Bewusstseinszustand ist nicht dualistisch, es gibt keine Trennung und keine Fragmentierung. Das ist allgemein gesprochen der letztendliche, wahre Zustand des Bewusstseins. Zumindest bis jetzt – wir wissen nicht, ob sich auf dem Weg der Evolution noch höhere Bewusstseinszustände zeigen werden. Aber soweit wir es heute sagen können, ist dies die äußerste Grenze, die wir mit unserem Bewusstsein erreichen können. Alle genannten Zustände sind grundlegend wichtig, und es wird ersichtlich, dass der meditative Weg ein echter Entwicklungsweg ist, auf den sich Menschen begeben können, um verlässlich die Zustände höheren, reinen Bewusstseins, der absoluten Einheit und des »Einen Geschmacks« zu erreichen. Aber eine Praxis ist erforderlich, diese Entwicklung ereignet sich nicht automatisch. Das ist einfach nicht möglich.

Dieser Urgrund des Seins gilt als non-dual, er transzendiert Subjekt und Objekt. Wenn du zu diesem Urgrund erwachst, dann erfährst du – ein Satori, eine Erfahrung des Erwachens. Du erfährst unmittelbar den unendlichen Urgrund des Seins und den Seinsgrund von allem, was existiert. Deshalb bezeichnen wir diese Wirklichkeit als Urgrund allen Seins. 

Der Urgrund des Seins

Wie können wir aber als subjektive Wesen diese Wirklichkeit so erfahren, dass wir sie nicht nur aus subjektiver Perspektive sehen? Denn dieser Urgrund soll nicht nur meine subjektive Fantasie sein, er soll im eigentlichen Sinne wirklich sein. Deshalb gibt es Formen des Wissens, die dem auf den Grund gehen wollen. Normalerweise leben wir in einer dualistischen Form des Wissens, in der ein Subjekt von einem Objekt getrennt ist.

Aber es gibt eine andere Form des Wissens. Alle manifesten Dinge sind der Ausdruck oder die Manifestation des reinen non-dualen GEISTES oder des reinen Urgrunds allen Seins, der alles entstehen lässt – in jedem Moment. Auch wir Menschen entstehen daraus, deshalb haben wir eine Verbindung zu diesem absoluten Urgrund. 

Wir haben 200.000 Jahre mit dieser anderen Form des Wissens experimentiert, indem wir unseren Geist erforschten, Schwitzhütten durchführten, psychedelische Substanzen einnahmen, fasteten oder drei Jahre lang 20 Stunden am Tag meditierten. Dieses Wissen teilt nicht in Subjekt und Objekt auf. Es ist nicht analytisch, es nutzt weder Denken noch Konzepte. Es ist reines, unmittelbares Gewahrsein und wurzelt im Urgrund allen Seins. Deshalb können wir diesen Urgrund erkennen.

Ken Wilber

Dieser Urgrund ist in der Tat der Urgrund allen Seins: Wenn wir ihn irgendwo entdecken, dann entdecken wir ihn überall, denn der unendliche Seinsgrund ist überall der Gleiche. Wenn du die Unendlichkeit hier und jetzt entdeckst, dann findest du sie überall. Und das können wir üben und trainieren. Ein geübter Zustand ist nichts Privates, denn dann wären wir nicht in der Lage, ihn zu üben und zu vermitteln. Diese Erkenntnis wurde von vielen Hunderttausend Menschen weitergegeben. Und weil wir diesen Zustand entwickeln können, ist er für uns real. Diese Zustände zeigen sich so, dass wir sie sofort als solche erkennen können. 

Wenn du diesen Seinsgrund erfährst, weißt du es. Fast jeder, der eine solche Erfahrung berichtet, erklärt, dass es bei Weitem die tiefste und bedeutungsvollste Erfahrung des Lebens war. Es scheint so, dass wir zu unserem wahren Selbst, unserer wahren Identität erwachen, denn so fühlt es sich an. Diese Identität scheint eins zu sein mit dem Urgrund allen Seins. So erfahren wir es. 

