Seele, Körper und Befreiung in der Bhagavad-gītā
Im menschlichen Leben steht der materielle Körper im Fokus unserer Aufmerksamkeit. Wir tun alles, um für unseren Körper die bestmöglichen und bequemsten Bedingungen zu erschaffen, und sehen darin auch die höchsten Werte. Die ewige spirituelle Seele stellt dies jedoch nicht zufrieden. Laut Bhagavad-gītā täuschen wir uns hier in unseren Prinzipien. Ein spirituelles Erwachen erreichen wir dann, wenn wir die göttliche Ordnung erkennen und entsprechend handeln.
Von allen spirituellen Traditionen ist die vedische Tradition in Bezug auf die Seele die radikalste. In der Bhagavad-gītā, der Hauptschrift der vedischen Philosophie und Spiritualität des alten Indiens, wird uns berichtet, dass wir ewige Lebewesen sind. Für die Seele gibt es weder Geburt noch Tod. Die Seele ist aja, ungeboren (Bg. 2.20). Die Seele existiert auch jenseits des vergänglichen Körpers und jenseits der materiellen Raumzeit. Es geht demgemäß nicht darum, das Leben auf der Erde perfekt einzurichten oder die irdische Existenz als Totalität zu betrachten. Es geht nicht darum, uns mit dem Körper zu identifizieren. Die Veden sagen eindeutig: ›Du bist nicht der Körper.‹
Eine solche Überlegung birgt ihre Herausforderungen. Sie wird von sogenannten absteigenden Religionen oder Erdreligionen nicht geteilt. In schamanischen Traditionen geht es darum, sich gerade mit dem Körper vollständig zu identifizieren und ihn als Inbegriff des eigenen Selbst zu fühlen und zu verstehen. Hier finden wir das Verständnis, dass wir Kinder der Erde sind, eingebettet in den Kreislauf der Natur, in das Wachstum, die Fruchtbarkeit.
Sind wir nicht ohnehin von unserem Körper abgespalten und sollten wir uns nicht besser mit ihm verbinden? Führt eine Transzendenzreligion wie die vedische hier nicht zu einem großen Missverständnis, zu einer dysfunktionalen Abspaltung? Diese Einwände sind ernstzunehmen. Sie bilden aber nicht den Gegenstand dieser Erörterung zur Seele. Auch wenn auf der psychologischen Ebene hier Dysfunktionalitäten auftreten können, stellt das nicht die dahinterliegende spirituelle Wirklichkeit infrage. Gerade wirkende Kräfte werden oft Gegenstand des Missbrauchs. Wie sollte es auch anders sein? Wirkungs- oder bedeutungslose Dinge zu missbrauchen, hat keinen Nutzen.
Schauen wir uns also das vedische Wirklichkeitsverständnis in seiner konstruktiven Bedeutung an. Die vedische Kultur bietet folgende Alternative an: ›Du bist ewige spirituelle Seele.‹ Nur der Körper ist vergänglich und wird in regelmäßigen Abständen gewechselt. Deine wahre Identität ist, dass du ein unvergängliches spirituelles Wesen jenseits von Raum und Zeit bist, das in der materiellen Welt verschiedene Körper annimmt, in Wahrheit aber in die spirituelle Welt, ins Paradies gehört, wo es seinen wahren spirituellen Körper annimmt.
