So lassen sich komplementäre Gunas nutzen, um physischen und psychischen Ausgleich zu schaffen.
Der Weg in unser Herz führt durch die innere Ausgeglichenheit. Um Balance herzustellen und beizubehalten, hilft es, die Lehre des Ayurveda zu studieren. Diese Lehre zeigt auf, wie Harmonisierung und Heilungsprozesse durch das Ausgleichen der 20 Gunas oder Grundqualitäten des Wesens erreicht werden können.
Innere Ausgeglichenheit ist ein heikles Anliegen. Es klingt so einfach, und doch bleibt das Thema innere und äußere Balance in Medien und Selbsthilfe hochaktuell. Wir sind auf der Suche nach immer neuen Methoden, Sichtweisen und sogar Technologien, um das ersehnte innere und äußere Gleichgewicht zu finden und zu erhalten. Oft betrachten wir die innere und äußere Balance als einen Zustand, einen Status.
Es macht Sinn, Balance vielmehr als einen Prozess zu verstehen statt als einen fixen Zustand.
Ist Balance hergestellt, versuchen wir, die momentanen Angewohnheiten aufrechtzuerhalten, in der Hoffnung, dass das Gleichgewicht bestehen bleibt. Doch nehmen in jedem Moment so viele verschiedene Faktoren Einfluss auf unser Wesen und Empfinden, dass es Sinn macht, Balance vielmehr als einen Prozess zu verstehen statt als einen fixen Zustand – nämlich einen Prozess des kontinuierlichen Kalibrierens. Um die sensible Balance in unserem Wesen in jedem Moment und im Laufe der Zeit dynamisch immer wieder herzustellen, können wir uns die Weisheit des Ayurveda und spezifisch der 20 Gurvadi Guna oder Grundqualitäten der Natur zunutze machen.
Das Wort Guna bedeutet so viel wie Eigenschaft oder Qualität und beschreibt kosmische Attribute, die der Schöpfung unterliegen. Solch universelle Eigenschaften sind unteilbar, unabänderlich und eng miteinander verwoben. Bekannt ist der Begriff Guna in Yoga und Ayurveda zumeist im Zusammenhang mit Triguna, einem Konzept aus der Samkhya-Philosophie, das im hinduistischen Kulturkreis eine wesentliche Rolle spielt. Der weitbekannte mystische Text der Bhagavad Gita widmet zwei Kapitel ganz der Erkundung der drei Gunas.
Wie der Name schon sagt, beschreibt der Begriff Triguna drei (tri) Qualitäten (guna).
Wie der Name schon sagt, beschreibt der Begriff Triguna drei (tri) Qualitäten (guna) oder drei wesentliche Tendenzen, die die gesamten Schöpfung kennzeichnen. Eine jede ist wichtig, keine kann getrennt von den anderen existieren oder gedacht werden. Die drei primären Gunas bringen drei grundlegende Tendenzen des Universums zum Ausdruck, nämlich Sattva, die Energie der Schöpfung, Rajas, die Energie der Bewahrung, und Tamas, die Energie der Zerstörung. Tamas umfasst alle Tendenzen zu Trägheit und Selbstvergessenheit, Rajas die Tendenzen zu horizontaler Ausdehnung und Aktivität und Sattva die der Reinheit und Erhebung. Jedes der drei Gunas ist in jedem Partikel des Universums vorhanden. Ihre unterschiedlichen Proportionen führen zur Vielfalt der Schöpfung und bringen Körper, Geist und Seele zum Ausdruck. Wird eine dieser Tendenzen im Verhältnis zu den anderen in unserem Wesen überproportional vorherrschend, so kommt es zu einem Ungleichgewicht. Die Methoden des Yoga und Ayurveda können dann verwendet werden, um den ursprünglichen Zustand von Harmonie und Gleichgewicht der drei Gunas wiederherzustellen. Das harmonische und dynamische Gleichgewicht dieser drei Faktoren ermöglicht einen Zustand der Neutralität oder glückseligen Leere, der im Sanskrit Shunyata genannt wird.
Das Gesetz der Drei
Dem Konzept des Triguna liegt wiederum das »Gesetz der Drei« zugrunde, das unter anderem im Trika-System des Kaschmir-Shivaismus beschrieben ist und dem zufolge alles in der Manifestation (prakriti) die Existenz von drei fundamentalen Aspekten offenbart. Dabei werden zwei Elemente als manifest angesehen und stehen sich gegenüber, zum Beispiel plus und minus auf der Zahlenachse. Sie kehren durch ihre balancierte Vereinigung in das dritte Element zurück, das jenseits der manifesten Welt liegt, in unserem Beispiel in den neutralen Nullpunkt, dem kein Wert zugewiesen ist.
