Arche Noah

Prof. Dr. Peter Hubral – Arche Noah

Seelenreise zum Ursprung der Schöpfung

Peter Hubral stellt neue Entdeckungen und Querverbindungen zwischen der griechischen Antike und dem Daoismus dar. Vor allem Noah wird nun als praktisch Übender vorgestellt, der den Aufstieg von Soma (Körper) zu Pneuma (der nicht-materiellen Dimension) unternimmt. Einige altgriechische Begriffe wie aporia und sophrosýne erfahren hier eine ganz andere Auslegung und machen damit den Blick auf das ganze Bild der Wahrheit frei.

Schwierigkeitsgrad des Textes: hoch

Heraklit:
Was man sehen, hören, erfahren kann
(und folglich nicht glauben braucht),
dem gebe ich den Vorzug.

Der Mensch ist tagein und tagaus mit der Schöpfung im Kontakt. Diese tut sich dadurch kund, dass jede neue Eingebung, die er erfährt, eine konfuse, noch nicht artikulierbare Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem ist. Sie wird in Momenten stiller Weltabgewandtheit, im Nicht-Tun (TV 44, 50, 74), spontan geboren und danach in Worte gefasst. Sie erweitert sein Wissen (Gr. empería) und prägt seine Bildung (Gr. paideía), die für sein Leben unverzichtbar sind. 

Bild 1. Altgriechische AusÜBENDE der philosophía auf ihrer »universellen magical mystery tour«

 Bild 1 zeigt Übende auf einer altgriechischen attischen Vase aus dem 6. Jh. v. u. Z. Eine ähnliche Darstellung befindet sich im Louvre.

Diesem und ähnlichen Bildern entnimmt man als Nicht-Praktizierender, dass die Personen vermutlich willentliche Bewegungen und keine »Selbstbewegungen in rigoroser Stille« durchführen, so wie ich sie dem Bild zuweise. Diese für die meisten von uns ungewohnten Bewegungen – sie zu erlernen ist eine hohe Kunst – praktizieren Taiji-Übende in der Schule von Fangfu. Sie werden auch Dao- oder Wuwei-Praktizierende genannt. Wuwei = Wirken (Wei) aus dem Nichts (Wu).

Bild 2. Schematische Darstellung (a) des Großen Wegs (Pfeil I = Aufstieg) vom Diesseits (A) durch die drei jenseitigen Taiji-Welten (Himmel) zum absoluten Nichtsein (D) und (b) der Entstehung (Pfeil II = Abstieg = Schöpfungsakt) der drei Taiji-Welten (Himmel) und des Diesseits (A) aus dem absoluten Nichtsein (oberhalb D).

Praxis des Sterbens

Die Dao-Praxis (Bild 1) intensiviert die Eingebung. Sie erfordert keine Methode (Hypothese, Dogma, Instruktion, Ritual, Bedingung). Sie ist formlos und glaubensfrei, denn nur so erweckt man damit der Dao-Lehre zufolge im rigorosen Nicht-Tun (Wuwei) die in uns verschütteten außergewöhnlichen fünf Sinne und das sie koordinierende Bewusstsein. Dafür wird in der pythagoreischen/platonischen philosophía, die Platon auch theologiá nennt, die meléte thanátou (Praxis des Sterbens, Bild 1) eingesetzt. Darüber schreibt er (Phaidon 64a): »Andere Menschen sind sich wahrscheinlich nicht darüber im Klaren, dass diejenigen, die die philosophía korrekt ausÜBEN, nichts anderes tun, als ‚sterben‘ und tot‘ zu sein.« 

Sterben und tot sind nicht wortwörtlich zu nehmen. Sie sind Metaphern, deren Inhalte mit der meléte thanátou, die Platon freudvoll (phaidros) nennt, zunehmend erfahren werden. Diese einzigartige Praxis führt – in Funktion des Übungsfortschritts (P in Pfeil I in Bild 2) – zur Erleuchtung (»Tod«). Ich erkannte den Weg dorthin in der philosophía (theologiá) in der mir seit 1997 vertraut gewordenen Dao-Praxis der Dao-Lehre wieder. Er wird von Laozi (Kap. 25) »Großer Weg« (Dadao) genannt. Ich konnte anhand von Mustererkennung zeigen1Siehe meine Publikationen in Tattva Viveka am Ende dieses Artikels., dass die Dao-Metaphern, die der Weg in der Innenschau (Bild 1) – zur Beschreibung der außergewöhnlichen Erfahrung – »aus sich heraus« hervorbringt, mit denen der griechischen philosophía inhaltlich übereinstimmen. Darüber habe ich in Tattva Viveka mehrmals berichtet.

