Plädoyer für eine erneute Abrüstung
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Fundamental-Pazifismus und Real-Pazifismus krachen derzeit in Anbetracht des Ukraine-Krieges aufeinander, und ihre jeweiligen Anhänger möchten nicht von ihren jeweiligen Positionen abweichen, im Gegenteil. Doch der seit Jahrzehnten als Pazifist auftretende und agierende Dr. Franz Alt setzt sich für beides ein: Einerseits können Waffen Leben retten, doch andererseits ist eine weltweite Abrüstung viel wichtiger, in der alle Seiten den Wahnsinn des Krieges einsehen und diesen so endlich stoppen. Erst so wird Frieden möglich.
Nach meinem Auftritt Ende Januar 2023 in der ZDF-Sendung »Maybrit Illner« über den Ukraine-Krieg haben mir viele Zuschauer vorgeworfen, ich sei ein »Putin-Versteher«. Sie haben recht. Wenn wir mit Putin wieder klarkommen wollen, müssen wir ihn besser verstehen als zurzeit, wo wir ihn dämonisieren oder verharmlosen. Putin-Versteher ist in weiten Kreisen in Deutschland ein Schimpfwort geworden. Das sagt viel über uns und wenig über Putin aus. Für mich ist Putin-Versteher gerade nicht »Putin-Bewunderer«, sondern der Versuch, auch mit Putin so rasch wie möglich zu einem Ende des Krieges zu kommen, damit das unermessliche Leid dieses Krieges beendet wird. Wenn ich das wirklich will, dann muss ich ihn zuerst verstehen. Das ist nicht anders bei unseren Konflikten im Privatleben. Wir werden wohl noch lange Zeit keinen anderen Gegner oder Feind am Verhandlungstisch haben können. Wer sagt »Mit Putin kann man nicht reden«, der darf sich nicht wundern, wenn immer noch kein Dialog zustande kommt.
Russlands Präsident führt einen verbrecherischen, völkerrechtswidrigen, blutigen und grausamen Krieg gegen 45 Millionen Menschen in der Ukraine. In dieser Situation muss die Ukraine humanitär, wirtschaftlich, aber auch militärisch unterstützt werden und von außen Hilfe bekommen. Auch Pazifisten dürfen sich nicht hinter ihrem alten Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen« verstecken. Wer jetzt den Ukrainern empfiehlt »Frieden schaffen ohne Waffen«, handelt zynisch. Das ist unterlassene Hilfeleistung. Auch die Friedensbewegung muss in dieser Situation umdenken und ihren Appell »Stoppt den Krieg« an die richtige Adresse richten, nämlich an den Aggressor in Moskau. Das ist schmerzlicher Real-Pazifismus im Gegensatz zum Fundamental-Pazifismus. Fundamental-Pazifismus heute ist ein Pazifismus im Sinne des Aggressors. Diese Unterscheidung machte schon der große Pazifist Albert Einstein, der zwischen verantwortungslosem und verantwortlichem Pazifismus unterschied. Ähnlich argumentierte auch die echte Pazifistin Bertha von Suttner. Sie sagte: »Jedes Volk hat selbstverständlich das Recht zur Selbstverteidigung.« So steht das auch in der UNO-Charta. Fundamental-Pazifisten widersprechen und schreiben mir, der ich bei »Maybrit Illner« auch für die Lieferung deutscher Defensivwaffen plädiert habe: »Alle Waffen töten«, heißt es.
So ähnlich habe ich auch lange argumentiert. Deshalb verstehe ich dieses Denken. Doch gerade in den letzten Wochen zeigt sich, dass Abwehrwaffen aus Deutschland vielen Ukrainern das Leben gerettet haben. An einem Tag Anfang Januar haben russische Soldaten mit 82 Raketen auf zivile ukrainische Ziele geschossen. Davon konnten über 70 mit Abwehrraketen in der Luft zerstört werden. Deutsche Waffen haben Hunderten Ukrainern das Leben gerettet. Wenn wir nicht ideologisch verbohrt sein wollen, müssen wir in dieser Situation umdenken und lernfähig bleiben. Das darf jedoch nie heißen, mit dem Druck auf Dialog nachzulassen. Aber: Wenn mein Nachbar um Hilfe ruft, darf ich als Christ und Pazifist mir nicht die Ohren zuhalten, wenn ich wirksame Abwehrwaffen habe. Das wäre das Gegenteil dessen, was alle Religionen und Weisheitslehren fordern. »Du sollst nicht töten« heißt auch: »Du sollst nicht töten lassen, wenn du das verhindern kannst.« Das ist das Ur-Ethos der Menschheit.