Das Gesetz der Drei findet sich in diversen spirituellen Traditionen wieder. Im Taoismus heißen die drei Aspekte Yin (-, weiblich, rezeptiv) und Yang (+, männlich, ausstrahlend), die aus dem absoluten Gleichgewicht des WuWei (0, neutral) geboren werden und in ihm ruhen. Im Hatha-Yoga wird die neutrale Balance durch die Vereinigung von solarer Sonnenenergie Ha und lunarer Mondenergie Tha erreicht, die durch die feinstofflichen Energiebahnen Ida (-) und Pingala Nadi (+) zirkulieren. Wird in einem der Kraftzentren (Chakras) unseres Wesens ein energetisches Gleichgewicht hergestellt, vereinigen sich Ha- und Tha-Energien und fließen in den Mittelkanal Shushumna Nadi (0) ein. Im Triguna-Konzept ist ein starkes Vorhandensein von Sattva Guna Vorraussetzung für Evolution, Reinheit, Harmonie und Mäßigung, die Tendenz von Rajas Guna schafft Erregung, Dynamik und Anstrengung und Tamas Guna führt zu Trägheit, Ignoranz, Stagnation und Dekadenz.
Philosophisch kommt dem neutralen Nullpunkt eine besondere Rolle zu: Er wird als Zugang zur schöpferischen Leere verstanden, die im Hinduismus und Buddhismus als die erste Energie der Manifestation beschrieben wird und den unsichtbaren Hintergrund des Universums bildet. Sie wird als Zugang in erhabene Zustände und sogar in die Erleuchtung oder Befreiung (moksha) verstanden. Die neutrale Leere existiert in vielen Formen, die in Texten wie der Shiva Samhita mit Teilen des Körpers assoziiert werden, wie der mittleren Leere in der Wirbelsäule, der transzendenten Leere im Scheitelzentrum Sahasrara und der sogenannten »Leere des Herzens« im Brustzentrum Anahata.
Das Ayurveda-System verwendet jedoch den Begriff Guna nicht nur im Kontext der Trigunas Sattva, Rajas und Tamas, sondern auch zur Beschreibung von sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften. Sie werden in Vagbhatas Ashtanga Hridayam als Gurvadi Guna oder »Eigenschaften der Natur« aufgeführt (siehe Tab. 1) und treten in zehn Paaren von je zwei sich gegenüberstehenden Qualitäten auf, die Yin- und Yang-Aspekt repräsentieren.
Versteht man die Qualitäten, die der Umwelt, den Nahrungsmitteln, Heilpflanzen und Aktivitäten innewohnen, kann man auch ihre Auswirkungen auf die individuelle Konstitution besser verstehen. Hierbei wirkt das Prinzip der Ähnlichkeit. So erhöht beispielsweise die Qualität der Reibungslosigkeit Slakshna Guna in Umwelt, Heilpflanzen oder Nahrung die glatten, flexiblen Qualitäten im Wesen. Ein ausgewogenes Slakshna Guna findet sich zum Beispiel in Leinsamen, aber auch in flexiblen Gelenken und glatter Haut und ebenso in Gemütszuständen wie Mitgefühl, Fürsorge und Verständnis.
Eine einfache Methode, um mittels der Gunas ein dynamisches inneres Gleichgewicht zu erlangen, ist es, mit den jeweils assoziierten physiologischen und psychomentalen Zuständen des Gunas zu arbeiten. Häuft man durch einen inneren Fokus des Geistes oder durch spirituelle Praxis die harmonischen oder mit anderen Worten sattvischen inneren Zustände des jeweiligen Gunas in sich an, kann ein Ausgleich auf allen Ebenen des Wesens erreicht werden.
Zwei antagonistisch gegenübergestellte negative Tendenzen finden ihren Ausgleich in der ihnen komplementären Tugend.