Heute kennt wohl jeder die Idee der Reinkarnation. Sie stammt aus der vedischen Kultur und wird in der Bhagavad-gītā unmissverständlich konstatiert:
Niemals gab es eine Zeit, als Ich oder du oder all diese Könige nicht existierten, und ebenso wird niemals in der Zukunft einer von uns aufhören zu sein. (2.12)
So wie die verkörperte Seele in diesem Körper fortgesetzt von Knabenzeit zu Jugend und zu Alter wandert, so geht die Seele beim Tod in ähnlicher Weise in einen anderen Körper ein. Ein besonnener Mensch wird durch einen solchen Wechsel nicht verwirrt. (2.13)
Diejenigen, die die Wahrheit sehen, haben erkannt, dass das Inexistente [der materielle Körper] ohne Dauer und das Ewige [die Seele] ohne Wechsel ist. Zu diesem Schluß sind sie gekommen, nachdem sie das Wesen von beidem studiert hatten. (2.16)
[alle Zitate aus: A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada: Bhagavad-gita Wie Sie Ist, Bhaktivedanta Book Trust 1987]
Die Bhagavad-gītā beschreibt die Seele folgendermaßen:
Wisse, das, was den gesamten Körper durchdringt, ist unzerstörbar. Niemand ist imstande, die unvergängliche Seele zu zerstören. (2.17)
Dem materiellen Körper des unzerstörbaren, unmeßbaren und ewigen Lebewesens ist es mit Sicherheit bestimmt zu sterben. […] (2.18)
Weder derjenige, der denkt, das Lebewesen töte, noch derjenige, der denkt, es werde getötet, besitzt Wissen, denn das Selbst tötet nicht und wird auch nicht getötet. (2.19)
Für die Seele gibt es zu keiner Zeit Geburt oder Tod. Sie ist nicht entstanden, sie entsteht nicht, und sie wird nie entstehen. Sie ist ungeboren, ewig, immerwährend und urerst. Sie wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird. (2.20)
O Pārtha, wie kann ein Mensch, der weiß, dass die Seele unzerstörbar, ewig, ungeboren und unveränderlich ist, jemanden töten oder jemanden veranlassen zu töten? (2.21)
Wie ein Mensch alte Kleider ablegt und neue anzieht, so gibt die Seele alte und unbrauchbare Körper auf und nimmt neue materielle Körper an. (2.22)
Die Seele kann weder von Waffen zerschnitten noch von Feuer verbrannt, noch von Wasser benetzt, noch vom Wind verdorrt werden. (2.23)
Die individuelle Seele ist unzerbrechlich und unauflöslich und kann weder verbrannt noch ausgetrocknet werden. Sie ist immerwährend, überall gegenwärtig, unwandelbar, unbeweglich und ewig dieselbe. (2.24)
Es heißt, dass die Seele unsichtbar, unbegreiflich und unwandelbar ist. Da du dies weißt, solltest du nicht um den Körper trauern. (2.25)
O Nachkomme Bharatas, der Bewohner des Körpers kann niemals getötet werden. Daher brauchst du um kein Geschöpf zu trauern. (2.30)
»Wir sind individuelle Personen mit einer wahren Identität.«
Demgegenüber wird die Seele oft nicht sonderlich berücksichtigt. Und selbst wenn, so wissen wir nicht genau, was die Seele ist. Kann es wirklich sein, dass die Seele ewig ist? Die Bhakti-Theologie geht noch einen Schritt weiter als die besser bekannte Advaita-Deutung der vedischen Spiritualität. Während im Advaita-Vedanta zumindest noch nachvollziehbar ist, dass wir als individuelle Seelen mit dem großen, kosmischen Ganzen, dem Brahman, verschmelzen und eins werden und dadurch natürlich auch irgendwie in die Ewigkeit und Alleinheit eingehen, wird von der Bhakti-Theologie behauptet, dass wir sogar als individuelle Identität ewig seien. Im Bhakti-Vedanta gibt es ein Ich, das ewig existiert, und dieses Ich ist meine wahre Identität. Dieses wahre Ich steht in einer ewigen Beziehung zu Göttin-Gott, und zwar als Diener:in, Freund:in, Eltern oder Geliebte:r. Es gibt eine spirituelle Welt, die jenseits von Raum und Zeit ist, die aber trotzdem Formen und Eigenschaften und Individualität beinhaltet. Dort gehören wir in Wirklichkeit hin, und dort sind wir als individuelle Personen mit unserer wahren Identität an dem ewigen göttlichen Spiel, dem lila, beteiligt.