Real-Politik und Real-Pazifismus
Die »Feindesliebe« der Bergpredigt Jesu heißt ja niemals »Lass dir alles bieten«. Das hieße doch, den wunderbaren jungen Real-Pazifisten aus Nazareth zum Deppen zu erklären. »Feindesliebe« heißt: Sei klüger als dein Feind. Versuche immer, dich in ihn hineinzudenken. Sei Putin-Versteher, nur dann kannst du vielleicht mit ihm klarkommen und eventuell sogar vernünftige Kompromisse mit ihm schließen. Wir dürfen uns nicht länger für die absolut Guten und die Russen für die absolut Bösen halten. Auch der Westen hat Fehler gemacht.
»Wir dürfen uns nicht länger für die absolut Guten und die Russen für die absolut Bösen halten.«
Ich will drei Realpolitiker nennen, die den Westen an seine bisherigen Fehler gegenüber Putin und Russland immer wieder erinnert haben:
- Michail Gorbatschow. Während des Kalten Krieges musste er sich in Ronald Reagan einfühlen, der weiß Gott kein Pazifist war. Doch sie schafften zusammen die größte militärische Abrüstung aller Zeiten. Und das Ende des Kalten Krieges. Das hieß 30 Jahre Frieden – ein Geschenk für die ganze Welt, vor allem für Deutschland. Gorbi war vom Westen enttäuscht, der »nie an einem stabilen und demokratischen Russland interessiert gewesen« sei. 2017 sagte mir Gorbatschow in unserem gemeinsamen Buch »Nie wieder Krieg«: »Der Westen hat sich nach 1990 Russland gegenüber als Sieger aufgespielt.« Gorbi machte nicht die »russische Besatzung der Krim«, sondern »die Überheblichkeit Washingtons« für die Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses verantwortlich. Nach 1990 hatte die NATO 16 Mitglieder. Heute sind es 30 und weitere sollen es werden. Das ist für uns im Westen scheinbar kein Problem: Doch für einen von Angst getriebenen Politiker und Geheimdienst-Mann wie Putin und für Millionen Russen sieht diese NATO-Osterweiterung ganz anders aus. Man muss kein Psychologe sein, um das zu verstehen.
Meine Gegenfrage an westliche Hardliner: Wie würden denn die USA reagieren, wenn Kanada oder Mexiko als direkte Nachbarn zu den Vereinigten Staaten einen Militärpakt mit Russland schlössen? Das haben wir doch 1962 bei der Kuba-Krise gesehen. Die USA wollten um jeden Preis verhindern, dass Russland nahe den USA Atomraketen stationiert. Die Welt geriet an den Rand eines Atomkrieges. Und soeben haben Atomwissenschaftler die »Weltuntergangsuhr« auf »90 Sekunden vor zwölf« gestellt. Noch nie standen wir so nah am atomaren Abgrund. Das hat vor wenigen Wochen auch US-Präsident Biden – ebenfalls ein Realpolitiker – so gesagt.
Helmut Schmidt hat oft daran erinnert, dass »Russland seit Gorbatschow nirgendwo seine Grenzen militärisch erweitert und sich nach außen friedlicher verhalten hat als jemals zuvor in zaristischen oder sowjetischen Zeiten«. Im Kalten Krieg ging Gorbatschow auf den Westen zu. Jetzt müsste der Westen auf Putin mit einem Angebot zugehen.
Auch Helmut Kohl sprach von »großen Versäumnissen seitens des Westens in den vergangenen Jahren«. Kohl: »Die Aufbruchsstimmung in der Ukraine (2014) wurde nicht mehr klug begleitet. Ebenso hat es an Sensibilität im Umgang mit unseren russischen Nachbarn gemangelt, insbesondere mit Präsident Putin.« Ohne den Versuch gegenseitigen Verstehens können Konflikte in aller Regel nicht gelöst werden. Selbstverständlich hat jedes Land das Recht, um Aufnahme in die NATO zu bitten. Aber dabei sollte nie wieder das Sicherheitsinteresse Russlands außer Acht bleiben. Auch für den Westen gilt, aus Fehlern zu lernen. Und es war ein großer Fehler, dass man jene vergessen hat, die sich als Verlierer fühlten. Kohl setzte dem Slogan der Friedensbewegung »Frieden schaffen ohne Waffen« vor 40 Jahren den Slogan entgegen »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen«. Das heißt: Abrüsten statt wie jetzt immer weiter aufrüsten. Nur so könnte heute die ewige Spirale der Gewalt aufgehoben werden. Jeder verhungerte Mensch ist in dieser reichen Welt eine Schande für unsere Menschlichkeit. Wir geben jedes Jahr über 2.000 Milliarden US-Dollar fürs Militär aus. Geld, das dann für die Überwindung von Armut und Elend und bei der Bildung fehlt.