Um Dysbalancen von Energien auszugleichen, hilft es, innerhalb der Qualitätspaare die sattvische oder harmonische Manifestation der komplementären Qualität zu kultivieren. Dieser Prozess lässt sich wunderbar mit Nicolai Hartmanns »Quadrat der Werte«-Modell illustrieren (siehe Abb. 1). Zwei antagonistisch gegenübergestellte negative Tendenzen finden ihren Ausgleich in der ihnen komplementären Tugend. Wird beispielsweise aus übertriebener Sparsamkeit Geiz, kann dieser Zustand leichter wieder ausgeglichen werden, indem wir uns bewusst mit Großzügigkeit auseinandersetzen und so nicht nur diese Qualität im Wesen kultivieren (»anhäufen«), sondern gleichzeitig das uns entglittene Übermaß (Geiz) wieder in seine harmonische Ausprägung (Sparsamkeit) sublimieren. Ebenso kann Großzügigkeit in Verschwendung abfallen und entsprechend durch Sparsamkeit – nicht aber durch Geiz – ausbalanciert werden.
Im Folgenden besprechen wir die Effekte aller Gurvadi Gunas in ihren harmonischen und verzerrten Ausformungen. Ein jedes Yin-Yang-Qualitätenpaar kann sowohl mit seinen physiologischen als auch psychomentalen Qualitäten auf das Wertequadrat übertragen werden, wobei die harmonischen Aspekte eines Gunas die Disharmonien des anderen Gunas ausgleichen.
Guru Guna (yang) und Laghu Guna (yin): Balance zwischen schwer und leicht
Guru Guna oder die allgemeine Eigenschaft »schwer« zeigt sich physisch im harmonischen Zustand (sattva) in einem gesunden Körper, der wohlgenährt und tonisiert ist und über ein großes vitales Potenzial verfügt. Psychomental manifestiert sich Guru Guna sattvisch als natürliche Stabilität und Zentrierung, felsenfeste Gewissheit, enormes Selbstvertrauen und eine klar strukturierte charismatische Persönlichkeit.
Seine balancierende Yin-Kraft heißt Laghu Guna und beschreibt die allgemeine Eigenschaft »leicht«. Sattvisch zeigt es sich im physischen Körper als Fähigkeit, toxische Ansammlungen (ama) und Überschuss abzubauen. Es bringt Reinheit und sorgt für ein funktionstüchtiges Verdauungsfeuer. Innere Zustände des sattvischen Laghu Guna sind zum Beispiel ein intensives Freiheitsgefühl, Losgelöstheit und Unvoreingenommenheit. Diese begünstigen eine kontinuierliche Erhebung des Gemütes und führen zu Originalität, Spontaneität und innerer Leichtigkeit.
Sind beide Qualitäten in ihrer sattvischen Ausprägung und in gleichem Maß im Wesen vorhanden, entspringt eine natürliche Balance, die spontan zu erhabenen inneren Zuständen wie Freiheit, Glück und Frieden führen kann. Unausgeglichenheit entsteht durch ein mehr (tamas) oder weniger (rajas) starkes Übermaß einer der beiden Qualitäten in unserem Wesen. Im Übermaß führt Guru Guna zu Übergewicht und Fettansammlung, die das physische System überladen, sowie zu vermehrten Ablagerungen in Gefäßen, Hohlorganen und anderen Geweben, die schwer oder gar nicht abgebaut werden können. Psychomental zeigt sich Guru Guna in Zuständen wie Faulheit, Trägheit und Lethargie, Gier und sogar zwanghaftem Horten. Der Geist wird rigide, das Verstehen begrenzt und festgefahren. Es fällt schwer, die Perspektive zu ändern oder feinstoffliche Aspekte wahrzunehmen.
Ein übermäßiges Laghu Guna hingegen macht sich körperlich durch Schwächung, Mangel an Stabilität (zum Beispiel Schwankungen des Blutdrucks), Gewichts- und Vitalitätsverlust und Verminderung der Abwehrkräfte im Organismus bemerkbar. Im Inneren führt ein Übermaß an Laghu Guna zu einem Mangel an Zusammenhang, Nachlässigkeit und sogar Fahrlässigkeit. Die physischen Bedürfnisse des Organismus werden ignoriert, es mangelt an Ausdauer und der Fähigkeit, sich zu verwirklichen, gepaart mit Gefühlen von Unsicherheit und Bedeutungslosigkeit.
Übertragen wir das Paar Guru Guna und Laghu Guna auf das Wertequadrat, sehen wir, dass beispielsweise Lethargie – eine Verzerrung des Guru Guna – durch innere Leichtigkeit – eine Tugend des Laghu Guna – ausgeglichen werden kann. Genauso kann Unsicherheit – eine Verzerrung des Laghu Guna – durch Stabilität und Zentrierung – die Tugenden des Guru Guna – ausbalanciert werden (siehe Abb. 2).