Wiedererinnerung (anamnésis) an Verborgenes

Es kommt durch rigoroses Nicht-Tun im regelmäßigen ÜBEN (Bild 1) zu dem, was die weisen Griechen sophrosýne nennen. Dahinter verbirgt sich die Entwicklung außergewöhnlicher (eidetischer) Sinne und nicht, so wie fälschlich übersetzt, Besinnung und Besonnenheit. Sie bewirkt die Wiedererinnerung (anamnésis) an das in uns verborgene (verschüttete) und durch ÜBEN zunehmend aufgedeckte außergewöhnliche (eidetische) WISSEN (epistéme) über das Jenseits (A bis D in Bild 2). Sokrates nennt es Nicht-WISSEN. Damit verweist er auf dessen Ursprung in creatio ex nihilo: Kreation aus dem Nichts (Wu) oder Unbekannten. Er nennt den schwer zu beschreibenden, jedoch erlernbaren meditativen Zustand, in dem es erworben wird, aporía.2Wörtlich übersetzt, bedeutet aporia so viel wie ›Nicht-Weg‹, von a = nicht und poros = Weg. Es ist unglaublich, was in aporia hineingedichtet wird. Um was geht es? Es ist der unbekannte und durch Nicht-Tun zu erkundende Weg (Pfeil I). Der dafür nötige Bewusstseinszustand ist sowohl weltzu- als auch weltabgewandt. Wäre er nur weltzugewandt, so könnte nicht Neues geboren werden. Wäre er nur weltabgewandt, so könnte das Neue nicht wahrgenommen werden.

Während sich das weltliche Wissen (empería) aus der sinnlichen Zuwendung zur erschaffenen Natur (natura naturata) ergibt, resultiert das eidetische WISSEN (epistéme) aus rigoroser Hingabe zur übersinnlich erfahrbaren, ewig schöpferischen Natur (natura naturans). Es kann genauso umfangreich werden (Pfeil I) wie das im Alltag (A) willentlich erworbene weltliche Wissen (empería).

Lehre der drei Welten

Viele traditionelle Lehren zwischen Ost und West berichten von drei Welten3Siehe mein jüngstes Buch: Der glaubensfreie universelle Erleuchtungsweg.. Meine Schule nennt sie Taiji-Welten (You, Wuyou, Wu) (Bild 2). Es gilt: You = Sein (Diesseits), You = Nichtsein und Wuyou (= Dao = Taiji) = Mischung aus Wu und You. Ihre drei Weltinhalte (Xing, Qi, Shen) (Bild 2) werden von ungeÜBTEN Interpreten unzureichend mit (Körper, Qi, Geist) übersetzt. Der Grund dafür ist deren Unkenntnis der Praxis und all dessen, was sie »aus sich heraus« im Nicht-Tun, also ohne eigenes Tun (Handeln, Streben) generiert, also erfahren wird und nicht geglaubt werden braucht. Auch wird von UngeÜBTEN verkannt, dass Qi, so wie Wasser für Eis, Wasser, Dampf, der Oberbegriff für seine im Aufstieg (Pfeil I) zunehmend übersinnlich erfahrenen drei Metamorphosen von (Xing, Qi, Shen) ist. Dies heißt, dass sich dabei Qi von Xing zu Shen stufenweise verwandelt. 

