Wirkende Worte
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In einem Brief an den jüdischen Philosophen Martin Buber spricht Benjamin über die Wirkung von Sprache. Ihm zufolge darf Sprache nicht als Mittel verwendet werden, um eine Handlung auszulösen, sondern Sprache ist Manifestation von Wahrheit und Wirklichkeit und damit eine eigene Form der Handlung. Mit dieser ›Namensprache‹ treten wir aus der Ideologie heraus in die Wirklichkeit.
Sehr verehrter Herr Doktor Buber,
»[…] Es ist eine weitverbreitete, ja die fast allerorten als Selbstverständlichkeit herrschende Meinung, daß das Schrifttum die sittliche Welt und das Handeln des Menschen beeinflussen könne, indem es Motive von Handlungen an die Hand gibt. In diesem Sinne ist also die Sprache nur ein Mittel der mehr oder weniger suggestiven Vorbereitung der Motive, die in dem Innern der Seele den Handelnden bestimmen. Es ist das Charakteristische dieser Ansicht, daß sie eine Beziehung der Sprache zur Tat, in der nicht die erste Mittel der zweiten wäre, überhaupt garnicht in Betracht zieht.
Dieses Verhältnis betrifft gleichermaßen eine ohnmächtige, zum bloßen Mittel herabgewürdigte Sprache und Schrift als eine ärmliche, schwache Tat, deren Quelle nicht in ihr selbst, sondern in irgendwelchen sagbaren und aussprechbaren Motiven liegt. Diese Motive wiederum kann man bereden, ihnen andere entgegenhalten und so wird (prinzipiell) die Tat wie das Resultat eines allseitig geprüften Rechenprozesses an das Ende gesetzt. Jedes Handeln, das in der expansiven Tendenz des Wort-an-Wort Reihens liegt, scheint mir fürchterlich und um so verheerender, wo dieses ganze Verhältnis von Wort und Tat wie bei uns in immer steigendem Maße als ein Mechanismus zur Verwirklichung des richtigen Absoluten um sich greift.
»Schrifttum überhaupt kann ich nur dichterisch, prophetisch, sachlich, was die Wirkung angeht, aber jedenfalls nur magisch das heißt un-mittel-barverstehen.«
Schrifttum überhaupt kann ich nur dichterisch, prophetisch, sachlich, was die Wirkung angeht, aber jedenfalls nur magisch das heißt un-mittel-bar verstehen. Jedes heilsame, ja jedes nicht im innersten verheerende Wirken der Schrift beruht in ihrem (des Wortes, der Sprache) Geheimnis. In wievielerlei Gestalten auch die Sprache sich wirksam erweisen mag, sie wird es nicht durch die Vermittlung von Inhalten, sondern durch das reinste Erschließen ihrer Würde und ihres Wesens tun. Und wenn ich von anderen Formen der Wirksamkeit – als Dichtung und Prophetie – hier absehe, so erscheint es mir immer wieder, daß die kristallreine Elimination des Unsagbaren in der Sprache die uns gegebene und nächstliegende Form ist, innerhalb der Sprache und insofern durch sie zu wirken. Diese Elimination des Unsagbaren scheint mir gerade mit der eigentlich sachlichen, der nüchternen Schreibweise zusammenzufallen und die Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen Magie anzudeuten. Mein Begriff sachlichen und zugleich hochpolitischen Stils und Schreibens ist: hinzuführen auf das dem Wort versagte; nur wo diese Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Macht sich erschließt, kann der magische Funken zwischen Wort und bewegender Tat überspringen, wo die Einheit dieser beiden gleich wirklichen ist. Nur die intensive Richtung der Worte in den Kern des innersten Verstummens hinein gelangt zur wahren Wirkung. Ich glaube nicht daran, daß das Wort dem Göttlichen irgendwo ferner stünde als das ›wirkliche‹ Handeln, also ist es auch nicht anders fähig, ins Göttliche zu führen als durch sich selbst und seine eigene Reinheit. Als Mittel genommen wuchert es.«
(Quelle: Gesammelte Briefe I, S. 325–327)
Erläuterungen von Ronald Engert:
In diesem Brief an den großen jüdischen Mystiker und Philosophen Martin Buber spricht Walter Benjamin über das Verhältnis von Wort und Tat, oder Sprache und Handlung. Dieser Brief ist schon über hundert Jahre alt, aber es lassen sich darin zeitlose Informationen finden, die in der heutigen Zeit spirituell, kulturell und politisch relevant sein könnten.