Gibt es eine Chance, mit Putin in Dialog zu kommen? Auch der Weg des Real-Pazifismus beginnt mit kleinen Schritten. Vielleicht könnte es helfen, auf diplomatischem Weg Putin zu signalisieren, dass auch der Westen aus seinen bisherigen Fehlern lernen will. Und Vorschläge unterbreiten für gemeinsame Abrüstung, bei der alle gewinnen würden. Spätestens jetzt im Atomzeitalter macht uns Sicherheit nur dann sicherer, wenn sie wirklich immer auch die Sicherheit der anderen bedeutet. Auch die Sicherheit der Ukraine und die Sicherheit Russlands. Daran müssen doch alle interessiert sein. Wer eine Alternative hat, die das Leid der Ukrainer schneller und effektiver beenden helfen kann, möge sich melden. Dass Frieden auch in schwierigen Zeiten möglich ist, hat der Russe Gorbatschow vorgemacht. Jetzt ist der Westen dran.
Ein Kompromiss-Angebot des Westens an Putin, das er kaum ablehnen kann: sämtliche US-Atomwaffen aus Deutschland abziehen. Das würde die Sicherheit beider Seiten erhöhen. Denn jede Atomwaffe ist eine Gefahr für die ganze Welt. Auch jetzt mitten im Krieg ist es immerhin gelungen, durch Verhandlungen einen Gefangenenaustausch zu organisieren und durch Vermittlung der UNO und des türkischen Präsidenten Erdogan auch das Weizenabkommen.
Den Frieden gewinnen – nicht den Krieg
Der Westen ist in Afghanistan gescheitert, weil er wieder einmal einen Krieg gewinnen wollte. Die altrömische Philosophie »Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten – Si vis pacem, para bellum« kann nur durch eine neue Philosophie »Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten« überwunden werden. Das müssen wir spätestens jetzt im Atomzeitalter lernen. Afghanistan ist nach 20 Jahren Krieg heute ein Friedhof der Großmächte. Was lernen wir daraus? Im Krieg verlieren auch die Sieger.
»Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten«
Die neue Kultur des Friedens heißt: »Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg.« Wie ginge das konkret und praktisch?
»Die neue Kultur des Friedens heißt: »Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg.«
Wir bräuchten in Europa heute viel Geld für Schienen und Schulen, für Klimaschutz und Kitas und für viele Sozialwohnungen, für die Überwindung der Armut und erst recht für die Überwindung der Ungerechtigkeit zwischen Süd und Nord. So wie fast alle anderen Länder auch. Also Geld für zivile Sicherheitspolitik. Ganz in diesem Sinne fordert jetzt die deutsche Umweltbewegung mit »Fridays for Future« von der »lieben Bundesregierung« ein Paket über 100 Milliarden Euro für soziale und ökologische Projekte sowie für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Die Begründung: Eine verantwortungsvolle Regierung müsse nicht nur auf Krisen reagieren, sondern diesen auch vorbeugen.
Für einen realistischen Pazifismus muss man vielleicht manchmal Umwege nehmen wie ein Bergsteiger, der unbedingt zum Gipfel will, aber diesen nur über Umwege erreichen kann. Bergsteiger können in solche Situationen geraten. Der Frieden ist eher ein Weg als ein Ziel. Dennoch gilt, was Eugen Drewermann über den Pazifismus sagt: »Der Pazifismus ist eine ungeheure Kraft, wenn er aus der Sicherheit und Stabilität des Herzens kommt.« Warum? Weil spätestens jetzt im Atomzeitalter der Frieden der einzige Weg in eine gute Zukunft ist. Also: Frieden statt Wettrüsten. Aber wie jetzt konkret und praktisch?