Die Unterscheidung von Materie und Spirit
Der Körper wird in der vedischen Spiritualität der Materie zugeordnet, da er aus den fünf Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft und Äther besteht. Auch in der Bibel wird gesagt, dass Gott den Menschen aus Lehm erschuf und ihm dann den Hauch des Lebens einblies. In unserem Körper findet sich Erde, zum Beispiel als Kalzium in den Knochen, es findet sich darin Wasser im Sinne von Blut und Lymphflüssigkeiten. Das Feuer gebrauchen wir als Verdauungsfeuer und elektrische Ladungen in den Nerven. Die Luft ist es, die wir zum Atmen brauchen. Der Äther ist das Element des Raums, die quinta-essentia, die fünfte Essenz, die zu den im Westen bekannten vier Elementen hinzugezählt wird, und steht für unsere räumliche Ausdehnung. Diesen fünf Elementen sind auch die Sinne zugeordnet: So ist die Erde mit dem Geruch verbunden, das Wasser mit dem Geschmack, das Feuer mit dem Sehsinn, die Luft mit dem Tastsinn und der Äther mit dem Hören.
Interessanterweise zählen in der vedischen Ontologie auch Geist (manas), Intelligenz (buddhi) und falsches Ego (ahankara) zu den materiellen Elementen. Es ist hilfreich, hier zwischen der grobstofflichen und der feinstofflichen Ebene zu unterscheiden, wobei beide Ebenen immer noch stofflich, also materiell und insofern nicht spirituell sind. Neben diesen beiden stofflichen Ebenen gibt es sodann eine weitere, höhere Energie: die Lebensenergie. Die Höchste Persönlichkeit Gottes, Bhagavan Sri Krishna, sagt dazu:
Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther, Geist, Intelligenz und falsches Ego – all diese acht Elemente bilden zusammen Meine abgesonderten, materiellen Energien. (7.4)
Neben diesen niederen Energien, o starkarmiger Arjuna, gibt es eine andere Energie, Meine höhere Energie, welche die Lebewesen umfaßt, die die Reichtümer der materiellen, niederen Natur ausbeuten. (7.5)
Alle erschaffenen Wesen haben ihren Ursprung in diesen beiden Naturen. Wisse, von allem, was materiell und was spirituell ist in dieser Welt, bin Ich sowohl der Ursprung als auch die Auflösung. (7.6)
Die fünf grobstofflichen und die drei feinstofflichen Elemente bilden also die materiellen Energien. Des Weiteren gibt es eine andere Energie, die die Lebewesen umfasst. Die erschaffenen Wesen wiederum, also wir, die wir einen biologischen Körper haben, sind eine Kombination aus beidem. In Kapitel 13 wird dies weiter präzisiert:
Man sollte verstehen, dass die materielle Natur und die Lebewesen anfanglos sind. Ihre Umwandlungen und die Erscheinungsweisen der Materie sind Produkte der materiellen Natur. (13.20)
Die Natur gilt als die Ursache aller materiellen Ursachen und Wirkungen, wohingegen das Lebewesen die Ursache der verschiedenen Leiden und Genüsse in dieser Welt ist. (13.21)
So folgt das Lebewesen in der materiellen Natur den Wegen des Lebens und genießt die drei Erscheinungsweisen der Natur. Das ist auf seine Verbindung mit der materiellen Natur zurückzuführen. So trifft es mit Gut und Schlecht in den verschiedenen Lebensformen zusammen. (13.22)
»Glück und Leid gehen nicht aus den materiellen Umständen hervor, sondern aus der Bewertung durch das Lebewesen.«
