Veit Lindau

Veit Lindau – Die Seele und der Pudel

Wie wir unser Ego nutzen können, um zu erwachen

Jenseits einer bestimmten spirituellen Tradition entwirft Veit Lindau ein nicht-konzeptionelles und pragmatisches Verständnis des Egos und spricht ihm eine gewichtige Bedeutung für unser praktisches Leben zu. Darüber hinaus existiert eine Sehnsucht, ein Rufen in unserem Inneren, das uns darauf hinweist, dass wir weitaus mehr als unser Ego und unser Körper sind. 

Als ich gebeten wurde, für diese Ausgabe einen Artikel über »Ego und Höheres Selbst« zu schreiben, habe ich zuerst gezögert. Denn ich bin weder religiös noch philosophisch oder strikt wissenschaftlich unterwegs. Ich sehe mich eher als liebevollen Ketzer und spirituellen Pragmatiker. Also möchte ich alle vorwarnen, die sich gut mit Schriften über diese Themen auskennen. Wenn es um die Seele geht, lege ich keinen Wert darauf, mich einem Konzept anzupassen. Ich suche nach der direkten Erfahrung. Deshalb begreife diesen Artikel auch bitte nicht als den Versuch, etwas zu definieren, was sich meines Erachtens jeglicher verbalen Definition entzieht. Ich möchte dich vielmehr einladen, mal alle Konzepte loszulassen und dich und die verschiedenen Dimensionen deines Seins nackt und neugierig zu erforschen:

Was ist für dich ein Ego?

  • Gibt es für dich noch etwas anderes, Größeres?
  • Wenn ja, woran erkennst du den Unterschied? 
  • Wie kultivierst du den Zugang zu dieser größeren Dimension?
Veit Lindau

Ein paar Worte zu mir, die meine Perspektive auf das Thema Spiritualität erklären: Ich bin in der ehemaligen DDR ohne Gott und Kirche aufgewachsen. Als die Mauer fiel, war ich weder religiös traumatisiert noch an Spiritualität interessiert. Doch ich erfuhr Leid und Sehnsucht, wie jeder von uns. Ich wollte mich finden. Ich musste mich besser verstehen. Ich werde hier nicht alle Methoden, Therapien, Meditationen etc. aufzählen, die ich getestet habe. Doch ich bin auf diesem Weg immer wieder, meist unvorbereitet in etwas Größeres hineingestolpert, was meine persönliche, kleine Existenz für einen Moment zum Stillstand brachte. Am ehesten finde ich diese Erlebnisse in den Beschreibungen von Nahtoderfahrungen wieder. Ich kenne und achte den Versuch nüchterner Wissenschaftler, solches Erleben auf biochemische Vorgänge im Gehirn zu reduzieren. Ich glaube jedoch, das machst du nur, solange du es nicht selbst erfahren hast. Für mich steht seitdem jedenfalls nicht mehr wirklich zur Diskussion, ob es so etwas wie eine Seele oder eine göttliche Quelle gibt. Diese Dinge sind nicht mit Worten beschreibbar, aber sie sind für jeden von uns erfahrbar.

»Ich glaube, dass wir alle unbewusst wissen, dass es diese größere Dimension unseres Wesens gibt, und unser Leben lang instinktiv nach ihr suchen.«

Ich glaube, dass wir alle unbewusst wissen, dass es diese größere Dimension unseres Wesens gibt, und unser Leben lang instinktiv nach ihr suchen. In der Liebe, in Drogen und in Gott. Ab einem Alter von zwölf Jahren war ich oft sehr wütend und traurig. Scheinbar grundlos. Rückblickend sehe ich einen jungen Mann, der wusste, dass ihm etwas Essenzielles fehlt, der aber nicht die richtige Frage formulieren konnte. Es war hochgradig frustrierend. 