»Weil spätestens jetzt im Atomzeitalter der Frieden der einzige Weg in eine gute Zukunft ist.«
Vielleicht geht es im Augenblick mit Putin tatsächlich nur so, dass wir der Ukraine mit Abwehrwaffen helfen müssen, die Aggression zu beenden, um dann Frieden zu schaffen. Altbundespräsident Joachim Gauck zu Waffenlieferungen an die Ukraine: »Als Christen, als Demokraten, als Menschen, die die Freiheit und das Recht lieben, dürfen wir das. Das Böse existiert. Und es ist kein Zeichen von Toleranz, so zu tun, als wäre das Böse nicht richtig zu erkennen.«
Auch ich weiß, dass Putin beim Thema Krieg und Frieden im Ukraine-Krieg permanent gelogen hat. Michail Gorbatschow bat einmal Bundeskanzlerin Merkel im Berliner Kanzleramt, um des Friedens willen den Kontakt mit Putin unbedingt aufrechtzuerhalten. Merkels Antwort: »Das versuche ich ja, aber er lügt mich ständig an.« Gorbatschows Antwort: »Ich weiß das auch, aber versuchen Sie es trotzdem.«
Putin fühlt sich wie ein verspäteter Zar und so benimmt er sich auch. Hinzu kommen sein Nationalismus und seine Wahnvorstellung vom Heiligen Russland, zu dem auch Georgien, Weißrussland und die Ukraine gehören. Deswegen empfand er 2007 auch das Ende der Sowjetunion als »die größte geopolitische Katastrophe« des 20. Jahrhunderts – für ihn und für viele Russen bis heute eine unvergessliche Demütigung, eine aggressive Gekränktheit. Das macht Versöhnung schwer. Präsident Bill Clinton und erst recht George W. Bush konnten sich in diesen Putin überhaupt nicht hineinversetzen.
Weil Versöhnung so schwer ist, hieß die Antwort auf Auschwitz Hiroshima und die Antwort auf den 11. September: Irak und Afghanistan. Die einzig wirkliche Chance auf eine bessere Zukunft aber heißt: Wege des Friedens suchen und gehen. Und Dialog. Der Frieden ist kein Ziel, er ist ein Weg. Und dieser beginnt mit dem ersten Schritt. Wer diesen ersten Schritt nicht zu gehen bereit ist, kann niemals am Ziel ankommen.
Eine kurze Geschichte der Abrüstung
Dass auch in schwierigen Situationen Abrüstung möglich ist, hat uns vor über 35 Jahren Michail Gorbatschow erfolgreich vorgemacht, ein Realpolitiker mit Visionen. Weil einer den Mut hatte, voranzugehen und in einem Umfeld von Hardlinern auf realisierbare Visionen zu setzen, konnten erstmals in der Menschheitsgeschichte ganze Waffensysteme einfach verschrottet werden. Kontrolliert verschrottet. Es wurde tatsächlich abgerüstet anstatt aufgerüstet. Europa wurde sicherer, die Mauer fiel und die friedliche deutsche Einheit wurde möglich.
Oder: Nach zwei Jahren brutalem Bürgerkrieg mit Millionen Flüchtlingen und Zehntausenden Toten haben sich die äthiopische Zentralregierung und die mit ihr verfeindeten Vertreter der Provinz Tigray zu Gesprächen getroffen, sich als Brüder angeredet und einen Friedensvertrag geschlossen.
Oder ein anderes positives Beispiel: Im Süden Sudans hat Papst Franziskus 2019 nach jahrelangem Bürgerkrieg den Präsidenten und den mit ihm verfeindeten Vizepräsidenten zum Dialog in den Vatikan eingeladen und für ein Ende der Feindschaft und der Kämpfe geworben. Seither arbeiten die beiden Politiker zusammen. Was lernen wir daraus? Frieden ist jetzt auch in der Ukraine noch immer möglich.
Am Ende des Kalten Krieges gab es weltweit über 50.000 Atomsprengköpfe. Dieses Vernichtungspotenzial überstieg 1,6 Millionen Mal die Hiroshima-Bombe. Atomwaffen »erwachsen aus der Geschichte, aber sie drohen, die Geschichte zu beenden. Sie wurden von Menschen geschaffen, aber sie drohen, den Menschen auszulöschen«, so beschrieb der US-Journalist Jonathan Schell unsere Situation Anfang der Achtziger in seinem Bestseller »Das Schicksal der Erde«. Er trug in seinem Buch zusammen, was Biologen und Mediziner, Chemiker und Physiker, Genetiker und Militärs über einen möglichen atomaren Holocaust schon damals zu sagen hatten.