Glück und Leid gehen also nicht aus den materiellen Umständen hervor, sondern aus der Erfahrung und Bewertung durch das Lebewesen. Während alle materiellen Ereignisse kausal sind, also auf Ursache und Wirkung beruhen, beurteilt das Lebewesen diese Wirkungen je nach Ort, Zeit und Umständen als gut oder schlecht. Hier ist der Ansatzpunkt für das, was in den spirituellen Traditionen als Erwachen oder Erleuchtung bezeichnet wird. In der Erleuchtung steht man über diesen Bewertungen und ist an die materiellen Erfahrungen und Ergebnisse unangehaftet. Dies wird in der Bhagavad-gītā genau beschrieben:
O Sohn Kuntis, das unbeständige Erscheinen von Glück und Leid und ihr Verschwinden im Lauf der Zeit gleichen dem Kommen und Gehen von Sommer und Winter. Sie entstehen durch Sinneswahrnehmung, und man muss lernen, sie zu dulden, ohne sich verwirren zu lassen. (2.14)
O bester unter den Menschen, wer sich durch Glück und Leid nicht stören lässt, sondern in beidem stetig ist, eignet sich gewiss dazu, Befreiung zu erlangen. (2.15)
Ein intelligenter Mensch schöpft nicht auf den Quellen des Leids, die aus der Berührung mit den materiellen Sinnen entstehen. O Sohn Kuntis, solche Freuden haben einen Anfang und ein Ende, und daher erfreut sich der Weise nicht an ihnen. (5.22)
Jemand, dessen Glück im Innern liegt, der im Inneren tätig ist und im Inneren Freude erfährt und dessen Ziel im Innern liegt, ist wahrhaft der vollkommene Mystiker. Er ist im Höchsten befreit, und letztlich erreicht er den Höchsten. (5.24)
Im materiellen Bewusstsein erscheinen die materiellen Wechselwirkungen je nach Herangehensweise und Verständnis positiv oder negativ. Diese Dynamik ist jedoch nicht nur ein Ergebnis unseres Geistes (manas) und kann nicht durch Denken allein verändert werden. Die Dynamik geht viel tiefer und beruht auf der Frage der Anhaftung an die Früchte unserer Handlungen (karma) und der Identifikation mit materiellen Formen (ahankara). Das falsche Ego (ahankara) zählt noch zu den materiellen Elementen. Insofern ist es nicht spirituell und kann uns keine spirituelle Zufriedenheit geben. Wir sind als bedingte Lebewesen der Illusion (maya) unterworfen, was insbesondere bedeutet, dass wir an materielle Dinge angehaftet sind und darauf unsere Identität aufbauen.
Wenn wir zum Beispiel an eine besondere Art von Essen angehaftet sind, so finden wir es gut, wenn es dieses Essen gibt; aber wir finden es nicht gut, wenn uns dieses Essen nicht zugänglich ist. Dies trifft auf alle materiellen Zustandsformen zu, vor allen Dingen im Bereich der Partnerwahl, aber auch etwa in Bezug auf Geld, Wohnen oder eine bestimmte Form unseres Körpers, die meistens bei fortschreitendem Alter sichtbar den Wirkungen der Gravitation unterliegt und an Schönheit und Formgebung einbüßt. Ruhm und Ehre, Status, Bildung und physische Stärke sind einige weitere Werte, die der materiellen Identifizierung angehören und durch ihren materiellen Charakter die spirituelle Seele nicht glücklich machen können. Wir empfinden diese Art von Glück auf der feinstofflichen Ebene des Geistes und des falschen Egos. Daraus entstehen aber auch perspektivische Verzerrungen und Vorurteile, die Grundelemente von Ideologien und Fanatismen sind.