Für mich war es die bedeutungsvollste Erfahrung, die ich je hatte. Darin war eine Gewissheit, die alles andere, was ich erlebt habe, in den Schatten stellt. Aber wenn man diese Erfahrung nicht gemacht hat, wird man Berichten darüber wahrscheinlich nicht glauben. Gibt es diesen Urgrund allen Seins oder nicht? Wenn es ihn gibt, dann können wir ihn wahrscheinlich auch erfahren. Wenn es ihn nicht gibt, dann ist das Universum in der Tat nur ein beliebiges, zufälliges Chaos ohne Sinn.

Die Stufen des Bewusstseins

Solche Zustände sind unmittelbare Erfahrungen der Ersten Person. Wenn du meditierst und die Erfahrung machst, in Liebe und Glückseligkeit eins mit der ganzen Welt zu sein, dann weißt du es, es ist vollkommen offensichtlich für dich. Es ist eine direkte Erfahrung, die für sich vollkommen überzeugend ist. Dieses Aufwachen beinhaltet eine Reihe unmittelbarer Zustandserfahrungen. Neben diesen Zuständen des Bewusstseins gibt es aber auch Stufen des Bewusstseins, die wie das verborgene interpretierende Muster sind, wie die Grammatik des Bewusstseins. Diese Stufen des Aufwachsens haben wir erst in den letzten 100 Jahren entdeckt. 

Betrachten wir diese Stufen am Beispiel des Mitgefühls. Wenn wir uns auf einer dieser Stufen befinden, wissen wir es nicht. Es ist wie die verborgene Grammatik, die wir nicht sehen, wenn wir nach innen schauen. 

Wenn wir uns von einem egozentrischen bis zu einem ethnozentrischen Mitgefühl entwickeln, dann haben wir unsere moralische Identität erweitert. Wir umfassen mehr Menschen in unserer moralischen Umarmung, wir sorgen uns um mehr Menschen und lieben mehr Menschen. Dabei denken wir nicht daran, dass wir aus einer bestimmten Bewusstseinsstufe und deren Struktur handeln, wir denken, es kommt einfach aus uns. 

Wenn wir uns in eine weltzentrische Moral, ein universelles Mitgefühl entwickeln, dann wollen wir jeden und jede gerecht behandeln, ungeachtet der Ethnie, der Hautfarbe oder des Geschlechts. Das wird uns sehr wichtig, aber wir wissen nicht, dass wir aus einer bestimmten Stufe des Bewusstseins handeln.

Der Unterschied zwischen Aufwachen und Aufwachsen

Diese Entwicklungsstufen wurden erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt, deshalb hat kein spirituelles System auf der Welt ein Verständnis dieser Stufen des Aufwachsens. Das ist ein großes Problem, denn wir können auf jeder Stufe des Aufwachsens eine Erfahrung des Aufwachens machen. Wir können also im Aufwachen sehr weit entwickelt sein, möglicherweise vollkommen erleuchtet, wie es einige Traditionen nennen. Aber wir können gleichzeitig auf einer niedrigen Stufe des Aufwachsens leben, wie zum Beispiel auf einer ethnozentrischen Bewusstseinsstufe. 

In diesem Fall könnten wir denken: Ich habe diese wunderbare Erfahrung der Befreiung gemacht, aber nur die Menschen, die meinem Weg folgen, können diese Erfahrung machen. 

Man kann in dem einen Bereich sehr weit entwickelt sein und sehr unentwickelt in dem anderen Bereich. Und das ist eine Katastrophe. Weil die Stufen des Aufwachsens erst vor etwa 100 Jahren entdeckt wurden, gibt es kein Praxissystem oder Denksystem, das beide Bereiche umfasst. 

Ken Wilber

Diese zwei Wege sind die grundlegenden Formen von Freiheit, die uns zugänglich sind. Unsere Kultur gibt aber beiden Formen von Freiheit nicht viel Aufmerksamkeit. Wir erkennen, dass Menschen durch Stufen des Aufwachsens gehen. 