Ushna Guna (yang) und Shita Guna (yin): Balance zwischen heiß und kalt
Die Schwesternqualitäten Ushna Guna und Shita Guna bilden das komplementäre Paar »heiß« und »kalt«. Im sattvischen Zustand fördert Ushna Guna körperlich ein starkes Verdauungsfeuer und ein schnell reagierendes Immunsystem und sorgt psychomental für Mut, Begeisterung und intensives Streben nach Transformation. Im Übermaß führt es physisch zu Entzündungen, Geschwüren, Juckreiz und Aufzehrung oder psychomental zu niederen Leidenschaften, Mangel an Losgelöstheit, Egoismus, Wut, Hass und Groll.
Ist Shita Guna ausgeglichen, bietet es starke physische Widerstandskraft gegen jegliche Störfaktoren und psychomentale Zustände von Losgelöstheit, Versöhnung, Klarheit, Unvoreingenommenheit, Verinnerlichung und Kontemplation. In der Verzerrung bewirkt es hingegen körperliche Kälte, Taubheitsempfinden und eine Minderung der Sensibilität sowie psychomentale Anspannung, Angst, Gefühllosigkeit, emotionale Kälte und krankhafte Furcht.
Ruksha Guna (yang) und Snigdha Guna (yin): Balance zwischen trocken und feucht
Ruksha Guna bedeutet einfach übersetzt »trocken« und gibt physisch die Fähigkeit, Nährstoffe aufzunehmen, Anhäufungsprozesse von Giftstoffen zu vermeiden und Selbstschutzfähigkeiten gegen Noxen insgesamt. Es stärkt im Gleichgewicht die Enthaltsamkeit, Askese, Disziplin und Selbstkontrolle, Losgelöstheit und Reinheit. Ruksha Guna bildet ein Schwesternpaar mit Snigdha Guna, was so viel wie »feucht-ölig« bedeutet. Es bringt die gute »Ölung« aller Körpergewebe, sodass alles im Metabolismus im Fluss bleibt, und gibt einen grundlegenden Zustand von Vitalität, Stärke und Lebenskraft. Psychomental gibt Snigdha Guna emotionale Offenheit, Mitgefühl, mütterliche Liebe und Aufmerksamkeit.
Im Übermaß bewirkt Ruksha Guna beispielsweise körperliche Verstopfung bis zur chronischen Obstipation, Mundtrockenheit und Atembeschwerden und bringt psychomental innere »Trockenheit« und Strenge, Mangel an Mitgefühl, krankhafte Isolation, Nervosität, Intoleranz, Jähzorn und Reizbarkeit und vermindert Kreativität und Flexibilität. Snigdha Guna bedingt im Übermaß physisch zum Beispiel unerwünschte Wasseransammlungen und Fettansätze an Hüfte, Bauch und Oberschenkeln und manifestiert sich psychomental als eine undurchschaubare, trügerische und »glitschige« Wesensart, die unfähig ist, die eigenen Begrenzungen zu überwinden.
Khara Guna (yang) und Slakshna Guna (yin): Balance zwischen rau und geschmeidig
Khara Guna (yang) beschreibt die allgemeine Qualität »rau« oder »spröde«. Sie sorgt für scharfe Sinneswahrnehmung, wirkt tonisierend, verbessert die Verdauung und erhöht und verstärkt verschiedene Abwehrmechanismen, wie die Schmerzresistenz. Psychomental erlaubt sie uns, Anstrengungen und Entbehrungen zu erbringen und schwierige Situationen zu überwinden. Sie kultiviert Selbstkontrolle, Kompromisslosigkeit, Genauigkeit, Ordnung und Disziplin. Dem Khara Guna steht die Qualität Slakshna Guna (yin) – »geschmeidig«, »glatt« oder »flexibel« – gegenüber. Sie sorgt für physische Entspannung, große Flexibilität und Elastizität sowie glatte Haut, Muskeln und Schleimhäute, hilft bei der Endorphinausschüttung und öffnet die Sinne für angenehme Empfindungen wie Berührung und Erotik. Slakshna Guna bringt auf geistiger und seelischer Ebene Liebe, Mitgefühl und ein tiefes Verständnis für die menschliche Natur. Es hilft, Schmerzen zu lindern, bringt Charisma, Heilkräfte, Sanftheit, Zärtlichkeit und Optimismus.