Gelebte Spiritualität

Mein erstes, wenn du so willst, spirituelles Erwachen hatte ich völlig unvorbereitet im Präparationssaal der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich studierte damals Medizin. Wir sezierten im Laufe eines Jahres eine männliche Leiche. Erst die Haut, dann die Muskeln, die Nerven usw. Wir waren jung, unsensibel und machten eine Menge Witze über Otto, wie wir den Körper nannten. Doch im Laufe der Zeit wurde das Abtragen all der Schichten zu meiner ersten Meditation. Und ohne je etwas über Seele oder Gott gelesen zu haben, wusste ich, dass das, was da vor mir lag, nicht die Essenz eines Menschen ausmacht. Etwas fehlte. Etwas war gegangen. Und seitdem will ich wissen, was DAS ist. Ich begann, die alten spirituellen Schriften zu studieren. Vielleicht lag es daran, dass ich schon zu alt war oder zu kritisch, doch ich konnte die Beschreibungen nicht einfach als wörtlich wahr annehmen. Sie erschienen mir zu menschengemacht. Ich wollte nicht blind glauben. Ich wollte direkt erfahren. Also habe ich mich auf die Suche gemacht, wie du wahrscheinlich auch. Ich habe viele Zugänge gefunden – Hingabe, Meditation, Trance, Tanz …

Veit Lindau

Hier mein erfahrungsbasiertes Fazit bis hierher: Wir haben einen Körper, doch wir sind nicht unser Körper. Wir sind mehr. Viel mehr. Wir existieren jetzt in diesem Moment auch in Dimensionen, auf die unser analytisch-urteilender Verstand keinen Zugriff hat. Doch diese Ebenen sind erfahrbar. Alles zu seiner Zeit. Erwachen setzt ein, wenn wir es rufen. Immer anders, als wir es wollen, und immer so, wie wir es brauchen. Wir fürchten uns nicht nur vor dem Tod. Wir fürchten uns noch mehr vor dem Licht. Denn es gibt eine Quelle der Schöpfung. Ihr Licht ist für unser Ego furchterregend, gleißend, absolut, unermesslich … Wir müssen uns in Demut nähern. Dabei hilft ein gesundes, bodenständiges Ego. Die Liebe, die diese Quelle transmittiert, lässt sich nicht mit menschlicher Liebe vergleichen. Sie ist absolut und bedingungslos. Egal, was wir je verbockt haben, all unsere Erfahrungen sind ein Tropfen im Ozean ihrer Gnade. Ich glaube, dass dieses Leben eine unfassbar kostbare Chance ist, um zu staunen und diese Zeitspanne zu nutzen, um so viel wie möglich über die existenziellen Fragen unseres Lebens herauszufinden:

  • Wer bin ich?
  • Woher komme ich?
  • Wohin gehe ich?
  • Wofür bin ich hier?

Genau das ist für mich gelebte Spiritualität. Nicht an Worten zu hängen, sondern die Wahrheit herauszufordern. Wenn es Seele, Essenz, Höheres Selbst gibt, dann muss sich diese Dimension auch offenbaren, wenn wir nach ihr rufen. 

»Genau das ist für mich gelebte Spiritualität. Nicht an Worten zu hängen, sondern die Wahrheit herauszufordern.«

Wir brauchen diesen Zugang, um in dieser dualen, so komplexen Welt Sinn und Würde zu finden. Der Mensch fürchtet sich nicht nur vor dem Tod und seiner Unbedeutsamkeit, wie ihm Zyniker*innen unterstellen. Der Mensch sehnt sich auch nach einer sakralen Erfahrungsebene des Lebens, von der er instinktiv weiß, dass sie existiert. Wir arbeiten in unseren Seminaren unter anderem mit modernen Trance-Techniken, die im Gehirn der Teilnehmenden genau jene Frequenzen des Flows, der Einheit und Ekstase stimulieren. Auch wenn die Intensität der Erfahrung viele überrascht, habe ich noch nie jemanden vollständig perplex zurückkommen sehen. Es ist, als wenn alle wüssten, dass diese Dimension der Wahrheit immer schon existiert und ihnen auch zusteht. Wir wissen auf einer tiefen Ebene immer um das Heilige des Lebens. Wir wissen, dass wir in unserer Essenz gut, wahr und schön sind. Wir leiden, wenn unser Leben dies nicht widerspiegelt, und wir blühen auf, wenn wir unseren individuellen Zugang zu dieser Quelle gefunden haben. Wir betreten alte Kathedralen und egal, woran wir glauben, fühlen wir etwas, wenn sich das Licht der Sonne in ihren Fenstern bricht. Wir schauen in die Augen eines Neugeborenen, und sein noch von Urteilen freies Bewusstsein erinnert uns an eine Stille im Geist, die auch wir kennen. Wir hören Beethovens Sinfonie Nr. 9 und geben uns mit den Tönen der Glorie des Lebens hin. Zusammengefasst bedeutet dies, dass ein weiter Raum in dir und mir existiert, in dem wir uns jederzeit treffen können. Egal, woran wir glauben.