Was für (Xing, Qi, Shen) gilt, betrifft auch sein griechisches Äquivalent (sóma, psyché, pneúma), das unzureichend mit (Körper, Seele, Geist) übersetzt wird. Der Grund dafür ist, weil nicht erkannt wird, dass sich auch dahinter die dreistufige Metamorphose (Pfeil I) des Qi (psyché) – von seiner untersten Wahrnehmung der körperlichen (sinnlichen, irdischen) Welt (in A) bis hin zur höchsten geistigen (übersinnlichen, himmlischen) – verbirgt. Diese gipfelt am Ende des Wegs (D) in der Erleuchtung. Damit habe ich präzisiert, was hinter sophrosýne steckt und erforderlich ist, um nachzuvollziehen, was Platon über den spirituellen Schöpfungsakt (Pfeil II), den Wandel der psyché von pneúma zu sóma, schreibt (Timaios 50d): »Im Augenblick aber müssen wir uns drei Gattungen (Metamorphosen der psyché) denken: Das Werdende (psyché), das, was daraus wird (sóma), und das (pneúma), woraus das Gebärende (psyché) entstanden ist.« Was er schreibt, wird im Aufstieg (Pfeil I) erfahren.

Auch Jesus berichtet über (sóma, psyché, pneúma), wobei die Übersetzung (Körper, Seele, Geist) – ohne Bezug zur sich wandelnden psyché (Pfeil I) – nicht wiedergibt, was mit der Praxis übersinnlich erfahren wird. Auch ist zu betonen, dass im Alten Testament oft (sóma, psyché, pneúma) = (Körper, Seele, Geist) akzeptiert wird. Damit werden die sich dahinter verbergende Metamorphose der psyché (längs Pfeil I und II) ignoriert, was zu signifikanten Fehlauslegungen führt.

Der Iraner Suhrawardi (1154–1191), für den nafs (Seele) der Oberbegriff für das dreigeteilte Äquivalent für das erfahrbare Qi (psyché) in drei dazugehörigen Welten ist, erkannte noch die 

»Auch der Arche-Noah-Mythos spricht den Wandel, die Rückkehr (Pfeil I) an. Arché bedeutet Anfang oder Ursprung.«

sich dahinter verbergende Einheit:4S. 14 in John Walbridge; The Wisdom of the Mystic East: Suhrawardi and Platonic Orientalism, State University of New York Press 2001. »Alle sprechen von drei Welten und sind sich über die Einheit Gottes einig.« Auch die Hebräer berichten von drei Welten (längs Pfeil I):5S. 43 in Lazarus Bendavid; Ueber die Religion der Ebräer vor Moses, Hitzig 1812. »Die zweite (mittlere) ist die zwischen der ersten (untersten) und dritten (obersten) vermittelnde. Diese dritte ist nämlich das Reich Gottes.« Auf die Erkundung (Pfeil I) des Reichs zwischen A und D, die der dreistufige Wandel der psyché von sóma zu pneúma ermöglicht, verweist auch Platons Allegorie vom Seelenwagen in Phaidros (246a–257a). Dies tut ebenso die Bhagavad Gita (Vers 15, Kapitel 1), wo der Streitwagen mit den beiden Freunden Arjuna und Krishna »durch die drei Welten gezogen (Pfeil I)« wird. Auch der Arche-Noah-Mythos spricht den Wandel, die Rückkehr (Pfeil I) an. Arché bedeutet Anfang oder Ursprung.

Arche-Noah-Mythos

Um zum Ursprung (D) der Schöpfung (TV 56–57) zurückzukehren (Pfeil I), ist die Fähigkeit (aporia) erforderlich, sich – im rigorosen Nicht-Tun (Bild 1) – regelmäßig vom Diesseits (A) ab- und dem Nichts (D) zuzuwenden. Noah besaß sie, ist er doch derjenige, »der (innere) Ruhe schafft«.6»Noa(c)h« verweist auf noi (ruhen). Noe ist schöpferische Ruhe und noeín schöpferisches Denken. Noah betont also die im Aufstieg erforderliche Ruhe (Stille), um noeín zu erwecken und zunehmend zu entwickeln, um mit der Schöpfung in Harmonie zu leben. Ruhe (Stille), die mit Nicht-Tun einhergeht, ist erforderlich für die Dao-Praxis (Bild 1), für die gilt (TV 56–57 und TV 73):7Dies steht im Widerspruch zum 1. Newtonschen Gesetz der klassischen Physik. »Aus der Stille kommt Bewegung.« Dabei handelt es sich um Selbstbewegung (autokinésis), so wie sie überall in der Natur – im Entstehen und Vergehen »aus sich heraus« – zu beobachten ist. 

