Die Seele bei Platon

Über die Selbsterkenntnis des Menschen

Autor: Sebastian F. Seeber

Der altgriechische Philosoph Platon befasste sich intensiv mit der Bedeutung der Seele und hob ihre Wichtigkeit in seinen Schriften hervor. Für ihn war die Seele – wie für Aristoteles – dreigeteilt, und auf einen bestimmten Teil der Seele, nämlich den Logistikon, richtete er insbesondere seine Aufmerksamkeit, denn durch diesen erlangt der Mensch Selbsterkenntnis, ein weiterer essenzieller Aspekt der platonischen Lehre.

Die Wichtigkeit der Seele

Der Ausdruck ›Seele (ψυχή)‹[1] kommt in 32 der 36 platonischen Schriften vor und wird in 676 Textabschnitten zum Teil mehrfach gebraucht [2] . Zudem beschreibt Sokrates seine Tätigkeit in der Apologie wie folgt: »Nichts anderes tue ich, wenn ich umherlaufe, als sowohl die Älteren als auch die Jüngeren von euch davon zu überzeugen, sich weder um ihre Körper (σωμάτων) noch um ihr Vermögen (χρημάτων) eher zu kümmern und auch nicht so intensiv wie darum, dass ihre Seele so gut wie möglich werde (τῆς ψυχῆς ὅπως ὡς ἀρίστη ἔσται).«[3] (apol. 30a–b, vgl. auch ebd. 29d–30a)

Die Seele ist ein fundamentales Anliegen der platonischen Philosophie. Im Phaidon heißt es sogar mit einem gewissen Augenzwinkern, die wahren Philosophen befassten sich mit nichts anderem als damit, »zu sterben und tot zu sein« (Phaid. 64a), wobei der Tod kurz darauf als »der Rückzug der Seele vom Körper (ἡ τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἀπαλλαγή)« (ebd. 64c) dargestellt wird. Philosophieren heißt in diesem Sinne, sich so sehr wie möglich auf die Seele zu konzentrieren, und ganz besonders, wie sich zeigen wird, auf einen ihrer Teile: das Logistikon. Doch warum interessiert sich Platon überhaupt für etwas so Unwägbares und Unsichtbares wie die Seele? Womit begründet er die Annahme ihrer Existenz, und wie kommt er dazu, von verschiedenen Teilen derselben zu sprechen?

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Römische Kopie eines griechischen Platonporträts, das wohl von Silanion stammt und nach dem Tod Platons in der Akademie aufgestellt wurde, Glyptothek München. ©wikimedia

Der vorliegende Artikel gibt einen Einblick in die platonische Seelenlehre und veranschaulicht die zentrale Rolle der Seele im platonischen Denken. Dabei muss vorausgeschickt werden, dass der Text nur einen Bruchteil aller Gedanken und Vorstellungen des platonischen Werkes wiedergeben kann. In erster Linie dient dieser unvollständige Überblick dazu, zu inspirieren und die Neugier am platonischen Denken zu wecken. Die Seele wird im Folgenden zunächst als Ganze in ihrem Verhältnis zu Mensch und Körper, anschließend in ihren Teilen betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf den logischen Überlegungen, die sogar ihre Unsterblichkeit zu zeigen versuchen. Ein Exkurs zur Bedeutung des Mythos schließt den Artikel ab.

Selbsterkenntnis: Die Seele ist der Mensch

In einem für die moderne Anthropologie durchaus bezeichnenden Aufsatz mit dem Titel Was ist der Mensch? gelingt es dem Autor[4], den Ausdruck ›Seele‹ nicht ein einziges Mal zu erwähnen. Die Seele scheint in Philosophie und Wissenschaft bisweilen bis zur Bedeutungslosigkeit verkannt und der Seelenbegriff für den aufgeklärten Menschen entbehrlich geworden zu sein. Bei Platon hingegen sind Mensch und Seele identisch: »Ist es also nötig«, fragt Sokrates, »dir irgendwie noch deutlicher darzulegen, dass die Seele der Mensch ist (ὅτι ἡ ψυχή ἐστιν ἄνθρωπος).« (Alk. 1 130c) Sie ist dabei kein Gegenstand des Glaubens, sondern der vernunftgeleiteten Erkenntnis, namentlichder Selbsterkenntnis, wie sie die berühmte Formel über dem Apollontempel in Delphi fordert: »Erkenne dich selbst (γνῶθι σαυτόν)!« (ebd. 124b, Prot. 343b, Charm. 164e)[5]

Der obigen Aussage geht im Alkibiades folgende Argumentation voraus: Der Mensch sei entweder (i) Körper oder (ii) Seele oder (iii) beides zusammen (vgl. Alk. 1 130a). Da der Mensch den Körper jedoch gebraucht – beispielsweise gebraucht Sokrates seinen Mund zum Sprechen – und das Gebrauchte vom Gebrauchenden offenbar verschieden ist,[6] so kann der Mensch weder der Körper noch beides zusammen sein, sondern allein die Seele, da nur diese den Körper als ihr Werkzeug gebrauchen kann (für das ganze Argument vgl. ebd. 129b–130c).