Im Übermaß kann das »spröde« Khara Guna körperlich zu rissiger Haut, spröden Schleimhäuten und diversen Hautkrankheiten führen und es verringert den natürlichen Schmerzimpuls. Psychomental führt es sowohl zu erhöhter psychischer und mentaler Anspannung, Starrheit und Sturheit als auch zu Überanstrengung bis hin zur Selbstzerstörung. Das »geschmeidige« Slakshna Guna führt im Übermaß zu Müdigkeit und Trägheit, Anhäufungen von Schlacken (ama), zum Beispiel in Form von klebrigen Schleimansammlungen auf der Zunge, oder aber zu Aussackungen von Gefäßen oder schwachen Bändern. Psychomental verlangsamt es das Denken, bringt Unklarheit, innere Täuschung und übertriebene zwanghafte Fürsorge.
Tikshna Guna (yang) und Manda Guna (yin): Balance zwischen schnell und langsam
Tikshna Guna meint so viel wie »schnell«, »blitzartig« oder »schneidend« und bedingt im Wesen gute Reflexe und schnelle Reaktionsfähigkeit, einen allgemeinen Gleichgewichtszustand sowie schnelle und harmonische Koordination und Bewegungen verschiedener Muskelgruppen und auch eine schnelle Verdauung. Psychomental bringt Tikshna Guna Spontaneität und Geistesgegenwart, Mut, Wohlwollen, Unternehmungsgeist, Begeisterungsfähigkeit und die Kraft, sich und andere zu mobilisieren. Außerdem fällt es durch Tikshna Guna leicht, ein dynamisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und sich Gegebenheiten rasch anzupassen. Ihm gegenüber liegt Manda Guna, was so viel wie »langsam« oder »schrittweise« bedeutet. Manda Guna manifestiert sich harmonisch in der Entspannung des Muskelapparats. Es erlaubt eine gute Körperwahrnehmung und bewusste Gestik, Mimik, Sprache und Reaktionen. Im Geist gibt Manda Guna eine analytische, strukturierte und genaue Denkweise, Geduld, Beharrlichkeit, Ausdauer, Genügsamkeit, Mäßigung, Sicherheit, Bescheidenheit, Tiefgang und die Fähigkeit, Prozesse systematisch bis zu ihrer Vollendung zu verfolgen.
Im Übermaß macht das »schnelle« Tikshna Guna abrupt in Gestik, Sprache und Bewegung, übersteigert die Verdauung (zum Beispiel als Durchfall oder Magenentzündung) und kann zu aggressiven, akuten oder schnell fortschreitenden Erkrankungen führen, wie Geschwüren, Durchbrüchen, allergischen Reaktionen und intensiven Schmerzen. Im Geist macht ein übermäßiges Tikshna Guna selbstüberschätzend, sarkastisch, beißend und sogar bösartig, übereilt, süchtig und impulsiv. Das »langsame« Manda Guna hingegen verringert im Übermaß die Reaktionsfähigkeit und verlangsamt die Verdauung und Entwicklung und kann zu stumpfen Schmerzen und chronischen Krankheiten führen. Subtil macht übermäßiges Manda Guna faul und träge, undurchsichtig und vergesslich, führt zu Konformismus und einem Mangel an Unternehmungsgeist.
Chala Guna (yang) und Sthira Guna (yin): Balance zwischen beweglich und stabil
Chala Guna ist die »bewegliche«, »verteilende« Qualität. Sie bringt körperliche Lebenskraft, macht Nährstoffe im ganzen System verfügbar, harmonisiert die biologischen Rhythmen und Kreisläufe und verleiht Fertigkeit und Ausdruckskraft in physischer Bewegung. Psychomental steht Chala Guna für Unvoreingenommenheit, Freiheit von Konventionen, emotionale Offenheit, harmonische Kommunikation, Freundlichkeit und Wohlwollen. Es ist Vorraussetzung für künstlerische Inspiration und Kreativität, Sprachgewandtheit und die Fähigkeit, Zusammenhänge und Lösungen schnell zu erkennen. Ihm gegenüber steht Sthira Guna oder die »stabile«, »feste« Qualität. Sie gibt Konstanz und Kraft in allen Geweben (Dhatus) und physisches Gleichgewicht. Psychomental drückt sie sich in Unerschütterlichkeit, Bestimmtheit, Konzentration, Selbstkontrolle und Mut zu Entscheidungen aus. Menschen, die diese Qualität in sich erweckt haben, finden schon früh ihre Lebensaufgabe und fühlen sich auf ihrem Lebensweg unterstützt und gehalten.