Die Entwicklung kann heute insbesondere auch auf einige der höheren Stufen erfolgen, die wir allgemein als Second Tier bezeichnen. Diese Stufen des Zweiten Ranges sind zum ersten Mal in unserer Menschheitsentwicklung integrativ, vereinend und synthetisierend. Viele Entwicklungsforscher, die diese Stufen zum ersten Mal entdeckten, beschreiben diesen Zweiten Rang mit Worten wie integral, aperspektivisch (Jean Gebser), integrativ (Jane Loevinger) oder systemisch (Clare Graves). Sie erkannten, dass diese höheren Stufen existieren und durch die Qualität der Integration und Inklusion gekennzeichnet sind. Aber hier sind es nicht nur Werte, die ein sozialer Gerechtigkeitsaktivist bei einem Protest fordert. Die Freiheit, die die weiteren Stufen des Aufwachsens eröffnen, liegt in einer Zunahme der Perspektiven, die wir einnehmen können. 

In einigen Modellen stehen Farben für bestimmte Entwicklungsstufen. In einer frühen Entwicklungsstufe, die mit der Farbe Rot gekennzeichnet wird, können wir nur eine Perspektive der Ersten Person einnehmen. Hier können wir nur unsere eigene Sichtweise sehen, wir können nicht in die Rolle eines anderen Menschen schlüpfen. Wir können nicht einmal verstehen, dass jemand anders denkt als wir. Das ist also reiner Narzissmus. 

Auf der nächsten wichtigen Stufe, die mit der Farbe Bernstein gekennzeichnet wird, können wir eine Perspektive der Zweiten Person einnehmen. Wir erkennen, dass ein anderer Mensch die Welt tatsächlich anders sieht als wir selbst. Wir können zusammenkommen und in einer Diskussion zu einem gemeinsamen Verstehen finden. Hier kann sich mein Mitgefühl, meine Liebe von mir selbst auf jemand anderen ausweiten. Hier beginnt also die Fürsorge, die ich auch auf eine Gruppe von Menschen ausweiten kann. Dies wird möglich durch die Hinzunahme der Perspektive der Zweiten Person.

Die nächste Stufe, der wir die Farbe Orange zuordnen, fügt die Perspektive der Dritten Person hinzu. Hier können wir über verschiedene Ideen und Hypothesen reflektieren. Hier entstanden die modernen Wissenschaften. Erst vor einigen Hundert Jahren bewegten wir uns in diese Stufe hinein und entwickelten eine weltzentrische Moral, in der wir alle Menschen gerecht behandeln wollen, ungeachtet der Ethnie, der Hautfarbe und des Geschlechts. Deshalb wurde in dieser Zeit in vielen fortschrittlichen Ländern die Sklaverei abgeschafft. Alle Emanzipationsbewegungen, einschließlich der Frauenbewegung, entstanden in dieser Zeit. Durch diese Perspektive der Dritten Person entstanden zudem die Wissenschaften der modernen Physik, Chemie, Biologie, Geologie und Astronomie.

In den 1960er-Jahren entstand die nächste wichtige Bewusstseinsstufe, die mit der Farbe Grün verbunden wird. Sie wird auch als postmoderne Stufe bezeichnet, in Abgrenzung zur vorherigen orangen Stufe, die auch als moderne Stufe bezeichnet wird. Auf der grünen Bewusstseinsstufe werden Werte wie Multikulturalität, Inklusion und Diversität wichtig, denn es wird eine Perspektive der Vierten Person hinzugefügt. Das heißt, auf dieser Stufe können wir über die vorhergehende Perspektive der Dritten Person reflektieren, um zu sehen, wo eine Gleichheit für alle Menschen tatsächlich verwirklicht ist. 

Auf der modernen Bewusstseinsstufe gilt, dass diese Wahrheiten selbstverständlich sind: Wir sind alle gleich geschaffen und von unserem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet, wie Menschenrechte, Freiheit und das Streben nach Glück. Das sind klassische weltzentrische Werte. Auf der grünen Bewusstseinsstufe werden diese Werte tiefer erforscht. Wir fragen, wo wir diese Werte tatsächlich umsetzen: „Wird die Gleichheit auch wirklich gelebt?“ Damit beginnen auch der soziale Aktivismus und die postmodernen Befreiungsbewegungen.

Alle bisher genannten Stufen bilden den Ersten Rang oder First Tier. Diese Stufen sind grundlegend wichtig, aber hier glauben wir, dass die Wahrheit und Werte einer Stufe die einzigen richtigen Werte und Wahrheiten sind. Andere könnten eine gute Absicht verfolgen, aber sie verstehen die Welt nicht richtig. Diese Menschen mit anderer Weltsicht erscheinen als merkwürdig oder einfach auf dem falschen Weg. Diese Überzeugungen finden wir auf der traditionellen (Bernstein), modernen (Orange) oder postmodernen (Grün) Stufe, die alle dem Ersten Rang angehören. 