Nur auf der befreiten Ebene hat man die transzendentale Sicht, wo man alle Lebewesen mit gleichen Augen sieht und weder einen Unterschied zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen macht noch einen Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Menschen im Sinne von Rasse, Geschlecht oder Klasse. Dann sieht man überall nur die Seele der Lebewesen, denn jedes lebende Wesen wird durch eine Seele belebt:
Die demütigen Weisen sehen Kraft wahren Wissens einen gelehrten und edlen brahmana, eine Kuh, einen Elefanten, einen Hund und einen Hundeesser (Kastenlosen) mit gleicher Sicht. (5.18)
Ein Mensch gilt als selbstverwirklicht und wird als Yogi (Mystiker) bezeichnet, wenn er Kraft gelernten und verwirklichten Wissens völlig zufrieden ist. Ein solcher Mensch ist in der Transzendenz verankert und selbstbeherrscht. Er sieht alles – ob Kiesel, Steine oder Gold – als gleich an. (6.8)
Wenn ein einsichtiger Mensch aufhört, auf Grund verschiedener materieller Körper Unterschiede zu machen, und sieht, wie die Lebewesen überall gegenwärtig sind, erlangt er die Sicht des brahman. (13.31)
»Man muss die Seele und das Leben als spirituelle Phänomene beschreiben.«
Die Seele ist die eigentliche Lebensenergie, die von Gott kommt, also einen spirituellen Ursprung hat. Die Seele und das Leben können deswegen nicht materiell, mechanisch oder kausal erklärt werden. Man muss die Seele und das Leben als spirituelle Phänomene beschreiben.
Wie kann man die materielle Ebene transzendieren?
Jede Art von materieller Handlung fällt in den Bereich von Karma. Karma bedeutet ganz allgemein Handlung, allerdings mit dem Ziel, die Früchte dieser Handlung zu ernten. Das Lebewesen, das Karma ausführt, tut die Dinge mit der Absicht, sie für sich selbst zu genießen. Auf der Ebene der Menschen kommt zu dem allgemeinen Selbsterhaltungstrieb und Genusstrieb noch der Machtanspruch hinzu. Der materiell denkende Mensch geht davon aus, dass sich die Welt um ihn dreht und er (oder die von ihm definierte exklusive Gruppe, zu der er sich zugehörig fühlt) das Zentralgestirn ist, nach dem sich alles zu richten hat. Jeder Mensch in der materiellen Identifizierung möchte der Kontrollierende und der Besitzende sein. Ahankara, das falsche Ego, bedeutet übersetzt »Ich bin (aham) und ich tue (kara)«. Ich identifiziere mich also mit einer bestimmten materiellen Form und Funktion und betrachte mich selbst als den Handelnden, der die Macht hat, Dinge zu kontrollieren oder zu benutzen. Insofern spricht die Bhagavad-gītā auch davon, dass die Lebewesen die materielle Natur ausbeuten (vgl. 7.5). Die transzendentale Wirklichkeit unserer Situation sieht allerdings anders aus:
Das verkörperte spirituelle Lebewesen, der Herr in der Stadt seines Körpers, verursacht niemals Tätigkeiten. Weder veranlasst es andere zu handeln, noch erzeugt es die Früchte seiner Tätigkeiten. All dies wird von den Erscheinungsweisen der materiellen Natur bewirkt. (5.14)
Die höchste Persönlichkeit Gottes sprach: das unzerstörbare, transzendentale Lebewesen wird brahman genannt, und seine ewige Natur wird adhyatma, das Selbst, genannt. Tätigkeiten, die sich auf die Entwicklung der materiellen Körper der Lebewesen beziehen, nennt man karma, fruchtbringende Tätigkeiten. (8.3)
»Die Seele tut nichts und ist auch nicht verstrickt.«
Diejenigen mit der Sicht der Ewigkeit sehen, dass die unvergängliche Seele transzendental und ewig ist und sich jenseits der Erscheinungsweisen der Natur befindet. Trotz ihres Kontaktes mit dem materiellen Körper, O Arjuna, tutdie Seele nichts und ist auch nicht verstrickt. (13.32)
Wenn jemand wirklich erkennt, dass in allen Handlungen niemand anders als diese Erscheinungsweisen der Natur tätig sind, und weiß, dass der höchste Herr transzendental zu diesen Erscheinungsweisen ist, erreicht er meine spirituelle Natur. (14.19)