Ein anderes Verständnis vom Ego 

Dieser Erfahrungsraum birgt jedoch auch eine große Gefahr. Er kann süchtig machen. Kommst du das erste Mal in Kontakt mit dieser unbegrenzten Weite und dem süßen Frieden dieser Dimension, ist es, als wenn du nach Äonen des Umherirrens endlich wieder nach Hause zurückkehrst. Du willst – verständlicherweise – diesen Ozean der Ekstase nicht mehr verlassen. Da »draußen« warten anstrengende Beziehungsgespräche, Kreuzschmerzen und Steuerabrechnungen auf dich. Ein Moment hier fühlt sich umso vieles frischer, wahrer, intensiver an als Jahre in deiner strikt begrenzten, weltlichen Realitätsebene. Deshalb verstehe ich die egofeindliche Haltung vieler psychospiritueller Strömungen. Doch das Ego zu ignorieren und an diesen, nennen wir sie Seelenerfahrungen festzuhalten, ist nicht die Lösung! Das Ego ist deine Start- und Landebahn in einem ungeheuer komplexen, multidimensionalen Universum. 

»Ohne Ego gehst du verloren.«

Ohne Ego gehst du verloren. Doch bevor ich ein Plädoyer für ein gesundes, reifes Ego halte, lass uns kurz klären, was das überhaupt ist. Hier meine saloppe und, wie ich finde, alltagstaugliche Definition: Weites, unbegrenztes Bewusstsein inkarniert in einem Körper (den ich liebevoll Fleischklöpschen nenne), um in dieser dualen Realitätsdimension existenzielle Entwicklungsprozesse erleben zu können – zum Beispiel, zwischen Liebe und Angst wählen zu lernen. Dein Körper ist der Träger deiner Erfahrungen und verdient dafür Schutz und Respekt. Diese Aufgabe übernimmt dein Ego, – eine Ansammlung von Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern – angeordnet um den zentralen Gedanken, ein physischer Jemand zu sein. Die Aufgabe dieser Algorithmen ist klar: 

  1. Sichere das möglichst komfortable Überleben des Fleischklöpschens. 
  2. Lass es sich fortpflanzen. 
  3. Sorge für ein gutes Ranking in der Herde. 

Daran ist nichts falsch! Lass das Ego seinen Job erledigen, nur identifiziere dich nicht mit ihm. Ich höre immer wieder den Mythos, man müsse sein Ego ablegen oder sogar töten. Warum? Du brauchst es, um Milch einkaufen zu können, ein Date klarzumachen, ein erfolgreiches Business aufzubauen und paradoxerweise auch, um auf eine ausgewogene Weise transzendente Erfahrungen machen zu können. Dein Ego ist nicht das Problem. Du machst es zu einem, wenn du dich mit ihm verwechselst oder es ignorierst.

Veit Lindau

Im ersten Fall wird das Leben so anstrengend. Denn wenn du glaubst, ein Jemand zu sein, dann will dieser Jemand natürlich recht haben, geliebt werden, kontrollieren … Du wirst dein Ego mit Geld, Macht, Schönheitschirurgie … aufpimpen und dennoch in der Tiefe nicht zur Ruhe kommen. Denn etwas in dir weiß, dass du in einen Fake investierst. Du wirst dich ständig in Situationen wiederfinden, in denen du dich verteidigen oder schönreden musst. Ich erkläre es meinen Seminarteilnehmer*innen immer so: Ein Ego ist wie ein Pudel. Jeder von uns bekommt einen bei unserer Geburt geschenkt. Erst einmal sehen sie sehr verschieden aus, doch wenn du eine Weile Pudel (= Persönlichkeitsforschung) betreibst, merkst du, es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Grundausstattungen. Ich arbeite zum Beispiel mit dem Enneagramm. Es ist, wenn du so willst, die Lehre von neun verschiedenen Pudelsorten. Da gibt es den perfektionistischen Pudel, den paranoiden, den Drama-Pudel, den Träumer-Pudel.