Vor diesem Hintergrund erscheint die moderne Frage, ob der Mensch eine Seele habe, paradox und amüsant. Die eigentliche Frage ist, ob die Seele sich selbst als solche erkennt oder sich mit dem Körper verwechselt und dabei selbst vergisst. Als Kriton Sokrates kurz vor dessen Tod fragt: »Auf welche Weise sollen wir dich bestatten?« (Phaid. 115c), antwortet dieser: »Wie auch immer ihr wollt, wenn ihr mich denn kriegt und ich euch nicht entwische!« (ebd. 115c) Dann lacht er sanft auf und scherzt darüber, dass Kriton ihn immer noch mit seinem Körper verwechsle.

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Die Seele im Verhältnis zum Körper

Das Verhältnis von Körper und Seele wird im Verständnis des Todes als »Rückzug der Seele vom Körper« (Phaid. 64c) deutlich. Tot zu sein, bezeichnet den Zustand, in dem Körper und Seele voneinander getrennt sind (vgl. ebd. 64c). Der reine Körper ist der Leichnam (ὁ νεκρός), das immer passive Mittel und Werkzeug, das erst durch die Wirkung der Seele ein (scheinbares) Eigenleben erhält. Ebenso wie des Menschen Kleidung schlaff und regungslos liegt oder hängt, wann immer sie nicht vom lebendigen Menschen bewegt und getragen wird, so ergeht es auch dem von der Seele getrennten Leib: Die Seele dagegen ist ihrem Wesen nach das Prinzip des Lebens und der Bewegung, sie ist »das, was sich selbst bewegt, (τὸ αὑτὸ κινοῦν) […] die Quelle und Ursache der Bewegung (πηγὴ καὶ ἀρχὴ κινήσεως) […] für alles andere, was bewegt wird« (Phaidr. 245c). Sie ist, »wodurch wir leben (ᾧ ζῶμεν)« (rep. 445a). Allem Lebendigen ist diese Selbstbewegung zu eigen, wobei auch das Wachstum eine Bewegungsform darstellt (zu den zehn Arten der Bewegung vgl. nom. X 893b–894c). Die offenbar zielgerichtete Bewegung muss eine Ursache haben:[7] das Selbstbewegte, das die Seele ist. Die Selbstbewegung der Lebewesen ist folglich die Wirkung der den Körper belebenden Seele (vgl. Phaidr. 246c) und »das Ganze zusammen wurde Lebewesen (ζῷον) genannt, die Seele und der befestigte Körper« (ebd. 246c).

»Das Immerbewegte ist unsterblich.«

Aus diesen wesentlichen Eigenschaften der Seele (Bewegung und Leben) wird auch ihre Unsterblichkeit abgeleitet: »Das Immerbewegte ist unsterblich (τὸ ἀεικίνητον ἀθάνατον).« (ebd. 245c) Die Seele könne zudem ebenso wenig tot sein wie der Schnee heiß oder die Drei gerade, da das Leben ihr wesentlich angehöre (vgl. Phaid. 103b–106b). Der Schnee nun, der essenziell kalt ist, kann durch Hitze vergehen, die Seele aber, die essenziell lebendig ist, kann niemals vergehen, da alles Unsterbliche auch unvergänglich sein muss (vgl. ebd. 106b–d): »Mit Sicherheit also […] ist die Seele unsterblich und unvergänglich.« (ebd. 106e–107a)

»Wer irgendetwas auf reine Weise erkennen will, »muss sich von ihm [sc. dem Körper] entfernen und allein mit der Seele die Dinge selbst betrachten«.«