Im Übermaß führt das »bewegliche« Chala Guna zum Beispiel zu körperlicher Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit, Herzrasen, Zuckungen, Schluckauf und Hämorrhagien, aber auch zu mentaler Unruhe, Zerstreutheit, Benommenheit und übertriebener Empfindlichkeit, Mangel an Vertrauen and Verantwortlichkeit, Unbeständigkeit und einem Unvermögen, sich kohärent auszudrücken. Das »stabile« Sthira Guna macht im Übermaß träge und unbeweglich, blockiert die feinstofflichen Kanäle und kann zu Obstipation, Gliederschmerzen, Rheuma und Muskelkrämpfen führen. Zu viel des Sthira Guna manifestiert sich psychomental als festgefahrene Routine, mechanische Handlung, automatisiertes Denken und Sturheit – neue Ansichten werden weder verstanden noch akzeptiert, Reaktionen werden äußerst berechenbar und stereotyp.
Sanda Guna (yang) und Dravya Guna (yin): Balance zwischen fest und flüssig
Die Qualität »solide« oder »fest« Sanda Guna erlaubt in ihrer harmonischen Form auf physischer Ebene die Formgebung jedes einzelnen Organs oder Gewebes und verleiht Stärke, Widerstandskraft und Vitalität. Auf geistiger Ebene gibt Sanda Guna innere Stärke, tiefes Vertrauen, Unverletzbarkeit, einen klar definierten Charakter und Verantwortungsbewusstsein. Die Leben spendende Yin-Polarität hierzu bildet Dravya Guna, die »flüssige« oder »fließende« Qualität. Gut ausbalanciert verursacht sie körperlich die ungehinderte Zirkulation der Körperflüssigkeiten, wie Blut und Lymphe, einen starken Geschmackssinn und klassische Schönheit. Dravya Guna kommt innerlich in einem friedvollen und anpassungsfähigen Gemüt, Fröhlichkeit, Aufnahmefähigkeit, Sensibilität, innerer Freiheit und Leichtigkeit, Eloquenz, Anmut und Anziehungskraft zum Ausdruck.
Die Verzerrung des »soliden« Sanda Guna beeinträchtigt die Zirkulation der Körpersäfte erheblich, was zu Ablagerungen, wie Gallen- und Nierensteinen, führen kann. Psychomental führt es zu einem ungerechtfertigten Selbstvertrauen, Fanatismus und festgefahrenen Denk- und Verhaltensweisen. Tritt das »fließende« Dravya Guna im Übermaß auf, bringt es auf physischer Ebene Flüssigkeitsansammlungen, Appetitlosigkeit, Verdauungsstörung und eine daraus resultierende Tendenz, Schlacken (ama) anzuhäufen, und bedingt psychomental sowohl Verunsicherung, Zweifel und Naivität als auch Vermeidung von Hindernissen und Konfrontationen, sodass innere Impulse für die eigene Transformation nicht genutzt werden.
Kathina Guna (yang) und Mrdu Guna (yin): Balance zwischen hart und weich
Das nächste sich komplementierende Paar bilden Kathina Guna (yang) und Mrdu Guna (yin), die Qualitäten »hart« und »weich«. Kathina Guna trägt in harmonischem Zustand zur korrekten Formgebung und einer guten Erhaltung des Knochengewebes bei. Das Bindegewebe bleibt straff und die Faszien haben einen guten Halt. Zusätzlich führt dieses Guna zu Robustheit und Stärke sowie einer erhöhten körperlichen Widerstandsfähigkeit bei langen und harten Anstrengungen. Auf psychischer Ebene äußert sich Kathina Guna in einer starken Ausdruckskraft und Rechtschaffenheit sowie einem hohen Sinn für Gerechtigkeit und Entschlossenheit. Es formt einen starken Charakter und bringt Sicherheit, psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und die Fähigkeit, Projekte zu Ende zu führen.
Mrdu Guna hingegen sorgt für ein gutes Funktionieren des Nervensystems, Harmonie in den Bewegungen, anmutige Gesten, Flexibilität und eine glatte Haut. Psychomental wird Mrdu Guna in Zartheit, Freundlichkeit, Raffinesse und einem Sinn für Harmonie von Formen und Proportionen ausgedrückt. Aus Mrdu Guna resultieren auch eine Sensibilität für Geschehnisse des Lebens und die Fähigkeit, diese angemessen zu verarbeiten. Mitgefühl, Liebe und Achtsamkeit gegenüber allen Lebewesen lassen sich so äußern.