»Ruhe (Stille), die mit Nicht-Tun einhergeht, ist erforderlich für die Dao-Praxis.« 

Noah war offensichtlich so wie viele zu seiner Zeit ein Meister, der interessierten Mitmenschen die Rückkehr (Pfeil I) zum Ursprung (arché) (D) ermöglichte. Damit verließen sie gaía (Erde = Diesseits = A), ihr irdisches Exil, und stiegen auf (Pfeil I) zum okeanós

(Meer), der Mischung (Wuyou = EINS = leerer Kreis in Bild 2) aus gaía (Erde) und ouranós (Himmel). Dies gelang ihnen dadurch, dass sie der Sintflut8Mittelhochdeutsch, althochdeutsch: sin(t)vluot, unter Einfluss von Sünde immerwährend; gewaltig und Flut. entgegenwirkten. 

Dazu ist zu bemerken, dass Flut eine Allegorie für die Emanation (TV 56–57), den Ausfluss (Pfeil II), der diesseitigen Vielfalt (pánta in A) aus dem gemischten EINEN (hèn) ist, wobei die Flut (Pfeil II) durch willentliches Tun zustande kommt. Dieses Tun wird jedoch durch Intensivierung des Nicht-Tuns (Wuwei) im regelmäßigen Üben (Bild 1), das den Aufstieg (Pfeil I) bewirkt, überwunden (besiegt). Noah wusste also noch, was gemeint ist mit (1. Mose 1.28): »Mache dir (durch Nicht-Tun) die Erde (A) untertan!« Stimmig damit ist (Mat 24,39), dass für Jesus Menschen vor der Flut (als sie noch in D verweilten) »NICHTS wussten«. Jesus zufolge (Luk 3,36) erreichte Noah das Ziel (D). Auch Buddhas Lehre war für ihn das Hilfsmittel (Vehikel) zum »Übersetzen ans andere Ufer« für ein besseres Leben.9S. 115–116 in Yudo J. Seggelke, Sternstunden des Buddhismus: Buddhawort, Mittlerer Weg und Zen, DONA-Verlag Berlin 2018.

Dem Arche-Noah-Mythos ähnelt das Gilgamesch-Epos und trägt zu seinem Verständnis bei:10S. 14 in Stefan M. Maul: Das Gilgamesch-Epos. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Arche_Noah. »Lasse ab vom (diesseitigen) Reichtum (in A) und suche (Pfeil I) stattdessen nach dem, das atmet (spirituell beseelt ist, so wie es im Aufstieg der psyché zunehmend übersinnlich erfahren wird).« Der Mythos (Epos) ist auch in altindischen Weisheitsschriften angesprochen. Ihnen zufolge wurde Manu beauftragt, ein Boot zu bauen, es mit »Tieren« zu füllen und auf seine Reise (Pfeil I) – die magical mystery tour (TV 73) – noch sieben Weise mitzunehmen.

Vom »Tier« zum »Kind«

»Tier« ist mehreren traditionellen Kulturen, die den Aufstieg lehrten, eine Metapher für Menschen, die sich übermäßig weltlichen (irdischen) Dingen hingeben. Davor warnte der bekannte Spruch am Apollon-Tempel in Delphi: »Nichts im Exzess.« Wir lesen bei Platon (Rep. 379c): »Das Gute wird bei uns Menschen weit überwogen von dem Übel.« Und (Rep. 586 a ff): »[…] nach ›Art des Viehes‹ immer auf dem Boden stehend und zur Erde und den Tischen gebückt, nähren sie sich (die Menschen) und bespringen einander auf der Weide; und wenn sie aus habsüchtiger Begierde nach diesen Dingen ausschlagen und stoßen, so töten sie auch untereinander mit eisernen Hörnern und Hufen aus Unersättlichkeit.« 