Das Verhältnis von Körper und Seele wird auch introspektiv bei der Suche nach Wahrheit erkennbar. Im Phaidon wird ausführlich dargestellt, dass der Körper beim Erkenntniserwerb hinderlich sei und seine Sinne trügerisch, wohingegen das reine Denken (τὸ λογίζεσθαι) am ehesten zur Erkenntnis führe (vgl. ebd. 65a–66b): Wer irgendetwas auf reine Weise erkennen will, »muss sich von ihm [sc. dem Körper] entfernen und allein mit der Seele die Dinge selbst betrachten« (ebd. 66e). Die Sinne zeigen dem Menschen Abbilder (εἴδωλα), die voller Widersprüche stecken[8] und beständig entstehen und vergehen: der Kreis, der gezeichnet und wieder entfernt oder aus Holz hergestellt wird und wieder zugrunde geht, wobei er immer auch sein Gegenteil, das Gerade, an sich hat (vgl. epist. VII 342c, 343a). Das Wesen und die Idee des Kreises aber, wie es sich dem Denken offenbart, kann niemals eine gegenteilige Eigenschaft (das Gerade) aufnehmen noch jemals vergehen: Der Kreis ist diejenige zweidimensionale Figur, bei der alle Punkte denselben Abstand zum gemeinsamen Mittelpunkt haben (vgl. ebd. 342b).

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Die Ideen, die sich offenbar nicht sinnlich wahrnehmen lassen, erfasst der Mensch mit seiner Vernunft (νοῦς), die sich in der Seele befindet (vgl. ebd. 342c). Platon unterscheidet grundsätzlich

zwei Gattungen: einerseits »das Sichtbare (τὸ ὁρατόν)« (Phaid. 79a), das immer wird und sich niemals auf dieselbe Weise verhält (vgl. ebd. 79a), andererseits »das Unsichtbare (τὸ ἀειδές)« (ebd. 79a), das immer ist, nie entsteht und nie vergeht und sich immer auf dieselbe Weise verhält (vgl. ebd. 79a). Sokrates argumentiert, dass der Mensch dieses Seiende erkennt, indem er sich vom Körperlichen so weit wie möglich zurückzieht und sich ganz auf seine seelische Fähigkeit der vernünftigen Überlegung konzentriert:

»Müssen wir uns also vorstellen, dass jener dies [sc. das Wesen der Dinge erkennen] auf reinste Weise tun könnte, welcher auch immer so sehr wie möglich allein mit dem Verstand (αὐτῇ τῇ διανοίᾳ) an jedes einzelne geht, indem er weder den Sehsinn mit hinzunimmt zum Denken (ἐν τῷ διανοεῖσθαι) noch irgendeine andere Sinneswahrnehmung (αἴσθησιν) hinzuzieht in die Überlegung (μετὰ τοῦ λογισμοῦ), sondern welcher versucht, indem er ganz allein den reinen Verstand gebraucht, jeden einzelnen Gegenstand der seienden Dinge (τῶν ὄντων) rein und allein für sich zu erjagen, wobei er sich soweit wie möglich von den Augen und Ohren und, kurz gesagt, insgesamt vom ganzen Körper zurückzieht, in der Überzeugung, dass dieser die Seele verwirrt und sie die Wahrheit und Einsicht nicht erwerben lässt, wann immer er mit ihr verkehrt? Ist es nicht dieser […] falls überhaupt irgendjemand, der das Seiende (τοῦ ὄντος) erreichen kann?« (ebd. 65e–66a)

»Wann immer aber doch [die Seele] ganz für sich allein Untersuchungen anstellt, dann kommt sie dorthin: in das Reine, immer Seiende, Unsterbliche und sich stets gleich Verhaltende (εἰς τὸ καθαρόν τε καὶ ἀεὶ ὂν καὶ ἀθάνατον καὶ ὡσαύτως ἔχον).« (ebd. 79d)

Diese Art der Selbsterkenntnis ist eine Selbsterfahrung des Denkens: Wenn das menschliche Denken die Erfahrung macht, wirklich zu verstehen, was beispielsweise ein Kreis ist, so ist dies mit der unbedingten Einsicht verbunden, dass es völlig unmöglich ist, einen wirklichen Kreis in der Sinnenwelt wahrzunehmen. Die Augen sehen nur mehr oder weniger kreisförmige Abbilder. Dennoch ist es möglich, das Wesen des Kreises zu erkennen, obwohl er in der materiellen Welt nicht existiert! Die intensive Beschäftigung mit den Ideen erweckt in der Seele ein Selbstbewusstsein ihres eigenen Wesens, denn sie erlebt, wie sie Erfahrung und Erkenntnis sammelt, ohne an der Sinnenwelt teilzuhaben: Sie erlebt ihr Eigenleben, indem sie sich von den Sinnen zurückzieht. Vermittels dieser Beschäftigung wird »ein gewisses Organ der Seele gründlich gereinigt und wiederentfacht, welches durch die anderen Beschäftigungen zugrunde geht und erblindet und welches zu erhalten wichtiger ist als zehntausend Augen« (rep. 527d–e).