Um aus dem Kreislauf von Aktion und Reaktion des Karmas herauszukommen, ist es notwendig, karmafreie Handlungen auszuführen. Es gibt eine Art von Handlung, die für die Befreiung prädestiniert ist und auch als solche in der Bhagavad-gītā empfohlen wird: bhakti-yoga, reine, selbstlose Liebe zu Gott:
Wer sich völlig im hingebungsvollen Dienst (bhakti-yoga) beschäftigt und unter keinen Umständen abweicht, transzendiert sogleich die Erscheinungsweisen der materiellen Natur und erreicht so die Ebene des brahman. (14.26)
Ich bin die Grundlage des unpersönlichen brahman, das unsterblich, unvergänglich und ewig ist und das die grundlegende Natur höchsten Glücks ist. (14.27)
Das Ich, das hier spricht, ist Krishna, die Höchste Persönlichkeit Gottes. Er sagt hier, dass er die Grundlage des brahman, der alldurchdringenden, spirituellen Energie, ist. Der hingebungsvolle Dienst, bhakti-yoga, wird als Dienst zu Gott ausgeführt. Die wahre Identität der Seele ist es also, eine Dienerin Gottes zu sein und Gottesdienst auszuführen. Dieser Gottesdienst kann in verschiedenen Formen ausgeführt werden, als Diener:in, Freund:in, Elternteil oder Geliebte Gottes. Mithilfe des bhakti-yoga ist es möglich, die materielle Kausalität zu transzendieren und auf die spirituelle Ebene zu gelangen. Die vollkommene Form dieses bhakti-yoga wird ohne Absicht ausgeführt:
Ein selbstverwirklichter Mensch verfolgt bei der Erfüllung seiner Pflichten keine Absicht, und ebenso gibt es für ihn auch keinen Grund, diese Tätigkeiten nicht zu verrichten. Auch ist es für ihn nicht notwendig, von irgendeinem Lebewesen abhängig zu sein. (3.18)
»Jede Seele neigt dazu, zu dienen.«
Wir haben als Menschen das Recht zu handeln, aber wir haben kein Recht, über die Früchte zu verfügen. Natürlich denken wir sofort, wenn ich etwas tue, möchte ich auch das Ergebnis genießen. Spirituell betrachtet sind wir aber alle Geschöpfe. Wir sind von Gott geschaffen. Ebenso ist dieses Universum mit seinen Planeten von Gott geschaffen. Alles gehört also Gott. Gott ist der Besitzer und der Kontrollierende. Wir sind Gottes Kinder und dürfen diese Dinge nutznießen, sollten uns aber darüber im Klaren sein, dass wir nicht die Besitzenden und auch nicht die Herrschenden sind. Diese Idee des materiellen Egos ist die Grundursache des Leidens in der Welt. Sie verursacht alle Störungen und Kollisionen und muss deshalb aufgegeben werden. Wenn wir alles für Gott tun und unsere Früchte Gott hingeben, sind wir in der richtigen göttlichen Ordnung und werden dadurch erleuchtet. In der göttlichen Ordnung sind wir allemal mit allem bestens versorgt. Es ist auch das Einzige, was die Seele vollständig zufriedenstellt. Also gerade im Aufgeben des Anspruches auf Herrschaft und Unabhängigkeit findet die Seele ihre Erfüllung. Jede Seele neigt dazu, zu dienen. Wir dienen unseren Kindern, unserem Land, unseren Haustieren. Aber der beste Dienst ist der Dienst für Göttin-Gott, denn er nährt die Wurzel des Baumes und damit sind auch alle Zweige und Blätter versorgt. Das Beste, was wir uns für unser Leben vorstellen können, ist nur ein flüchtiger Schimmer von dem, was Göttin-Gott für uns vorgesehen hat. Wenn wir uns also mit bhakti-yoga, im hingebungsvollen Dienst für Göttin-Gott, beschäftigen, erlangt unser Leben die Vollkommenheit.
Fußnote 1: Nähere Ausführungen dazu findet man in: Ronald Engert: »Ewiger Frieden durch Transzendenz. Was sagen die spirituellen Traditionen?«
Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–22 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2022 Masterarbeit zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts«. Blog: www.ronaldengert.com / Zeitschrift: www.tattva.de
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