Diese Erläuterung behandelt deshalb einen Aspekt der Sprache, der in den theoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte und auch heute von großer Bedeutung ist und der auch Benjamin beschäftigte. Es ist die Frage nach der Wirksamkeit von Sprache.
Benjamin adressiert dies in seinem Brief an Martin Buber. In dieser Zeit beschäftigte sich Benjamin intensiv mit Sprachphilosophie und stellt sich hier die Frage, wie
»kann der magische Funke zwischen Wort und bewegender Tat überspringen«? (GB I, 327)
Benjamin verwendet hier das Motiv des Magischen, das einige Monate später eine zentrale Stelle in seinem Sprachaufsatz[2] einnehmen wird. Doch vor dieser Formulierung, die auf den Kern des Sprachproblems führt, diskutiert Benjamin das Missverständnis, das in Bezug auf Sprache weitverbreitet ist:
»Es ist eine weitverbreitete, ja die fast allerorten als Selbstverständlichkeit herrschende Meinung, daß das Schrifttum die sittliche Welt und das Handeln des Menschen beeinflussen könne, indem es Motive von Handlungen an die Hand gibt. In diesem Sinne ist also die Sprache nur ein Mittel der mehr oder weniger suggestiven Vorbereitung der Motive, die in dem Innern der Seele den Handelnden bestimmen. Es ist das Charakteristische dieser Ansicht daß sie eine Beziehung der Sprache zur Tat, in der nicht die erste Mittel der zweiten wäre, überhaupt garnicht in Betracht zieht.« (GB I, 325f.)
Sprache wird in dieser allerorten herrschenden Meinung als Dienerin der Moral und der Handlung gedacht. Sie soll ein Mittel sein, um dem Menschen Motive der Handlung an die Hand zu geben. Sie soll diese Motive suggerieren und das Innere des Handelnden beeinflussen. Handeln wird als die zentrale Instanz betrachtet. Dies ist jedoch nach Benjamin nicht die richtige Verwendung von Sprache. Vielmehr geht es ihm um eine andere Wirkung, die er als magisch und unmittelbar bezeichnet. Er fährt fort:
»Schrifttum überhaupt kann ich nur dichterisch, prophetisch, sachlich, was die Wirkung angeht, aber jedenfalls nur magisch das heißt un-mittel-bar verstehen.« (GB I, 326, Hervorhg. v. Benjamin)
Dies ist eine sehr klare und direkte Aussage, die fast wortgleich im Sprachaufsatz wiederkehrt:
»Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie.« (GS II, 142f., Hervorhg. v. Benjamin)
Trotz aller Klarheit der Aussage fragt man sich, was »magisch« sein soll. Welche Definition von Magie legt Benjamin zugrunde? Benjamin las damals gerade das Buch des Mystikers Franz Joseph Molitor: »Philosophie der Geschichte« über die Kabbala[3]. »Magie« ist für Molitor das zentrale Wort, um die Sphäre der göttlichen Wirklichkeit und Wirkung sowie die Wirkung der Sprache zu bezeichnen. Benjamin bringt ebenfalls die Magie direkt mit der Sprache in Beziehung. Wie kann Sprache eine unmittelbare, magische Wirkung haben? Die Wirksamkeit der Sprache erzielt man
»nicht durch die Vermittlung von Inhalten, sondern durch das reinste Erschließen ihrer Würde und ihres Wesens« (ebd.).
Sprache erhält hier ihre eigene Würde, sie wirkt in und aus sich selbst und steht auf gleicher Ebene mit der Handlung. Sie ist nicht mehr Mittel, um eine Handlung zu suggerieren, die eine Wirkung hervorbringen würde, sondern sie ist selbst direkt und unmittelbar wirkend.