In der Politeia schlägt Sokrates zur »Umlenkung der Seele (ψυχῆς περιαγωγή)« (ebd. 521c) folgende Bildungsbereiche vor: Arithmetik (λογιστική τε καὶ ἀριθμητική), Geometrie (γεωμετρία), Stereometrie (nicht direkt benannt, aber in ebd. 528a–b beschrieben), Astronomie (ἀστρονομία), Harmonielehre (ἁρμονία) und Dialektik (διαλεκτική) (vgl. ebd. 522b–534e). Dabei geht es ihm um die Auseinandersetzung mit den denkbaren Inhalten (den Zahlen, zwei- und dreidimensionalen Figuren, der Bewegung im mathematischen Raum, den harmonischen Verhältnissen und den Ideen) und explizit nicht um empirische Forschung in der Sinnenwelt: Es sei lächerlich, das Wesen der Bewegung oder der Harmonie erfassen zu wollen, »indem man auf die Umläufe der Sterne gucke« (ebd. 530a) oder »das Ohr hinhalte« (ebd. 531a). Die unmittelbare, introspektive Erfahrung allerdings, all die Kenntnisse, »welche mit der Vernunft und dem Verstand (λόγῳ καὶ διανοίᾳ) zwar zu fassen sind, mit dem Sehsinn aber nicht« (ebd. 529d), durch die Konzentration auf seelische Fähigkeiten und in der Abwendung von der Sinnenwelt zu erwerben[9] führe sukzessive zur Selbsterkenntnis der Seele.

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Die Dreiteilung der Seele

Die Seele wird von Platon als dreiteilig vorgestellt. In der Politeia werden diese drei Teile benannt und voneinander unterschieden, indem Situationen geschildert werden, in denen die Teile im Widerspruch zueinander stehen. Der Gedanke ist folgender: »Dasselbe kann Gegenteiliges nicht zugleich verrichten oder passiv erfahren (ποιεῖν ἢ πάσχειν), zumindest nicht auf dieselbe Weise (κατὰ ταὐτόν) und in derselben Hinsicht (πρὸς ταὐτόν).« (ebd. 436b) Zum Beispiel könne ein Mensch nicht zugleich stillstehen und sich bewegen. Falls dies aber doch der Fall sein sollte, sind es verschiedene Teile desselben, die sich entgegengesetzt verhalten: Die Beine etwa stehen still, wohingegen die Arme sich bewegen.

Dieselbe Hinsicht respektive Weise meint zum Beispiel Folgendes: Wenn ein Kreisel sich dreht und dabei am selben Ort bleibt, bewegt er sich zwar hinsichtlich der Rotations-, nicht aber hinsichtlich der Ortsbewegung (vgl. ebd. 436c–e): Ein und dasselbe Ganze kann also unmöglich in derselben Hinsicht gegenteilige Prädikate oder Attribute aufnehmen[10]. Wenn also auch die Seele Entgegengesetztes tut (ποιεῖν), ist (εἶναι) oder passiv erfährt (πάσχειν) (vgl. ebd. 437a), so muss es sich auch dabei um verschiedene Teile handeln. Dieser Gedankengang erschließt nicht nur die einzelnen Seelenteile, er demonstriert zudem eindrucksvoll, wie die mathematischen Gesetze der Bewegung im Raum zur Erforschung der Seele vermittels der Vernunft nutzbar gemacht werden!

Die drei Seelenteile werden in der Politeia diesem Gedanken entsprechend herausgearbeitet: Sokrates verweist zunächst auf Fälle, bei denen Menschen zwar Durst haben, aber nicht trinken. Was zum Trinken zieht und treibt, tut dies durch passiv erfahrene Triebkräfte (παθήματα καὶ νοσήματα) und ist dem Hindernden, das aus der Überlegung (λογισμός) resultiert, entgegengesetzt. Mit dem Logistikon (τὸ λογιστικόν – wörtlich in etwa: das Vernünftige) also stellt die Seele

Überlegungen an, mit dem Epithymetikon (τὸ ἐπιθυμητικόν – wörtlich in etwa: das Begierige, abgeleitet von ἡ ἐπιθυμία = die Begierde) strebt sie zum Angenehmen. Ersteres wird charakterisiert als derjenige Teil, »mit welchem [die Seele] erwägt/vernünftig denkt/berechnet (ᾧ λογίζεται)« (ebd. 439d), Letzteres als derjenige, mit dem sie »begehrend liebt (ἐρᾷ), hungert, dürstet und auch in Hinblick auf die anderen Begierden leidenschaftlich erregt ist, vernunftlos und begierig (ἀλόγιστόν τε καὶ ἐπιθυμητικόν), gewissen Erfüllungen und Genüssen befreundet« (ebd. 439d). Er kommt in Pflanzen (vgl. Tim. 77 a–b), Tieren und Menschen vor. Der Widerstreit zwischen Lust und Überlegung dürfte allgemein bekannt sein: Jemand könnte zum Beispiel nach einem salzigen Essen sehr durstig sein, aber dennoch mit dem Trinken eine halbe Stunde warten, da er es für ungesund halte, direkt nach dem Essen zu trinken.