Die Stufen des Zweiten Ranges oder Second Tier, die in der Folge entstanden, konnten die Stufen des Ersten Ranges betrachten und erkennen, dass sie alle wichtig sind. Statt zu denken, dass sie vollkommen falsch liegen, wird hier klar, dass sie alle mit eingeschlossen werden müssen. Sie alle sind Stufen des menschlichen Wachstums, es sind Entwicklungsstufen, die wir alle brauchen. Diese Stufen des Zweiten Ranges können wir als ganzheitlich im besten Sinne bezeichnen, nicht klischeehaft ganzheitlich, sondern wirklich holistisch, integriert, systemisch, umfassend. So etwas gab es bisher noch nicht in unserer Entwicklung. Clare Graves sagte, diese Stufen erschienen ihm wie die ersten wahrhaft menschlichen Stufen, sie zeigten das wertvollste Potenzial des Menschseins.

Diese Freiheit spielt in den großen Weisheitstraditionen eine wichtige Rolle, es ist die absolute Wahrheit im Gegensatz zur relativen Wahrheit. Aber diese absolute Wahrheit umfasst alles, sie ist der Urgrund, die Einheit, in der relative und absolute Wahrheit verschmelzen. 

Die Revolution der Spiritualität

Frage: Es macht also keinen Sinn, aus der Welt fliehen zu wollen?

Wilber: Für die frühen Theravada-Buddhisten war klar, dass Samsara ein Schreckensort ist. Sie wollten aus dem Samsara in das Nirwana gelangen. Nirwana ist ein Zustand nicht-manifester, formloser Versenkung. In diesem Zustand fühlen wir keinen Schmerz, keine Begierden, kein Ego, keine Angst. Es ist das Nichts, ein Zustand ohne Leiden. Für 600 bis 800 Jahre war dies das Ziel des ursprünglichen Buddhismus und auch einiger westlicher Traditionen. Dieses Ziel sehen wir auch im Höhlengleichnis Platons: Innerhalb der Höhle sind all die Schatten und außerhalb der Höhle ist das Licht. Deshalb sollten wir so schnell wie möglich aus der Höhle entkommen. Die Höhle war ein leidvoller Ort, das Ziel war das Licht.

Ken Wilber

Dann erscheinen Nagarjuna im Osten und Plotin im Westen, die erklären, dass es zwar diesen Zustand des Nirwana gibt, aber dies nicht die höchste Erkenntnis ist, da sie weiterhin sehr dualistisch ist, weil darin Nirwana vollkommen von Samsara getrennt ist. Nagarjuna und Plotin erkannten, dass es einen höheren Zustand gibt, der beide vereint, es gibt eine Ganzheit, die beide umfasst. Deshalb können wir in einem Zustand des Nirwana oder der radikalen Leerheit sein und gleichzeitig erscheint die gesamte manifeste Welt, und wir sind eins mit beidem. Das ist die wahre Erleuchtung. 

Das verursachte eine Revolution im Osten, denn es entstanden non-duale Formen von Spiritualität, aus denen schließlich Traditionen wie Tantra entstanden. Denn in den ursprünglichen puritanischen Formen der Religionen waren GEIST und Sex radikal getrennt. Im Tantra wurde Sex als direkter Weg zum GEIST gesehen. Also je mehr Sex du hast, desto eher findest du den GEIST, denn beides ist nicht voneinander getrennt. 

Diese Revolution der Spiritualität wird auch durch das Bodhisattva-Gelöbnis gekennzeichnet. Das Bodhisattva-Gelöbnis besagt, dass man gelobt, so schnell wie möglich Erleuchtung zu erlangen, damit man anderen Wesen helfen kann. Als Bodhisattva gelobt man, sich nicht im Zustand des Nirwana zu verstecken, sondern in einen non-dualen Zustand zu kommen, damit man in der Welt mit Menschen arbeiten kann, die noch nicht erleuchtet sind. Ich kann den Menschen helfen, zu erwachen. Es ist das Versprechen, nicht im Nirwana zu verschwinden, indem man auf der Matte sitzt und die Welt um einen herum verbrennen lässt. 