Der frühere deutsche Verteidigungsminister Georg Leber zu Schells Buch: »Der Autor hat in seiner Analyse recht, aber ich sehe keine Alternative zur heutigen Verteidigungspolitik.« Verteidigungspolitik? Eher Vernichtung. Nicht gerade beruhigend, denn Schell beschrieb die Folgen eines atomaren Krieges so: Radioaktiver Staub verseucht die gesamte Oberfläche der Erde – bestimmte Isotope senden Millionen Jahre lang todbringende Strahlen –, die uns vor der Sonne schützende Ozonschicht wird teilweise zerstört und das Klima kühlt weltweit ab. Es kommt zu einem atomaren Winter wie vor 65 Millionen Jahren, als die Dinosaurier ausstarben und mindestens 90 Prozent aller lebenden Arten verschwanden. Die Evolution musste von vorne beginnen. Und zu dieser Politik soll es keine Alternative geben? Was Georg Leber damals schrieb, war eine Bankrotterklärung der Politik durch den deutschen Verteidigungsminister. Der reale Ablauf eines atomaren Holocaust lässt sich kaum beschreiben, wohl aber sein Ende, schrieb ich damals: »Das Nichts.«
Vor 65 Millionen Jahren, als die Dinos verschwanden und mit ihnen fast alles Leben, war ein Meteoriten-Einschlag die Ursache. Heute wäre der Mensch mit seiner Atombombe die Ursache für das Verschwinden fast allen Lebens. In der Nacht, nachdem ich diese Zeilen schrieb, hatte ich diesen Traum: »Ein Atomkrieg war für Mitternacht angekündigt. Alle Menschen waren im Freien, weil sie wussten, dass alle Gebäude einstürzen. Zehn Minuten nach Mitternacht begann die atomare Apokalypse. Die Menschen um mich herum waren in einem Wald und warfen sich zu Boden. Wir drohten zu ersticken, als eine riesige schwarze Wolke alle überrollte und alles verfinsterte. Wir hielten uns den Mund zu und atmeten durch die Nase in der Hoffnung, weniger verseuchte Luft einzuatmen.«
Wir spielen im Atomzeitalter so etwas wie Schöpfung rückwärts. Allein zwischen den Jahren 1970 und 1982 wurden die US-Streitkräfte dreimal in atomaren Alarmzustand versetzt: zweimal weil ein Chip im computergesteuerten Warnsystem nicht funktionierte und einmal weil das Testband, das einen Raketenangriff simulierte, unbemerkt in das System geraten war. Menschliche und technische Fehler können deshalb verheerende Folgen haben, weil jede Seite Angst vor dem Erstschlag der anderen Seite hat. Bei technischem Versagen ist die Gefahr groß, dass kurzentschlossen der Erstschlag angeordnet wird. Am Beginn der Achtziger hingen in US-Reisebüros Plakate mit der Aufschrift: »Besucht Europa, solange es Europa noch gibt.« Dass es Europa heute noch gibt, ist reine Glückssache.
Friedensnobelpreis für Stanislaw Petrow!
Michail Gorbatschow hat 1990 den Friedensnobelpreis erhalten. Ein zweiter Russe, der diesen Preis verdient, ihn aber bis jetzt nicht bekommen hat, ist Stanislaw Petrow, der in der Nacht zum 26. September 1983 wahrscheinlich die Welt vor einem Atomkrieg rettete. Der frühere Oberst der Sowjetarmee saß in jener Nacht an seinem Arbeitsplatz in der Nähe Moskaus. Seine Aufgabe war die Satelliten-Überwachung des Luftraums und die Beobachtung der US-Atomwaffen-Arsenale. Er sollte melden, wenn US-Atomraketen in Richtung Sowjetunion fliegen, und dann den Gegenschlag starten. Dieses Horrorszenario war damals so realistisch wie heute.