Dann erzählt Sokrates eine Geschichte, bei der ein gewisser Leontios an einem Ort vorbeikommt, wo die Leichen nach der Hinrichtung zu sehen sind. Dieser verspürt eine lustvolle Neugier, sie anzusehen, zugleich aber empfindet er auch Abscheu und dreht sich weg, sodass er zunächst hin- und hergerissen ist, dann aber doch mit weit geöffneten Augen zu den Leichen läuft und dabei lautstark über sein eigenes Verhalten schimpft (vgl. rep. 439e–440a). Das Thymoeides (τὸ θυμοειδές – wörtlich in etwa: das Zornartige), »womit wir verärgert sind (ᾧ θυμούμεθα)« (ebd. 439e), scheint demnach der Begierde bisweilen entgegenzuwirken.

Dabei zeigt sich, dass das Thymoeides »bei Uneinigkeit in der Seele Partei für das Logistikon ergreift« (ebd. 440e), sodass auch Thymoeides und Logistikon noch voneinander unterschieden werden müssen: Bei kleinen Kindern und Tieren sehe man, dass diese wütend werden könnten, obwohl sie offensichtlich (noch) keine vernünftigen Überlegungen anstellen (vgl. rep. 441a–b). Das Thymoeides kommt folglich bei Tieren und Menschen vor, das Logistikon jedoch nur beim entwickelten Menschen. Zudem wird ein Zitat des epischen Dichters Homer angeführt, in dem »derjenige Teil, der über das Für und Wider nachgedacht hat [sc. das Logistikon], demjenigen, der unreflektiert zürnt [sc. das Thymoeides]« (ebd. 441b–c), entgegengesetzt ist: »Er aber schlug sich an die Brust und wies sein Herz mit dem Worte zurecht.«[11] (Odyssee XX, 17)

Zusammenfassend kann also von drei Seelenteilen gesprochen werden, von denen das Epithymetikon in etwa der Begierde entspricht, das Thymoeides dem zornhaften Eifer und Ehrgeiz und das Logistikon dem reflektierenden Denken. Bei Pflanzen scheint allein das Epithymetikon vorhanden zu sein, beim Tier Epithymetikon und Thymoeides, doch allein beim Menschen können alle drei Seelenteile ausgebildet sein.[12] Die ersten beiden sind unreflektiert und folgen ihrer Natur.

Im Timaios wird unter Bezugnahme auf diese beiden auch von der »sterblichen Art der Seele (τὸ τῆς ψυχῆς θνητὸν γένος)« (Tim. 69e) gesprochen. Dabei tritt das Epithymetikon für die Befriedigung der Lust ein, wohingegen das Thymoeides »von Natur aus ein Verbündeter des Logistikons ist, wann immer es nicht durch schlechte Erziehung verdorben wurde«. Es kämpft also für die Wertvorstellungen (Gutes, Schönes, Gerechtes etc.) (vgl. rep. 441a).

Diese Dreiteilung entspricht auch dem Gleichnis vom Seelenwagen im Phaidros, bei dem die Seele mit einem Wagen verglichen wird, der von zwei Pferden gezogen und einem Lenker gesteuert wird (vgl. Phaidr. 246a). Der Lenker, im Bilde also der Mensch, entspricht dem Logistikon, wohingegen die beiden Pferde die unreflektierten Teile Epithymetikon und Thymoeides darstellen: Das dem Thymoeides entsprechende Pferd ist »schön und gut (καλός τε καὶ ἀγαθός) und [stammt] von solchen, das andere aber von Gegenteiligen und ist gegenteilig« (ebd. 246b). Platon spricht auch von zwei gewissen Arten (δύο τινὲ ἰδέα) des Begehrens, »herrschend und treibend, welchen wir folgen, wohin immer sie führen: Die eine [Art], welche eingewachsen ist, [ist] eine Begierde nach Genüssen, die andere aber, [ist] eine hinzuerworbene Vorstellung, welche stets nach dem Besten strebt.« (ebd. 237c)

Auch im Phaidros zeigt sich folglich, dass das Epithymetikon nach Lustbefriedigung strebt, wohingegen sich das Thymoeides für die Wertvorstellungen einsetzt: für eine Vorstellung davon, was beispielsweise gut, schön, gerecht oder fromm ist.

»Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis laufen parallel.«

Was den Menschen aber als Menschen ausmacht, das ist der Wagenlenker, sein Logistikon, dessen Aufgabe es ist, zu beraten und zu prüfen: zu philosophieren. Dies ist der Teil der Seele, in dem der Mensch sich sammelt, wenn er sich von den körperlichen Sinnen zurückzieht und danach strebt, das Wesen der Dinge zu ergründen. Im vernünftigen Denken erkennt er sich selbst sowie die Dinge an sich und nähert sich dadurch auch Gott an. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis laufen parallel:

»Denn es ist nötig, dass der Mensch versteht, was der Art/Idee gemäß (κατ᾽ εἶδος) ausgedrückt wird, indem es aus vielen Wahrnehmungen mit der Vernunft (λογισμῷ) in eines zusammengefasst wird. Und dies ist die Wiedererinnerung an jene Dinge, welche unsere Seele damals erblickte, als sie mit Gott reiste und einerseits dasjenige, von dem wir jetzt sagen, es existiere, nicht beachtete, andererseits hinaufblickte zu dem wahrhaft Seienden. Deshalb also ist zurecht allein das Denken des Philosophen gefiedert: Denn es ist mit der Erinnerung nach Vermögen immer gerade bei jenen Dingen, durch deren Nähe Gott göttlich ist [sc. die Idee des Guten, des Schönen, des Gerechten etc.].« (ebd. 249b–c)

Dabei ist das Logistikon zugleich für das praktische, ethische Leben von größter Bedeutung: Aus den menschlichen Vorstellungen nämlich entspringen die Werturteile, aus denen wiederum die Handlungen hervorgehen. Das Epithymetikon strebt nach dem, was es für angenehm hält, wohingegen das Thymoeides danach strebt, was es für moralisch wertvoll hält. Diese Vorstellungen aber müssen nicht unbedingt wahr oder begründet sein. Somit besteht die Gefahr, dass sich der Mensch falsche Vorstellungen zum Ausgangspunkt seiner Handlungen macht. So entstünden beispielsweise alle Kriege aus körperlichen Bedürfnissen (vgl. Phaid. 66c), und so letztlich aus einer fälschlichen Identifikation des Menschen mit seinem Körper. Das Logistikon kann die Vorstellungen auf ihre Konsistenz hin überprüfen und den Menschen auf diese Weise von verfehlten Vorstellungen, Werturteilen und Handlungen befreien. Diese Prüfung bezeichnet Sokrates als »das größte Gut (μέγιστον ἀγαθόν) für den Menschen « (apol. 38a).

Jenseitsmythen und der Aufstieg der Seele

Neben logischen und skeptischen Gedankengängen kommen bei Platon auch Mythen zur Sprache. In der Apologie beispielsweise nennt Sokrates vorsichtig zwei grundsätzliche Möglichkeiten für den Tod: Einerseits wäre es möglich, dass der Tod einem traumlosen Schlaf nahekäme, andererseits könnte er die Bewegung der Seele hin zu einem anderen Ort darstellen (ebd. 40c). In verschiedenen Mythen hingegen wird das Leben der Seele nach dem Tode teils lebhaft beschrieben, wobei auch die Vorstellung einer Wiederverkörperung auftaucht, inklusive der Möglichkeit, dass »eine menschliche Seele auch in das Leben eines Tier gelangt« (Phaidr. 249b). Zwischen den Verkörperungen werden die Seelen mitunter gerichtet:

»Die einen gehen in die unter der Erde gelegenen Orte der Gerechtigkeit und zahlen ihre Strafe ab, die anderen aber werden von der Gerechtigkeit in einen gewissen Ort des Himmels erhoben und verbringen ihr Dasein dort entsprechend dem Leben, welches sie in Menschengestalt gelebt haben.« (ebd. 249a–b)

Im Gorgias gibt es ein Göttergericht (vgl. Gorg. 523a–525a), in der Politeia wiederum wird ausführlich beschrieben, wie sich die Seelen ihr Leben vor der Geburt selbst aussuchen (vgl. rep. 617d–620d).

Die Vielzahl der Mythen im Einzelnen durchzugehen, wäre Gegenstand eines anderen Artikels. Jedoch stellt sich die Frage, warum Platon seine logischen Überlegungen überhaupt durch mythologische Spekulationen ergänzt. Warum berichtet ein Sokrates, der von sich selbst behauptet, »sozusagen nichts zu wissen (οὐδὲν ἐπιστάμενῳ)« (apol. 22d), detailliert vom Leben nach dem Tod?