Im Enneagramm geht es nicht darum, dass du deinen Pudel immer »besser« machst, sondern, dass du ihn erkennst und lernst, ihn mit mildem Auge zu sehen. Du siehst, dass jeder Pudel unvollkommen ist und gleichzeitig in seinem Bemühen, das Beste aus dem Leben herauszuholen, liebenswert. Mein Pudel hat eine Menge toller Eigenschaften, doch er ist auch manchmal eitel, zornig, rechthaberisch, ungeduldig …! Das ist alles kein Problem. Wenn du die Macken deines Pudels kennst, brauchst du dich nicht mehr verteidigen. Du kannst sogar darüber lachen und dich endlich entspannen. Wenn du dich entspannst, kommt das zutage, was nicht Ego ist. Deine Unschuld, dein Licht.

Also lass dein Ego einfach sein. Das heißt nicht, es zu ignorieren. Denn hier kommt ein wunderbares Gesetz: Du kannst nur etwas transzendieren, was du vorher integriert hast. Es gibt einen Grund, warum die Meister*innen in den alten spirituellen Traditionen die Adepten erst wieder wegschickten, um eine Familie zu gründen. Du brauchst ein reifes Ego, um es reif loslassen zu können. Reif heißt nicht perfekt. Ego ist per Definition unvollkommen. Reif heißt, du bist dir der Licht- und Schattenseiten deines Egos sehr bewusst. Du hast seine Wirkungsmechanismen kennengelernt. Du weißt, wann es Zeit ist, es mal von der Leine zu lassen, und mit welchem Kommando du es wieder in seine Hundehütte rufst.

»Warum sollte ich weltliche Herausforderungen angehen und meistern, wenn doch im Endeffekt alles wieder geht?«

Achtung, jetzt kommt eine provokante Behauptung, basierend auf vielen Beobachtungen: Viele Vertreter*innen der »spirituellen« Szene, die gern betonen, kein Ego zu haben, sind einfach zu faul, sich dem natürlichen Reifungsprozess eines gesunden Egos hinzugeben. Denn dieser konfrontiert uns mit nüchternen und anstrengenden Herausforderungen, wie zum Beispiel Disziplin, Geduld, Hingabe, konstruktiv-kritischem Denken, radikaler Ehrlichkeit und Schattenarbeit. Ken Wilber nennt es die Prä-Trans-Verwechslung: Ich versuche einige Schulklassen der Evolution zu überspringen und erkläre mir das mit spirituellen Konzepten. »Warum sollte ich erst ein Ego entwickeln, wenn es doch letztendlich eine Illusion ist? Warum sollte ich weltliche Herausforderungen angehen und meistern, wenn doch im Endeffekt alles wieder geht?« 

Dies sind tatsächlich sehr gute Fragen, und jeder von uns muss seine Antwort darauf finden. Ich kann jedenfalls im Rückblick deutlich erkennen, wie ich vor 30 Jahren die »spirituelle« Suche missbrauchte, um dem Dreck, dem Schmerz, der Ohnmacht einer vollständigen Inkarnation zu entgehen. Ich musste meine heiligen Übungsmatten finden, auf denen ich endlich bereit war, täglich zu erscheinen, mein Ego zu sammeln, um es nun täglich etwas mehr hinzugeben. Kein Ende dieser Reise in Sicht. 

Ken Wilber fasst es so zusammen:

  • Grow up.
  • Show up.
  • Wake up.
  • Clean up.

Grow up

Auch wenn du – vielleicht durch Meditation – deine nichtpersönliche Ebene kennst, hast du auch eine Reise auf der persönlichen Ebene angetreten. Und auf dieser geht es darum, erwachsen zu werden. Übernimm Verantwortung. Übe dich in Zuverlässigkeit und Integrität. Trainiere deinen Pudel darin, deinen Kommandos zu gehorchen. Es ist kein Zufall, warum sich in der spirituellen Szene relativ viele weltlich machtlose Menschen tummeln. Nicht, weil sie wirklich weiter wären, sondern weil sie, was die Hausaufgaben auf persönlicher Ebene betrifft, zurückhängen. Wenn du wissen willst, wie viel Bestand deine Spiritualität wirklich hat, mach den Erwachsenen-Realitätstest. Schreibe all die schön klingenden Konzepte und Werte untereinander auf ein Blatt Papier. Dann schreibe auf ein zweites Blatt eine schonungslos ehrliche und möglichst konkrete Beschreibung deines Denkens, Fühlens und Handelns der letzten Monate. Dann lege die Blätter nebeneinander und schiebe sie nun so weit auseinander, wie die Kluft zwischen deinen Ideen und deinem Handeln ist. Grow up bedeutet, sich dem Schmerz dieser Diskrepanz zu stellen und dann die Lücke jeden Tag etwas mehr zu schließen. Wenn du dein weltliches Leben nicht im Griff hast, hast du kein Pech oder schlechtes Karma. Es ist auch keine Regierung daran schuld. Du hast einfach bestimmte Hausaufgaben nicht gemacht. Du kannst jetzt gern (falls du dich angesprochen fühlst) eine Runde sauer auf mich sein. Dann lies den Text nochmal! Glaub mir, es lohnt sich so sehr. Auch deine spirituellen Erfahrungen werden dadurch an Tiefe und Konstanz gewinnen.