Am 26. September 1983 um 0.15 Uhr meldeten Petrows Computer: Fünf US-Atomraketen mit jeweils der zehnfachen Hiroshima-Sprengkraft fliegen auf die Sowjetunion zu und treffen das Land in 25 Minuten. Technisch-rational gemäß seinen Befehlen hätte Petrow den Gegenschlag auslösen müssen. Doch seine Intuition sagte ihm: »Da stimmt etwas nicht«, erzählt er 15 Jahre später einem Fernsehteam des Magazins »Galileo«. Nur Petrows Misstrauen gegenüber der Computertechnik hat uns vor dem Dritten Weltkrieg, einem Krieg mit Atombomben, gerettet. Bis zu seinem Tod, am 19. Mai 2017, warnte er vor der Gefahr eines Atomkrieges. Ein Atomkrieg würde die Menschheit auslöschen. Gegen diesen Wahnsinn protestierten in den Achtzigern weltweit Millionen Menschen auf den Straßen. Auch ich. Uns wurde damals oft vorgeworfen, wir seien realitätsfern, Demonstrationen seien unangemessen. Diese Vorwürfe fand ich immer realitätsfern und unangemessen. Ich war damals noch CDU-Mitglied und wurde als Kommunist beschimpft.
1986 legte Michail Gorbatschow einen Plan zur Abschaffung aller Atomwaffen vor. Auch Ronald Reagan suchte nach einer Möglichkeit »eines gegenseitigen gesicherten Überlebens«. Gorbatschow sagte: »Man darf nicht stehen bleiben. Man muss bis zum Ende gehen und alle Atomwaffen abschaffen, so wie Reagan und ich es beschlossen haben.« Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten die USA und die Sowjetunion in Washington das INF-Abkommen (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zur Abschaffung aller atomaren Mittelstreckenraketen. Dieses Abkommen galt als Meilenstein zur Beendigung des Kalten Krieges.
Der Kommunist in Moskau und der Konservative in Washington erkannten, dass ein Atomkrieg nur Verlierer übrig ließe. Der INF-Vertrag war der größte Abrüstungsvertrag der Geschichte. Ganze Waffengattungen wurden komplett verschrottet. Dieser INF-Vertrag bewirkte, dass alle atomaren Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 2.500 Kilometern vernichtet wurden. Diese Abrüstung führte zu mehr Sicherheit und zu völlig neuen Chancen für eine bis dahin kaum für möglich gehaltene Entspannungspolitik und zur friedlichen deutschen Wiedervereinigung sowie zu einer demokratischen Entwicklung in ganz Mittel- und Osteuropa. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher bezeichnete jenen Dezembertag 1987, an dem der INF-Vertrag unterzeichnet wurde, als »Tag tiefer Befriedigung«. Ich erinnere mich noch heute, dass Genscher damals sagte: »So wie jedem von uns Entspannung guttut, so tut auch der Politik Entspannung gut.«
Doch im Dezember 2019 haben die USA das bedeutendste Abrüstungsabkommen der Geschichte, eben diesen INF-Vertrag, aufgekündigt, nachdem sie Russland Vertragsbruch vorgeworfen hatten. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sagte, dass die Welt mit dem Auslaufen des INF-Vertrags einen »unschätzbaren Mechanismus zur Verhinderung eines Atomkriegs« verliere. Und nun bauen beide Länder wieder ohne jede Beschränkung atomare Mittelstreckenraketen auf. Gorbatschow sah zu Recht sein Lebenswerk zerstört. Es begann zum zweiten Mal nach 1945 ein neues atomares Wettrüsten.
Keine Maus baut eine Mausefalle
Keine Tierart hat jemals mit einer anderen Art beschlossen, sich gegenseitig auszurotten. Keine Maus hat je beschlossen, Mausefallen zu bauen. Aber ausgerechnet der sogenannte Homo sapiens beschließt zum zweiten Mal, sich notfalls gegenseitig zu vernichten. Die These für einen möglichen Atomkrieg heißt wieder: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. In Reykjavik hatten die beiden mächtigsten Politiker der Welt beim persönlichen Gespräch erkannt, welch eine Wahnsinnspolitik sie vorbereiteten. Und sie beschlossen, umzukehren. Gorbatschow erinnerte sich später: »Die Raketen, die wir gegenseitig auf uns gerichtet hatten, waren mit einer Vorwarnzeit von unter sechs Minuten für den nuklearen Erstschlag geeignet. Es war, als würde man uns eine Pistole an den Kopf halten.«
Und wie sieht es heute aus, nachdem der alte Wahnsinn des atomaren Wettrüstens gerade wieder von vorne begonnen hat? Kein Gorbatschow weit und breit. Aber schon wieder ein Denken in der alten Kriegslogik. Steigende Rüstungsetats überall. Waren wir nur kurzfristig lernfähig? Haben wir wirklich keine anderen Sorgen, als schon wieder aufzurüsten? Wir sehen zwar den Splitter im Auge des anderen, aber den Balken im eigenen Auge wollen wir nicht sehen. So würde der Bergprediger wohl unsere heutige Lage beschreiben. Unter US-Präsident Trump und Russlands Präsident Putin begann ein neues atomares Wettrüsten. Wie lange noch kann dieses atomare Glücksspiel gut gehen? Die Gefahr eines Atomkrieges könnte in den nächsten Jahren noch größer werden. Denn jetzt mischen auch China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel mit Atombomben und Atomraketen noch zusätzlich mit. Ein neues Wettrüsten hat begonnen. Sogar selbstständig agierende Killerautomaten werden erprobt.