Nun werden derartige Darstellungen niemals als Wissen oder Tatsachen vermittelt, sondern stets bewusst als Mythen, Erzählungen oder Annäherungen eingeführt. Dabei haben sie alle eine Gemeinsamkeit: Sie bemühen sich, das Bild einer gerechten Weltordnung zu zeichnen. Sokrates selbst verkörpert den vollkommenen Glauben an das Gute und die Gerechtigkeit: »Es gibt für den guten Menschen kein Übel, weder im Leben noch nach dem Tode.« (ebd. 41d) Diese Ansicht erhält er sogar angesichts seines eigenen Todesurteils aufrecht: »Auch meine Angelegenheiten haben sich nun nicht grundlos ergeben. Für mich ist vielmehr klar, dass es für mich besser wäre, bereits tot und von den Schwierigkeiten gelöst zu sein.« (ebd. 41d) Die sokratische Hoffnung (ἐλπίς) (vgl. rep. 517b), der Glaube daran, dass die Idee des Guten »für alles/alle (πᾶσι) die Ursache aller richtigen (ὀρθῶν) und schönen (καλῶν) [Dinge ist], indem sie einerseits im sichtbaren Bereich das Licht und dessen Herrscher [sc. die Sonne] geboren hat, andererseits im denkbaren Bereich sie selbst die Herrscherin ist, welche Wahrheit und Vernunft bringt« (ebd. 517c), kann als das Resultat der gründlichen Selbsterforschung und Prüfung verstanden werden.

»Gott, also das Gute als Ursache allen Seins und Erkennens, und die Vernunft bilden bei Platon keinen Widerspruch, sondern eine notwendige Verbindung.«

Seine Überzeugung ist folglich kein blinder Glaube, schließlich »muss man vielmehr prüfen, was derjenige sagt, der etwas sagt« (Euth. 9e), und Sokrates hinterfragt religiösen Dogmatismus durchaus in aller Deutlichkeit (vgl. ebd. 6a–c). Die langjährige und intensive Suche nach dem Guten als Ursache allerdings, die zugleich die Lebensform des Sokrates (vgl. Phaid. 96a–102a) und die eigentliche Tugend und Aufgabe der menschlichen Seele darstellt, führt sukzessive zum vernünftigen Glauben, zum Glauben an das Gute und vielleicht sogar zur Erkenntnis des Guten: Gott, also das Gute als Ursache allen Seins und Erkennens, und die Vernunft bilden bei Platon keinen Widerspruch, sondern eine notwendige Verbindung.

Diese Früchte aber erntet nur derjenige, der den Erfahrungsprozess, den im viel besprochenen Höhlengleichnis (vgl. rep. 514a–517a) allegorisch dargestellten Aufstieg der Seele, selbst durchläuft: von der Sinnenwelt zur Erkenntnis der Ideen und innerhalb der Ideen zur Erkenntnis der Idee des Guten (vgl. ebd. 518c). Diesen Aufstieg der Seele selbst zu versuchen, dazu will das ganze platonische Werk anregen und Anleitung geben. Die Selbsterkenntnis der Seele ist dabei ein wesentlicher und notwendiger Schritt. Ein Interesse an dieser seelischen Selbsterforschung und Aufstiegsbewegung zu wecken, ist das Ziel dieses Artikels.

Footnotes

Etymologisch leitet sich ἡ ψυχή (Hauch, Atem, Leben(-skraft), Seele (des Verstorbenen)) von dem Verb ψύχω (blasen, atmen) ab. Die griechische Tradition seit der Ilias versteht sie als eine Art Geist, ein geflügeltes Abbild des Toten. Vgl. Frisk, Hjalmar: Griechisches etymologisches Wörterbuch. Band II. Heidelberg: 1973, S. 1141–1142.Back to reference

Dies ergab eine Suche bei Perseus (http://www.perseus.tufts.edu/hopper/) am 06.01.2022. Die vier Texte, in denen er fehlt, sind die Dialoge Euthyphron, Kriton, Hipparchos und Theages. Ich beziehe mich dabei auf alle 36 Texte der neun in der Antike gefassten Tetralogien, auch wenn die Echtheit einiger weniger davon heute zum Teil bezweifelt wird.Back to reference

Sämtliche Übersetzungen stammen vom Autor und fußen auf den griechischen Textausgaben von Burnet (Oxford: 1975) und Duke et al. (Oxford: 1995).Back to reference

Keil, Geert: Was ist der Mensch? Anmerkungen zu einer unwissenschaftlichen Frage. In: Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Was ist der Mensch? Berlin/New York: 2018, S. 139–146.Back to reference