Show up

Dir wurden all deine kostbaren Gaben nicht anvertraut, um in dir zu verstauben. Werde sichtbar. Bring dich ein. Denke größer darüber, wer du bist, was du kannst und welchen Beitrag du für uns alle leisten kannst. Was können deine Mitmenschen und die Welt von deinem Pudel haben? Dich mit deinen Fähigkeiten einzubringen, ist nicht dasselbe, wie dich selbst zu wichtig zu nehmen. Die Biene verschenkt sich. Die Apfelblüte verschenkt sich. Wenn du dich nicht verschenkst, stirbst du unerfüllt. Ein Nebeneffekt deiner Sichtbarkeit: Du wirst zur Projektionsfläche von mehr Menschen. Ihre Bewunderung und ihre Ablehnung werden dein Schattenpotenzial triggern und deine Entwicklung enorm beschleunigen.

Wake up

Egal, ob dein Leben gerade auf der Erfolgsspur verläuft oder sich in einer dunklen Sackgasse verfangen hat, kultiviere den Zugang zur größeren Dimension deines Seins. Ich behaupte, ohne Wissen und regelmäßige Erfahrung deiner Seelenebene macht vieles in diesem irdischen Labyrinth keinen Sinn und ist auch kaum zu ertragen. Wache mitten im Spiel auf und spiele es wach weiter. Sei in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Stirb täglich deinen kleinen Tod, um am Ende in Frieden loslassen zu können.

Clean up

Dies ist der Bereich der proaktiven und kontinuierlichen Schattenarbeit. Nichts regt deine Entwicklung stärker an, bringt dein Ego in all seinen Dimensionen schneller ans Licht und fördert dein echtes Erwachen mehr als deine Bereitschaft, dich deinem Schatten zu stellen. Schattenarbeit ist ein unglaublich beliebtes Wort in der spirituellen Szene, ist aber beim nächsten Facebook-Kommentar eines Andersdenkenden oder beim Neidischwerden auf erfolgreichere Menschen schnell wieder vergessen. Auf den Demonstrationen des letzten Jahres konnte man viele »spirituelle« Menschen beobachten und hören, die kurzfristig komplett vergessen hatten, dass es da mal so etwas wie Schattenarbeit gab.

Sie lässt sich auf ein Gesetz herunterbrechen: Du regst dich niemals wegen dem auf, was du in der Welt siehst, sondern immer wegen deinem Schatten, der in dir durch die Welt berührt wurde. Wer sich Friedensbote nennt, muss den Krieg in sich finden und integrieren. Wer Lichtarbeiter sein möchte, wird dies nur, indem er in seine Dunkelheit steigt. Viele Konzepte vom »Höheren Selbst« sind eigentlich Sammlungen der Schokoladenseiten des Egos. Der Rest wird verdammt und muss sich dann natürlich in unseren Mitmenschen oder ganzen Bevölkerungsgruppen zeigen. Bis wir stehen bleiben und verstehen, dass wirkliche Spiritualität nicht bedeutet, gut zu sein, sondern ganz.

Wann immer ich Stau, Widerstand, Nichterfüllung in meinem Leben erfahre, nutze ich diese vier Perspektiven für einen Check. Welche habe ich übertrieben? Welche habe ich ignoriert? Ist es Zeit, noch erwachsener zu werden? Mich noch mehr einzubringen? Hat jemand oder etwas mein Schattenpotenzial getriggert? Und wann war ich das letzte Mal im Reich der Seele?