»Zur materiellen Aktion der Handlung gesellt sich die immaterielle Aktion der Sprache.«
Zur materiellen Aktion der Handlung gesellt sich die immaterielle Aktion der Sprache. Sprache wird so zu einer nicht-physischen, geistigen Handlung in sich selbst. Diese Sprache hat Kraft und versinkt nicht in dem ideologischen Sumpf, der Sprache als Mittel verwendet und damit zur Beliebigkeit herabwürdigt oder als Herrschaftsinstrument missbraucht. Das Handeln ist in dieser Ordnung nicht wirklicher als die Sprache.
»Das Handeln ist in dieser Ordnung nicht wirklicher als die Sprache.«
Die reine Sprache vermag direkt Handlungsimpulse auszulösen, indem sie Klarheit und Wahrheit transportiert. Je näher das Wort am Unsagbaren ist, umso wahrer ist es. Es ist der Gegensatz zur »expansiven Tendenz des Wort-an-Wort-Reihens« (GB I, 326). Das wahre Wort ist der Stille nahe ohne still zu sein, und deshalb wirkt es.
»Diese Elimination des Unsagbaren scheint mir gerade mit der eigentlich sachlichen, der nüchternen Schreibweise zusammenzufallen und die Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen Magie anzudeuten.« (ebd.)
Nicht Aufforderung oder Appell zur Handlung, wie sie allerorten in der religiösen und politischen Praxis zu finden sind, ist die Aufgabe einer solchen Sprache. Nicht auf mittelbarem Weg soll hier Wirkung erzeugt werden. Es ist eine unmittelbare, direkte Wirkung.
Es geht darum, aus der Urteilssprache wieder in die Namensprache einzutreten. Die Urteilssprache ist die Sprache der moralischen Vergleiche und Bewertungen. Benjamin wendet sich »gegen jeden moralisierenden Dilettantismus« (GS II, 304), d. h. gegen verbale Urteile oder Vergleiche. Das betrifft praktisch jede Art von Moralismus, d.h. Urteil, in verbalen Akten.
Die Namenssprache bildet dagegen urteils- und vergleichsfrei die Wirklichkeit ab. Nicht Moralismus oder pathetische Einschwörung auf politische Werte und Dogmen ist vonnöten, wie man es in Parteitagsreden oder in den Parlamentsdebatten hört, sondern der nüchterne und nicht beschönigende Blick in die Wirklichkeit, der sich von den affirmativen und apologetischen Programmreden der bürgerlichen Parteipolitiker:innen unterscheidet, die qua politischer Absicht ideologischer Natur sind. Wichtig ist hier Benjamins Aussage vom »hundertprozentige[n] Bildraum« (GS II, 309). Das ist das Geistige Sehen.
Der Bildraum ist die »Welt allseitiger und integraler Aktualität« (ebd.). Das soll zu einer physischen Handlung führen, die »nur in jenem Bildraume zu erzeugen [ist], in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht« (GS II, 310).
Editorische Anmerkung: Diese Erläuterungen sind der Masterarbeit von Ronald Engert entnommen: »Die Magie der Sprache im Werk Walter Benjamins. Franz Joseph Molitor, die Kabbala und jüdisches Denken« (Berlin 2023)
Walter Benjamin (1892–1940) promovierte im Fachbereich Philosophie und arbeitete als Literaturkritiker und Schriftsteller. Ab 1933 musste er ins Exil und führte von da an eine prekäre wirtschaftliche Existenz. Befreundet mit Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und anderen gilt er heute als Annette einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Webseite von Ronald Engert zu Walter Benjamin: www.wbenjamin.de
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Bildnachweis: Walter Benjamin, © Gemälde von Julia Gerberich
FOOTNOTES
Walter Benjamin, Brief an Martin Buber vom 17.7.1916, Gesammelte Briefe (GB), Bd. I, Frankfurt M. 1995, S. 325–327.
Walter Benjamin: Über die Sprache des Menschen und Sprache überhaupt, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. II, Frankfurt M. 1977, S. 140–157
Vgl. hierzu z. B. die Arbeiten der Hirnforscherin Tanja Singer, die mit buddhistischen und christlichen Mönchen arbeitet und die durch Meditation herbeigeführte Erweiterung des Bewusstseins am Max-Planck-Institut mit MRT-Scans untersucht: www.resource-project.org und www.social.mpg.de. Hier wären noch viele weitere