Vgl. Renaud, François, «Selbsterkenntnis«, in: Der Neue Pauly, Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Eingesehen am 03.02.2023 auf »http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e12224900«.Back to reference

Der Schuster ist verschieden von seinem Schneidewerkzeug, der Gitarrist von seiner Gitarre (vgl. Alk. 1 129c–d).Back to reference

Dabei unterscheidet Sokrates zwischen der Ursache (τὸ αἴτιον) und dem Umstand, ohne den die Ursache niemals Ursache sein könnte (vgl. Phaid. 99b): Sokrates sitzt nicht im Gefängnis, weil er Knochen, Sehnen und Gelenke hat, sondern weil es ihm besser (βέλτιον) erscheint, dort zu sitzen, und gerechter (δικαιότερον), die Strafe zu erdulden (vgl. ebd. 89e). Die wahre Ursache wählt das Beste (vgl. ebd. 99b), wozu ein wahrnehmendes und wertendes Bewusstsein nötig ist. Den Unterschied zwischen Ursache und Umständen zu verkennen, bezeichnet Sokrates als »äußerst große Leichtsinnigkeit des Denkens (ῥᾳθυμία τοῦ λόγου)« (ebd. 99b), eine Leichtsinnigkeit, die bereits seinerzeit in der Naturphilosophie verbreitet war (vgl. ebd. 98b–99c).Back to reference

Klassische Beispiele bei Platon sind die folgenden: Der Ringfinger ist im Vergleich zum kleinen Finger groß, im Vergleich zum Mittelfinger aber klein (vgl. rep. 523e). Wir nehmen denselben Finger zugleich als Eines (einen Finger) und unendlich vieles (drei Fingerglieder, Hunderte Härchen, Tausende Zellen, unzählige Atome etc.) wahr (vgl. ebd. 525a).Back to reference

Daraus kann jedoch nicht auf eine Körperfeindlichkeit bei Platon geschlossen werden: Sokrates, der Idealtyp des platonischen Philosophen, hat eine Frau und drei Kinder, von denen er zwei in hohem Alter zeugte (vgl. Phaid. 60a, 116b). Er trinkt Wein (vgl. symp. 214a) und relativiert die Abwendung vom Körper stets durch zahlreiche Wendungen: »insofern keine große Notwendigkeit besteht« (Phaid. 64d), »insofern möglich« (ebd. 64e, 65c), »so sehr wie möglich« (ebd. 65a, c, e, 66a, 67a, c) etc. Von einer asketischen Lebensweise ist er weit entfernt.Back to reference

Hierbei handelt es sich um eine der logischen Wahrheiten, die der Mensch dem Denken entnimmt und nicht der Empirie: Die Beispiele (menschlicher Körper, Kreisel) beziehen sich zwar zunächst auf die Sinnenwelt, der dahinterstehende Gedanke aber offenbart sich der Vernunft. Ein sich in der Sinnenwelt drehender Kreisel wird niemals völlig frei von Ortsbewegung sein. In der Vorstellungskraft jedoch kann der Mensch den vollkommenen Kreisel kreiseln und überhaupt jeden beliebigen Körper sich drehen lassen und so über die Bewegung im mathematischen Raum nachdenken. Dabei wird er feststellen, dass Rotations- und Ortsbewegung zwei verschiedene, da voneinander unabhängige Bewegungsformen sind. Bei den materiellen Abbildern ist dies höchstens annähernd der Fall.Back to reference

»στῆθος δὲ πλήξας κραδίην ἠνίπατε μύθῳ«. Das Herz (κραδίη) und der umliegende Bereich gelten als Sitz des Thymoeides (vgl. Tim. 70a–d).Back to reference

Dies kann als Grundlage der späteren Einteilung bei Aristoteles verstanden werden, der von einem Ernährungsvermögen (τὸ θρεπτικόν), einem Wahrnehmungsvermögen (τὸ αἰσθητικόν) und einem Denkvermögen (τὸ νοητικόν) spricht (vgl. Aristoteles: de anima 415a) und anmerkt, dass jedes weitere Vermögen das vorherige gerade so enthält, »wie im Viereck das Dreieck« (ebd. 414b) enthalten ist.Back to reference

Zum Autor

Sebastian F. Seeber (M. A.) absolvierte sein Studium in Gräzistik, Philosophie und klassischer Philologie an der HU Berlin, wo er seit 2020 Alt-Griechisch unterrichtet. Er ist Privatlehrer und Gründer des Carpe Kairon Instituts. Daneben arbeitet er an einer modernen Platon Übersetzung und der gelebten Verwirklichung platonischer Philosophie.

Bildnachweis: © Adobe Photostock, Wikipedia

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