Die leise Sehnsucht in uns

Nun möchte ich auf diese grenzenlose Dimension unserer Existenz eingehen. Wir müssen weder religiös noch spirituell sein, um uns hier treffen zu können. Wir alle, egal ob wir uns als Christen, Buddhisten oder Atheisten begreifen, kennen Momente, in denen uns etwas berührt, was größer ist als unser kleines ICH. Die Gelehrten mögen sich darüber streiten, wie es heißt. Stille, Heiliger Geist, Atman, Höheres Selbst, Seele. Ich weiß nur aus vielen Gesprächen, dass wir, wenn sich der Pudel zurückzieht und wir in diese größere Erfahrung eintauchen, wissen, jenseits von Wissen. Wir mögen keine Worte für diesen Raum haben, der uns dann aufnimmt, doch etwas in uns weiß dann, dass alles richtig und gut ist. Nicht auf eine menschliche, sondern kosmische Weise. Wir sind dann Part der Sinfonie und wir sind die Sinfonie. Wir sind die Welle und der Ozean. Der Frieden, den wir in dieser Dimension erfahren, ist nicht gebunden an Umstände. Er ist frei, unbegrenzt und glückselig. 

Diese Erfahrung, die ich nicht wirklich beschreiben kann, kann uns überall »erwischen«. Beim Meditieren, bei einem Sonnenaufgang am Meer, in der Hingabe an den Liebesakt, beim Lauschen einer Fuge von Bach, im wildesten Lärm eines dreckigen Marktplatzes oder – wie es mir zum Beispiel einmal passiert ist – beim Schneiden eines riesigen Haufens Zwiebeln in einer Großküche. Es kann uns überall passieren, weil WIR immer – jetzt und hier – in dieser freieren Dimension existieren. Wir müssen also nicht erst nach Indien reisen. DAS ist jetzt und hier – beim Lesen dieses Artikels – omnipräsent. Wir erfahren es nicht immer, weil sich unser Aufmerksamkeits-Schwerpunkt stark auf das Ego verlagert hat. Stell dir einen unermesslich großen, wunderschönen, im Licht der Sonne glitzernden Ozean vor. Er ist da. Immer. Doch davor, direkt in deinem Blick, springt ein kleiner, ängstlicher, nach Aufmerksamkeit haschender Pudel auf und ab. Du konzentrierst dich auf ihn und schon siehst du das Meer, weswegen du eigentlich gekommen bist, nicht mehr. So geht es den meisten Menschen ihr gesamtes Leben, bis sie nur noch den Pudel haben. Sie pflegen ihn. Sie kämpfen für ihn. Sie suchen ihm schicke Pudelklamotten aus. Sie finden andere Pudel für Freundschaft, Business und Liebe. Sie erzählen sich gegenseitig die Geschichte ihrer Pudel. 

Doch egal, wie sehr sie die Geschichte mit kleinen und großen Abenteuern ausschmücken, etwas scheint dem Pudel immer zu fehlen. Es ist nie genug. Der Pudel ist nicht das Problem. Du hast dich nur durch ihn vom Ozean des Lichts ablenken lassen. 

Doch in der Tiefe weißt du ganz genau, dass du nicht der Pudel bist. Er ist viel zu berechenbar, kleinherzig, ängstlich – um dir gerecht zu werden. Solange du einen Großteil deiner Existenz leugnest, wirst du dich nie vollständig verstehen. Du wirst im reichsten Leben der Welt immer noch das Gefühl haben, etwas Entscheidendes fehlt. Eine namenlose Sehnsucht wird dich umtreiben, die du weder mit Arbeit noch mit Alkohol oder Konsum gestillt bekommst. Du wirst dich manchmal auch von deinen liebsten Menschen nicht erkannt fühlen. Wie auch, denn du siehst ja selbst nur einen Bruchteil von dir. Du liegst in den Armen eines geliebten Menschen und fühlst dich doch seltsamerweise mutterseelenallein. Du suchst in allem dein Zuhause. Doch etwas in dir kommt nie an. Du stellst dich heimlich infrage, denn ganz in der Tiefe scheint etwas nicht mit dir zu stimmen. Das Unangenehmste ist, dass du diese Ahnung nicht einmal benennen kannst. Etwas Entscheidendes fehlt, und dir fällt nicht einmal die richtige Frage ein. Du reißt dir den Arsch für deine Ziele auf, doch wenn du sie erreichst, realisierst du erneut frustriert, dass es nicht um sie ging. Manchmal überkommt es dich, und du zweifelst an, ob diese Welt überhaupt real ist. Du fühlst dich wie ein Zuschauer oder eine Zuschauerin auf einer Riesenparty. Du stürzt dich wieder und wieder ins Getümmel, um dich abzulenken, doch wenn es leise wird, sind die seltsamen Gedanken wieder da:

  • Wer bin ich?
  • Wofür bin ich wirklich hier?
  • Wohin geht diese Reise?