»Art des Viehes« verweist auf psyché = sóma, also ihre weltliche (unterste) Wahrnehmung (in A). Dies bestätigt mir Suhrawardi, für den, wie betont, nafs – Äquivalent für Qi (psyché) – dreigeteilt ist und nafs-i ḥayawānī (tierische psyché) der untersten psyché (sóma) entspricht. Bemerkenswert ist, dass auch anima, das Etymon des Wortes Tier, das lateinische Wort für die weltzugewandte (diesseitige) psyché ist. Sie ist angesprochen in: »Nephesch ha-Behemit (Tierische Seele) ist der noch am stärksten animalische Anteil der (menschlichen) Seele, von dem die (weltzugewandten) Begierden und Instinkte ausgehen.« Auch Daoisten sprechen die tierische Seite der Menschen an, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) erkannte.11Miao Deng, Hegel und der philosophische Daoismus, Ein Vergleich ihrer Gedanken, Ludwig‐Maximilians‐Universität München 2020. Miao Deng ist sich der Bedeutung der tiefgründigen Dao-Praxis im philosophischen Daoismus nicht bewusst. Den Meistern geht es darum, ihre Schüler zu unterstützen, diese Seite in uns zu überwinden. Dabei geht es um Folgendes (Matthäus 18:3): »Wenn ihr nicht umkehrt (Pfeil I) und werdet wie die Kinder (paidía), so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«

Peter Hubral: Der glaubensfreie universelle Erleuchtungsweg
Peter Hubral: Der glaubensfreie universelle Erleuchtungsweg, Rediroma Verlag  Teil I: Ursprung von Philosophie, Theologie und Wissenschaft Teil II: Enthüllung biblischer und nicht-biblischer Mythen

»Kind« ist in vielen traditionellen und meist ausgestorbenen Kulturen, denen der Aufstieg (Pfeil I) vertraut war, eine Metapher, die so wie viele andere auch nicht wortwörtlich zu nehmen ist. Sie betont die Unverdorbenheit eines Kleinkinds, die mit dem Schöpfungsakt (Pfeil II) verloren ging und im Aufstieg (Pfeil I) wiedererworben werden kann. Darüber berichtet zum Beispiel Laozi (Kap. 55): »Trägt man in reichem Maße Tugend (De = arété) in sich, ist man einem Kleinkind vergleichbar.« Dazu ist zu betonen, dass das Wissen (empeiría) ungeÜBTEN Archäologen, Philosophen und Theologen, mangels Kenntnis der übungsbezogenen Metaphern, keine Rekonstruktion von biblischen und nicht-biblischen Mythen gelingt, wovon ich in meinem neuen Buch mehrere wiederhergestellt habe. Dabei sehe ich mich im Einklang mit Platon. Er betonte bereits die Diskrepanz zwischen dem, was Meister wie er in Metaphern fassten, und der »Dichtkunst«, die durch deren Unkenntnis in sie hineingedichtet wird (Politeia 259e): »Es besteht ein alter Streit zwischen philosophía und Dichtkunst.« 

Alle Mann an Bord

Es ist eine hohe Kunst, sich mittels der Praxis (Bild 1) von psyché = sóma zu befreien und aufzusteigen (Pfeil I). Diese wurde – bis zum Untergang der philosophía (TV 45–46) und der ihr äquivalenten Lehren – von Meistern, zu denen ich auch Noah und Jesus zähle, einst gelehrt. Deren im Aufstieg zunehmend erfahrbaren Lehrinhalte, die das WISSEN (epistéme) prägen, wurden jedoch nach deren Untergang umgedeutet und als Glaubenslehren verbreitet. So wurde zum Beispiel der Arche-Noah-Mythos nicht nur im Christentum, sondern auch in der Bahai-Religion, die in altiranischer Tradition wurzelt, religiös verzerrt. Dort ist Noah der »Heilige Seefahrer«, der mit seiner Arche Gläubige12Die Dao-Lehre hat nichts mit Glauben zu tun. Sie spricht vom übersinnlichen Erfahren und Heilen und nicht von Heiligkeit. Glauben ermöglicht keinen Aufstieg, keine Erleuchtung und auch keine Enthüllung der Mythen. zur Erkenntnis Gottes führt.13S. 46f in Sours; The Tablet of the Holy Mariner. Die Vorstellung taucht im frühen Christentum auf, zum Beispiel bei Ephraim dem Syrer, der in seiner Nisibenischen Hymne (1,35) Christus als »Piloten der Arche« bezeichnet.