Gerät Kathina Guna ins Ungleichgewicht, ist das physisch bereits an einem anormalen Wachstum der Knochen, wie anormalen Dimensionen der Füße oder Zähne, zu sehen. Das Muskel- und Fasziengewebe ist eher starr. Ein Übermaß an Kathina Guna führt auf psychomentaler Ebene zu emotionaler Kälte, einem Mangel an gesundem Menschenverstand, aber auch zu einem Widerstand gegen erhabene Impulse. Stattdessen werden egoistische Impulse mit göttlicher Integration verwechselt. Der Charakter ist rau und äußert sich in übertriebener Härte. Ist hingegen Mrdu Guna im Übermaß vorhanden, führt dies körperlich durch die schwache Ausbildung der Muskeln und den gleichzeitig schwachen Halt durch das Faszienstützgewebe zu Hypermobilität. Die Fähigkeit zu körperlicher Anstrengung und langfristigen Tätigkeiten ist vermindert. Geistig gibt ein unausgeglichenes Mrdu Guna einen übertriebenen Drang zu neuen Entdeckungen. Es mangelt an Eigenverantwortung und Stärke, die eigene Meinung zu sagen.
Vishada Guna (yang) und Picchila Guna (yin): Balance zwischen klar und viskos
Vishada Guna, die Qualität »klar«, zeigt sich harmonisch im Wesen als Reinheit, zum Beispiel als klare Haut, klare Aussprache und in einem klaren Blick mit leuchtenden Augen. Giftstoffe werden durch ein sattvisches Vishada Guna schnell und leicht abgebaut und sammeln sich daher gar nicht erst an. Auf psychomentaler Ebene zeigt es sich als harmonische Verinnerlichung, innere Stabilität und Frieden, Transformationsvermögen, Heiterkeit und Bescheidenheit. Die im Christentum beschriebene Tugend der Heiterkeit Hilaritas resoniert mit dieser Qualität, aber auch die norddeutsche Weisheit »rüm Hart, kloar Kimming«, was so viel heißt wie »ein aufgeräumtes Herz gibt einen klaren und weiten Horizont«.
Die Schwesternqualität Picchila Guna, »viskos«, verursacht auf physischer Ebene Bindekraft und Körpergewebsaufbau sowie zügiges, natürliches Heilen von Brüchen und Verletzungen. Sie manifestiert sich auf seelischer Ebene als gute zwischenmenschliche Beziehungen, Versöhnlichkeit und Lernfähigkeit und häuft insgesamt potenzielle Kraft im Wesen an, die in alle möglichen Fähigkeiten der verschiedenen Gunas umgeformt werden kann.
Ein Zuviel des »klaren« Vishada Guna unterbindet den Aufbau von Körpergeweben und macht den Körper transparent, dünn und kränklich. Psychomental führt sein Exzess zu übertriebener Innenschau, Vorurteilen, zwanghaftem Verhalten, Vernachlässigung zwischenmenschlicher Beziehungen und dadurch Isolation. Die »viskose« Qualität Picchila Guna lagert im Übermaß Giftstoffe (ama) im Körper an, vor allem Mukus und Fett, und führt auf geistiger Ebene zu einer undefinierten Persönlichkeit, die sinnlos imitiert und kein Rückgrat hat. Blindes Vertrauen, sinnloses Reden, Mittelmäßigkeit, Konditionierung, Abhängigkeit, Ignoranz (avidya) und Illusion (maya) sind die Folgen. Picchila Guna kann im Übermaß aber auch Machthunger, Lügen und Übergriffigkeit bewirken, mit einer Tendenz, die eigenen Schwächen zu verbergen.
Sukshma Guna (yang) und Sthula Guna (yin): Balance zwischen fein- und grobstofflich
Sukshma Guna oder die »feinstoffliche« Qualität erlaubt in sattvischer Ausprägung die Umwandlung der körperlichen Gewebe (Dhatus) durch Sublimierungsprozesse und alle Mikrozirkulationen physischer und subtiler Natur. Auf Gemütsebene ist die Qualität »feinstofflich« Suksma Guna für eine spirituelle Evolution verantwortlich und begünstigt das Auftreten und Vertiefen erhabener, spiritueller Zustände, die Erweckung der Seele, die Offenbarung des Höchsten Selbst (Atman) und die schlussendliche Vereinigung mit dem Absoluten. Ihr gegenüber steht die allgemeine Qualität des »Grobstofflichen« Sthula Guna, die zur Anhäufung physischer Substanzen, aber auch subtiler vitaler Energien in der individuellen Struktur befähigt. Sie verleiht außerdem die Fähigkeit, materielle Probleme schnell zu lösen, praktisch zu denken, systematisch zu handeln und Angefangenes zu Ende zu bringen.