Aber dieses neue non-duale Verständnis von Spiritualität veränderte alles. Es führte zur Erkenntnis eines Aspekts der Welt der Form, nämlich der Tatsache, dass wir uns in dieser Welt zu höheren und umfassenderen Bewusstseinsstrukturen entwickeln. Diese Wahrheit ist heute ein zentraler Aspekt jeder wahrhaft spirituellen Ausrichtung. Heute können wir nicht mehr sagen, dass wir die Welt nicht wollen, dass wir Samsara ablehnen. 

Wir können den tiefen Zustand des SEINS verstehen und erreichen, unser wahres Selbst verwirklichen, zum reinen ICH-SEIN gelangen, das eins mit allem ist, was in der Welt erscheint. Und in dieser Welt, die erscheint, möchte ich immer umfassendere Perspektiven einnehmen können. Denn so kann ich mein erleuchtetes Gewahrsein mit immer mehr Menschen teilen.

Die Vermittlung der integralen Perspektive

Frage: Wenn du heute die Welt betrachtest, was ist deine größte Sorge und somit auch die stärkste Motivation für deine Arbeit?

Wilber: Das ist das Verstehen und Wertschätzen der zahlreichen Traditionen und Gemeinschaften des Wissens, die an verschiedenen Erkenntnisweisen der Wirklichkeit arbeiten und dabei unterschiedliche Methoden anwenden. Sie erbringen eine enorme Fülle von Evidenz und Daten, die diese Teilwahrheiten, die sie in ihrem Bereich entdecken, bestätigen. Aber das Problem ist, dass heute fast niemand erklärt, dass sie alle wichtig sind. 

«Der zentrale Impuls meiner Arbeit besteht darin, die Tatsache zu vermitteln, dass, allgemein gesprochen, jeder recht hat.«

Der zentrale Impuls meiner Arbeit besteht darin, die Tatsache zu vermitteln, dass, allgemein gesprochen, jeder recht hat. In diesem Universum gibt es Platz für alles. Und wir werden glücklicher, wenn wir dieses Alles umarmen, und wir werden umso unglücklicher, trauriger und depressiver, je enger, begrenzter, fragmentierter wir werden. 

Dabei haben wir ganz sicher die Evolution auf unserer Seite, denn ein unleugbarer Aspekt der Evolution ist, dass sie sich zu größerer Komplexität, umfassenderer Ganzheit und weiterem Bewusstsein bewegt. Das zeigt sich vom Urknall bis zu den großen Entfaltungen der evolutionären Entwicklung. Als die Menschen in Erscheinung traten, wirkte diese Grundtendenz der Evolution auch in der Menschheit. 

Je mehr dies geschieht, je weniger Dinge außerhalb von uns sind, die uns verärgern, verletzen oder deprimieren können, umso glücklicher werden wir, denn wir umarmen immer mehr Aspekte der tatsächlichen Wirklichkeit. Das ist ein völlig anderer Ansatz: »Wie viel kann ich umarmen?« statt »Wie kann ich zeigen, dass meine eigene Sichtweise richtig ist und alle anderen im Unrecht sind?«. Und diese trennende Haltung finden wir in fast jeder Disziplin. Das ist Wahnsinn. Deshalb besteht mein wichtigster Antrieb darin, diese integrale Perspektive zu vermitteln. Und es ist wunderbar, zu sehen, dass Menschen die Wichtigkeit solch einer Perspektive verstehen und sie selbst umsetzen und dazu beitragen, die Umarmung immer größer werden zu lassen. Das scheint wirklich der Fall zu sein.

Das Interview führte Ramon Pachernegg, wegezumselbst.at

Ken Wilber

Zum Interviewten

Ken Wilber (geb. 1949) kehrte einer akademischen Laufbahn den Rücken, um im intensiven Privatstudium Philosophie, Psychologie, die östlichen und westlichen Weisheitslehren sowie andere Disziplinen der Wissenschaften des Geistes zu erforschen, und widmete sich der Praxis von Zen und tibetischem Buddhismus. Er gilt heute als der wichtigste Vertreter der Transpersonalen Psychologie und gehört zu den bedeutendsten Theoretikern eines integralen Weltbildes.

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