So vieles an dem, was du tagtäglich erlebst, macht keinen Sinn, wenn du es nur aus den Augen des kleinen Pudels siehst. Ich werde dir jetzt eine seltsam anmutende Frage stellen und lade dich ein, sie ein, zwei Minuten wirken zu lassen:

Wann hast du begonnen?

  • Auf welche Geschichte beziehst du dich, wenn du an dich denkst?
  • Wann fing sie an? Bei deiner Geburt? Mit deiner Zeugung? 
  • Was, wenn das viel zu kurz gedacht ist?
  • Was, wenn wir alle einen großen Teil unserer Geschichte ausgeblendet haben?
  • Was, wenn dein Leben nicht mit deiner Geburt begann?

Ein kleiner Körper kommt schreiend auf die Welt. Ein absolutes Wunder. Eltern sehen diesen Körper an und denken: »Dieses kleine süße Fleischklöpschen ist unser Kind!« Sie geben ihm einen Namen und feiern diesen Tag ab jetzt als seinen Geburtstag. Damit beginnt unsere offizielle Geschichte. Unsere Eltern zeigen immer wieder liebevoll auf uns, dieses herumkrabbelnde Fleischklöpschen, benennen es Tausende Male mit unserem Namen und zu der Zeit, wenn wir denken und sprechen können, haben wir die Idee tief in uns aufgenommen. Wir sehen in den Spiegel, zeigen auf den Körper, sagen unseren Namen und wissen mit hundertprozentiger Sicherheit, dass wir das sind. Irgendwann bekommen wir ein Kind und wir geben die Idee weiter. Generationen von Menschen, Milliarden von intelligenten Bewusstseinsfeldern wachsen in dem Irrglauben auf, lediglich ein Fleischklöpschen mit Verfallsdatum zu sein. Sie werden ihr Leben lang beschäftigt gehalten, um ja nie auf die richtige Frage zu kommen. Das ist kein Fehler. Wir sind halt einfach eine Spezies mit einer (noch) relativ niedrig entwickelten Bewusstseinsreife.

»Wer glaubt, nur ein Körper zu sein, muss sich vor dem Tod fürchten. Er wird ein Speckröllchen oder eine Falte mehr als eine persönliche Beleidigung empfinden.«

Ich glaube, dass wir alle unbewusst wissen, dass wir mehr sind als dieser Körper. Doch unsere derzeitige Kultur ermutigt uns nicht, diese Dimension wiederzufinden. Dies hat einschneidende Konsequenzen. Wer glaubt, nur ein Körper zu sein, muss sich vor dem Tod fürchten. Er wird ein Speckröllchen oder eine Falte mehr als eine persönliche Beleidigung empfinden. 