»Es ist eine hohe Kunst, sich mittels der Praxis (Bild 1) von psyché = sóma zu befreien und aufzusteigen.«

Platons Idealstaat

Auch Platon verfolgte ein ähnliches Ziel wie Noah. Er beschreibt in Politeia den Idealstaat, der von einem (erleuchteten) »Philosophenkönig« regiert wird, denn nur er könne die Wahrheit (aletheía) erkennen und somit ein weiser und gerechter Herrscher sein. Platon versuchte, diesen »Staat« (wohl eher eine spirituelle Gemeinde) in Syrakus (Sizilien) zu realisieren, und scheiterte. Dabei sollte es darum gehen, dass dessen Bürger je nach Motivation und Fähigkeit ihren Aufstieg (Pfeil I) der psyché realisierten. So konnten sie sich so gut wie möglich zum »Ausgang (D) von Platons Höhle (A)« begeben, worauf er im Höhlengleichnis hinweist. 

Damit konnten sie, so wie er in Gorgias (503c ff) schreibt, die – durch ihre Menschwerdung (Pfeil II) – verlorene Gerechtigkeit, Gesundheit und sophrosýne wiedererlangen. So konnten sie die harmonía im kósmos (Bild 2) wiederherstellen. Platon erwähnt in Gorgias auch den Jenseitsmythos (523a–b), dem zufolge Seelen nach dem Tod von Göttern für ihre Taten (im Diesseits) belohnt oder bestraft werden. Wer als Gerechter gelebt hat, gelangt auf die »Inseln der Seligen (Beseelten)«, wo es »keine Übel« gibt. »Übeltäter« kommen hingegen in den Tartaros (Unterwelt). 

Die Essenz des Arche-Noah-Mythos

Ich hoffe, Leser*innen, die mir bisher folgten, erkennen, dass Noah so wie viele andere Weise seinen Schülern (mathetés) den Aufstieg (Pfeil I) lehrte, um sich auf die magical mystery tour zu begeben und sie dabei zu begleiten. Ich betrachte ihn als Meister der übungsbasierten philosophía. Dies führt (Pfeil I) zur Wahrheit (aletheía), denn was könnte wahrer sein, als was »aus sich selbst (aus dem Nichts heraus)« eidetisch erfahren wird und nicht geglaubt werden braucht? Was jedoch in die philosophía und ihre äquivalenten Lehren hineininterpretiert wird, ist Poesie. Es ist dóxa (Meinung, Glaube, Für-wahr-Halten), die uns »Höhlenmenschen« meist echter erscheint, als was sich dahinter verbirgt. Dies gilt nicht für Platons langjährige Schüler, über die er im Zweiten Brief (314b–c) berichtet: »Veteranen (philósophoi) mit nicht weniger als 30 Jahren Übungserfahrung sagen, dass das, was ihnen (als Anfänger) zuerst am allerunglaubwürdigsten erschien, nun am klarsten und akzeptabelsten ist, und das, was glaubwürdig erschien, sich ins Gegenteil verwandelte.« Würden diese geÜBTEN Veteranen weiterhin (Politeia, 106b) »Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmen, der das Vorüberziehende (Schatten an der Höhlenwand) am schärfsten sah und am besten behielt«? Gewiss nicht! Fragen wir: »Worin würden Meister die Ursache für die ökologische Krise (Klimawandel, Migration, Artensterben, Pandemien) erkennen, in der sich die Welt heute befindet?« Hätten sie ein Rezept für ihre Verminderung? Nicht nur für diejenigen, die gewillt sind, sich auf die magical mystery tour (Pfeil I) zu begeben, um ihr weltzugewandtes Denken damit zu naturalisieren (TV 44)?

Prof. Dr. Peter Hubral

Zum Autor

Prof. Dr. Peter Hubral ist Professor i.R. für Geophysik. Er hat fünf Bücher in deutscher und englischer Sprache verfasst, in denen er zeigt, dass die Pythagoreische/Platonische Schule der Selbst- und Welterkenntnis – infolge des Verlusts ihrer einzigartigen Übungspraxis – ausgestorben ist. Ihre Essenz hat aber in der Lehre von Dao-Meister Fangfu bis heute überlebt.

Bildnachweis: © Adobe Photostock, Autor

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