Es gibt immer Alternativen
Was wäre ein Atomkrieg, fragte ich einst den Fachmann Gorbatschow. Seine Antwort: »Ein Atomkrieg wäre wahrscheinlich der letzte Krieg der Menschheitsgeschichte, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten. Lasst uns diesen Wahnsinn endlich und endgültig stoppen.« Darüber schrieben wir 2017 das gemeinsame Buch: »Nie wieder Krieg – kommt endlich zur Vernunft!«
Während ich diese Zeilen schreibe, kann ich nicht mehr sicher sein, dass sie auch noch gedruckt werden können. Und wenn sie noch gedruckt werden, ist es nicht sicher, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, sie auch noch werden lesen können. Wir leben, als wüssten wir nichts von der größten Gefahr, die uns droht. Doch kann eine Gesellschaft als psychisch gesund gelten, die vor ihrer möglichen Vernichtung die Augen verschließt?
Politiker wollen uns die Angst vor einem Atomkrieg ausreden. Angst sei kein guter Ratgeber, hören wir ständig. Richtig ist, dass wir verrückt werden müssten, wenn wir uns jeden Augenblick an die Gefahr erinnerten. Entscheidend ist aber, ob wir Grund haben, uns zu ängstigen. Unbegründete Angst macht krank. Begründete Angst ist heilsam. Die Angst vor dem Atomkrieg ist begründet. Sie ist deshalb der beste Ratgeber für die Zukunft. Nur das Wahrnehmen dieser begründeten Angst wird uns die Augen öffnen, um gegen den ganz normalen Wahnsinn aktiv werden und ankämpfen zu können. Sonst rasen wir weiter wie blind auf den Abgrund zu. Wer abrüstet, nimmt Angst. Wer aufrüstet, macht Angst.
Mit dem Zünden der Hiroshima- und Nagasaki-Bomben hat die Menschheit bereits ihre atomare Unschuld verloren. Sage niemand, dass sich so etwas nicht wiederholen könnte. Wir haben heute um die 10.000 Megatonnen nukleare Explosionskraft. Eigentlich müssten wir Bescheid wissen. Diese Zerstörungskapazität ist etwa eine Million Mal stärker als die Hiroshima-Bombe. Die Bürgermeister von Hiroshima, Nagasaki und Fukushima hatten mich zu Vorträgen eingeladen. Mein Thema hieß »Vom Atomzeitalter ins Solarzeitalter«.
Das ist das neue Zeitalter, das wir jetzt ansteuern müssen. Die Sonne schickt uns 15.000-mal mehr Energie, als wir acht Milliarden Menschen heute verbrauchen. Die Natur hat alles für uns bereit, was wir an Energie benötigen. Die Lösung steht am Himmel – kostenlos, umweltfreundlich und für alle unsere Zeit. Hinzu kommen fünf weitere erneuerbare Energiequellen. Vier davon sind speicherbar. Es gibt kein einziges Land der Welt, das sich nicht selbst komplett mit erneuerbarer Energie versorgen könnte. Eine der wichtigsten Lehren für Deutschland aus dem Ukraine-Krieg: Wir dürfen uns energiepolitisch nie wieder von einem Land so abhängig machen wie bisher vom russischen Gas und Öl – auch nicht von chinesischen Solaranlagen. Eine unserer entscheidenden Zukunftsfragen heißt: Kriege um Öl und Gas oder Frieden durch die Sonne? Energetische Unabhängigkeit ist die Basis des Friedens für morgen. Alle Probleme, die Menschen geschaffen haben, sind auch von Menschen lösbar. Kriege und Umweltzerstörung haben Menschen geschaffen, also können wir sie auch lösen.