Der Raum der Begegnung

Selbst wenn du nicht daran glaubst, stell dir für einen Moment vor, du wärest eine freie Seele. Ein purer, unsterblicher Funken Licht in einem unermesslich großen Ozean des Lichts. Schau aus den Augen dieses freien Bewusstseins auf unsere Gesellschaft. Was siehst du? Wunderschöne, hochintelligente Wesen, die absurde Dinge tun, um den Tod zu leugnen. Wir rammeln herum, kaufen uns blöde, streiten uns wund. Wir senden unsere Kinder in Erziehungssysteme, die sie vergessen lassen und sie zu voll funktionstüchtigen Pudeln einer Leistungsgesellschaft formen. Später, als Erwachsene, fehlt uns diese magische, weite Dimension so sehr. Es ist gesund und gut, den Pudel entspannt zu pflegen. Doch wir werden für viele individuelle und kollektive Herausforderungen erst eine Lösung finden, wenn wir einen von Aberglauben freien Zugang zu dieser größeren Dimension kultivieren. Ich möchte noch einmal betonen, dass wir uns dafür nicht auf einen bestimmten Glauben einigen müssen. Dieses Nichts & Alles können wir eh nicht mit unserem Verstand erfassen. Doch wir können es erfahren. Wenn wir meditieren. Wenn wir die Augen schließen und durch die Lücke zwischen zwei Gedanken in jenen stillen, weiten Raum unseres Bewusstseins eintauchen. Oder wenn wir uns an einen Baum lehnen und seine leise Natur in uns aufnehmen. Oder wenn wir versuchen, uns den ozeanischen Frieden eines Säuglings im Bauch seiner Mutter vorzustellen. In dieser Stille bist du keine Person mit einem Namen. Du hast kein Alter, kein Geschlecht. Du bist einfach. Ein ungeheuer wohltuendes, weil befreiendes und nährendes ICH BIN. Alle Menschen, mit denen ich über diesen Erfahrungsraum gesprochen habe, waren nicht komplett erstaunt, sondern haben es eher wie eine natürliche Erinnerung erlebt an das, was sie sind und schon immer waren. Der Christ, die Mystikerin, der Neurowissenschaftler werden die Erfahrung im Nachgang vielleicht anders interpretieren und einordnen. Doch wenn sie sich in die Augen schauen, werden sie wissen, dass sie sich da begegnet sind. Sie werden Rumis Worte verstehen:

»Draußen,
jenseits der Vorstellungen von Richtig und Falsch,
liegt ein Feld. Dort werden wir uns treffen.
Wenn die Seele sich im Gras niederlässt,
ist die Welt so voll, dass niemand mehr zu reden vermag.
Vorstellungen, Sprache, selbst der Ausdruck einander –
das alles ist dann sinnlos geworden.«
Rumi

Jemand, der regelmäßig in diese Dimension eintaucht, lebt entspannter und großherziger. Kein Krieg macht dann mehr Sinn, denn dir ist klar, dass du dich immer mit dir selbst streitest. Acht Milliarden einzigartige Pudel, aber nur ein Meer, aus dem sie alle stammen.

Stell dir vor, wir würden unsere Kinder mehr ermutigen, direkte Erfahrungen dieser Ebene zu machen und diese dann selbst in Worte zu bringen, anstatt ihnen unseren Glauben überzustülpen.

Stell dir vor, das wichtigste Unterrichtsfach in der Schule wäre experimentell und es würde lauten: »Wer bin ich wirklich?«

Stell dir vor, unsere Politiker*innen im Bundestag würden vor jeder wesentlichen Debatte erst einmal für eine Stunde mit verbundenen Augen intensiv atmen, den ganzen Frust ihres Pudels rauskotzen und dann – durch Atmung und Rhythmus – ihre Gehirnwellen in hoch kreative, freudvolle Frequenzbereiche verschieben und erst nach einer weiteren halben Stunde in stiller Meditation zusammenkommen, um nun nicht mehr aus der rechthaberischen Pudelperspektive, sondern aus dem Weitblick des Ozeans heraus das Beste für uns alle zu empfangen.

Klingt das verrückt? Kann sein. Vielleicht werden aber auch unsere im Bewusstsein wesentlich weiterentwickelten Nachfahren uns und unsere Begrenztheit für verrückt erklären. Weil es in einem spirituell und wissenschaftlich aufgeklärten, postreligiösen Zeitalter völlig üblich sein wird, den Pudel zu achten und den Zugang zum Größeren täglich zu pflegen.

 Wie du nun gegen Ende des Artikels siehst, habe ich es tunlichst vermieden, Seele oder Höheres Selbst zu definieren. Ich wollte dir Lust machen, selbst verstärkt danach zu suchen und tiefer in diese Dimension einzutauchen. Ich hoffe, dies ist mir gelungen. Ich misstraue Menschen, die viel darüber reden. Lass uns lieber zusammenkommen, über unsere Pudel liebevoll lachen und uns dann still in die Augen schauen. Denn sie sind die Tore in DAS. Sie werden uns leuchtend davon berichten, dass wir geöffnet wurden.

In Liebe für deinen Pudel und deine Seele

Veit

Veit Lindau

Zum Autor: 

Veit Lindau ist Experte für die integrale Selbstverwirklichung des Menschen. Gemeinsam mit seiner Frau betreibt er homodea.com mit derzeit über 70.000 Mitgliedern. Autor von »Heirate dich selbst«, »Werde verrückt«, »SeelenGevögelt« u.a. 

veitlindau.com

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