Ist das »feinstoffliche« Sukshma Guna im Exzess vorhanden, finden Koagulationsprozesse auf körperlicher Ebene nicht richtig statt und die Vitalität sinkt, während es innerlich zu mangelnder Bodenständigkeit und Gleichgültigkeit vor allem den mondänen Aspekten des Lebens gegenüber kommt. Das »grobstoffliche« Sthula Guna hemmt, wenn im Übermaß vorhanden, die Zirkulation und den freien Fluss von Nährstoffen und feinstofflichen Energien, was zu toxischen Anhäufungen führt und psychomental eine übertrieben materialistische Ausrichtung, Egoismus, Mangel an Sensibilität für subtile Wahrnehmungen und eine begrenzte Perspektive bewirkt.
Praktische Ratschläge
Für die systematische Arbeit mit den 20 Gunas wird empfohlen, zunächst zu untersuchen, welche Qualitäten sich in unserem Wesen harmonisch und welche sich unausgeglichen manifestieren. Mithilfe des Wertequadrats kann dann ermittelt werden, welche inneren Werte und Qualitäten mittels Fokus und spiritueller Praxis im Wesen angehäuft werden sollten, um gänzlich in die Balance zurückzukehren.
Unterstützend zur bewussten Auseinandersetzung mit der gegenüberliegenden Tugend nutzt der Ayurveda in seinem Zweig des Dravyaguna Vijnana, aber auch des Yoga, getrocknete Heilpflanzen zur Transformation der inneren Resonanzen.
Unterstützend zur bewussten Auseinandersetzung mit der gegenüberliegenden Tugend nutzt der Ayurveda in seinem Zweig des Dravyaguna Vijnana, aber auch des Yoga, getrocknete Heilpflanzen zur Transformation der inneren Resonanzen. Der Ayurveda kennt dabei eine klare Klassifizierung der Heilpflanzen nach den »Eigenschaften der Natur« (Gurvadi Guna), um diese dann durch die systematische Einnahme in Sharira Guna (Qualitäten im inneren unseres Wesens) umzuwandeln. Die getrockneten Heilpflanzen werden nicht wie in der abendländischen Phytotherapie als Tee eingenommen, sondern als Pulver (Curna) im Mund eingespeichelt und mit Achtsamkeit für einige Minuten unter der Zunge belassen, um dann mit Wasser geschluckt zu werden.
Mithilfe dieser Technik kann der psychologische Prozess auf einfache Weise auch auf physischer Ebene unterstützt werden, um den Ausgleich von mehreren Seiten aus gleichzeitig anzugehen. Empfohlen wird, die entsprechende Pflanze, wie Eiche (cort.) für die Anhäufung von Sthira Gunas (stabil) oder Gemeine Schafgarbe (herb.) für Khara Guna (rau), drei Mal am Tag in Achtsamkeit einzunehmen. Die genauere Bestimmung der Heilpflanze oder einer umfangreicheren Heilpflanzenmischung erfolgt unter Einbeziehung der jeweiligen speziellen Konstitution des »Patienten« und des Schweregrades (Rajas- oder bereits Tamas-Überschuss) der verzerrten Qualität.
Chloe Hünefeld ist Mitbegründerin der Deutschen Akademie für traditionelles Yoga und der Stiftung zur Förderung des traditionellen Yoga. Als Heilpraktikerin von Beruf unterrichtet sie seit 1998 fast täglich präventive Gesundheitsmethoden des traditionellen Yoga und Ayurveda in Theorie und Praxis. Ihr Interesse gilt seit jeher dem persönlichen Weg jedes Einzelnen zur Erweckung der Seele und damit zu mehr Harmonie und Freiheit.
Maria Blandine Wegener ist seit 2006 Lehrerin des Yoga, Ayurveda und Tantra. Sie ist Mitbegründerin sowohl der Mahasiddha Yoga Schule in Chiang Mai/Thailand als auch des Ashram Resorts »AMRITA Integral Yoga Centre« im ländlichen Norden des Landes, das zu monatlichen Retreats rund um die Themen Spiritualität und Gesundheit einlädt. Weitere Informationen unter: tantrayogathailand.com.
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