Meine Gorbatschow-Story
Meine Geschichte mit Michail Gorbatschow begann Mitte der Achtziger. Ich hatte das Buch »Frieden ist möglich – Die Politik der Bergpredigt« publiziert. Auch das war alles andere als eine Friedenszeit. Die Welt stand damals schon am atomaren Abgrund. Doch nach dem Erscheinen dieses Buches traf ich am Starnberger See einen russischen General, der Sicherheitsberater von Gorbatschow im Kreml war. Er sagte mir: »Mein Chef Gorbatschow ließ sich ihr Buch auf Russisch übersetzen. Wir werden in der Sowjetunion jetzt eine Politik im Geiste der Bergpredigt machen und einfach mit dem Wettrüsten aufhören, weil es keinen Sinn mehr macht und gefährlich ist. Wir machen jetzt etwas ganz Furchtbares: Wir nehmen euch im Westen euer Feindbild.«
Das war tatsächlich mein Vorschlag in meinem Bergpredigt-Buch 1983: Einer muss anfangen, aufzuhören mit der ewigen militärischen Nachrüsterei. Wenn es der Osten nicht tut, dann muss es der Westen tun, und wenn es der Westen nicht tut, dann muss es der Osten tun. Entscheidend sind nicht fromme Sprüche, sondern einzig das Tun. Das scheint mir auch heute die wichtigste Intelligenz-Prüfung der Menschheit zu sein. Wenn wir diese Prüfung nicht bestehen, dann gibt es keine weiteren Prüfungen mehr. Aber einer muss halt anfangen. Feindesliebe heißt nicht: Lass dir alles bieten, sondern ganz realistisch »Mach den ersten Schritt auf den anderen zu.« Tatsächlich wurde »Gorbi« der größte Abrüster aller Zeiten, er hat damit den Weg zur friedlichen deutschen Einheit geebnet, den Kalten Krieg beendet und die Welt positiv verändert. Er hatte den Kern der Bergpredigt begriffen. 80 Prozent aller Atomwaffen wurden verschrottet. Die Hauptgefahr eines Atomkriegs war beseitigt.
Wie war das möglich, wollte ich später von ihm wissen. »Nur durch Vertrauen, das ich zum damaligen US-Präsidenten Reagan aufbauen konnte«, war seine Antwort. Vor über 30 Jahren wurde der kommunistische Warschauer Militärpakt aufgelöst. Welch eine Chance, damals auch die NATO aufzulösen und den Kalten Krieg wirklich zu beenden! Doch dazu fehlten im Westen der Mut und die Fantasie. Und die USA waren schon gar nicht dazu bereit. Sie wollten die einzig verbleibende Großmacht sein. Noch immer gilt: »Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten.« Im September 2022 ist Michail Gorbatschow gestorben.
»Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.«
Er war der Sohn eines russischen Vaters und einer ukrainischen Mutter. Auch seine Frau Raissa war Ukrainerin. Er nannte sie oft liebevoll »meine Ukrainerin«. Solche Familienbande zwischen Russen und Ukrainern sind zahlreich in beiden Nachbarländern. Auch das macht den aktuellen Ukraine-Krieg unbegreiflich und absolut sinnlos – wie jeden Krieg. Dass dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg von der russisch-orthodoxen Kirche und ihrem Patriarchen Kyrill als »Heiliger Krieg« und »Metaphysischer Krieg« unterstützt wird, ist ein Schandfleck für das gesamte Christentum. Im Talmud heißt es: »Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.« Dieses Zitat ist definitiv ein Friedensgebot. Der Friedensgruß der Muslime heißt: »Assalamu alaikum – Friede sei mit euch.« Denselben Gruß hören wir am Schluss jeder heiligen Messe. »Das Werk der Gerechtigkeit wird Frieden sein und der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer«, wusste der Prophet Jesaja (Jes32, 17).
Dr. Franz Alt, geboren 1938, Journalist und Buchautor, seit 1968 beim SWR, wo er 20 Jahre das Politmagazin »Report Baden-Baden« moderierte. Seit 1992 Leitung der Sendereihe »Zeitsprung« im SWR und seit 1997 des Magazins »Querdenker« in 3sat. Franz Alt ist der am meisten ausgezeichnete deutsche Fernsehjournalist: Goldene Kamera, Bambi, Adolf-Grimme-Preis, Siebenpfeiffer-Preis, Ludwig-Thoma-Medaille, Deutscher und Europäischer Solarpreis, Welt-Windpreis, Menschenrechtspreise, Goldenes Löwenherz, Umweltpreis der Deutschen Wirtschaft, Außergewöhnlichster Redner des Jahres u. v. a.
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