Ein weibliches Mehrgenerationengespräch
In Anbetracht vielfältiger sozialer und ökologischer Krisen und Herausforderungen werden die Rufe nach weiblichen Qualitäten und Werten in einer männerdominierten Gesellschaft immer lauter. Doch was sind diese weiblichen Qualitäten und inwiefern unterscheiden sie sich von den männlichen? Gemeinsam mit den Autorinnen Eva-Maria Zander und Nora Hansing tauchten wir in die Sphären des Weiblichen ab, um uns selbst und den Lesenden mögliche Anstöße zu liefern.
Tattva Viveka: Liebe Nora, liebe Eva-Maria. Bevor ich die erste inhaltliche Frage stelle, möchte ich euch darum bitten, euch kurz unseren LeserInnen vorzustellen und zu erläutern, wieso ihr euch für ein gemeinsames Wirken entschieden habt.
Eva-Maria Zander: Schon als Kind fragte ich mich, ob die Menschen hier auf der Erde glücklich sind, wobei ich wahrnahm, dass sie es nicht sind. Selbst habe ich mir diese Frage nicht gestellt, doch ich hätte sicher festgestellt, dass ich sehr unglücklich bin. Aber damals als Kind habe ich meinen Anker weit ausgeworfen und mich der Suche nach Freiheit und Glück verschworen. An diesem Ankerseil habe ich mich mein Leben lang entlanggehangelt. Immer dann, wenn meine Freiheit eingeschränkt wurde, befreite ich mich wieder daraus. Es war ein Leben voller Abschiede und Neuanfänge. Beruflich widmete ich mich der Arbeit mit Kindern, die nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Im Anschluss daran führte mich meine Intuition dazu, ein Buch zu schreiben. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre dies nicht möglich gewesen, denn ich musste das alles erst selbst erfahren. Auf dem Autorentreffen des Verlags »Neue Erde« lernte ich Nora persönlich kennen. Ich war sehr gespannt auf diese junge Autorin, da ich das Interview mit großem Interesse verfolgt hatte, das hier in der Tattva Viveka Nr. 89 erschienen ist. Kaum setzte sie den Fuß in die Tür, überfiel ich sie sogleich mit der Frage, ob sie Nora sei, und ich sagte ihr, dass ich mich sehr auf sie gefreut hätte. So kam es mit uns beiden zustande.
Nora Hansing: Ich bin Nora Philine, und ich spüre zeit meines Lebens, dass wir hier und jetzt auf der Erde eine Phase der grundlegenden Transformation durchleben. Diese Transformation bedeutet mehr als äußere Veränderung. Sie geschieht vielmehr in unserem Inneren. Ich bin immer weiter in die Erkenntnis hineingewachsen, dass es darum geht, dass wir uns als Seelen und als geistige Wesen wiedererkennen, um die Welt durch die Heilung unseres eigenen Inneren in die Heilung des gesamten Planeten zu überführen. Aus dieser Erkenntnis heraus ist mein Buch »Zeitenwende. Dimensionen des Umbruchs« entstanden, das Anfang des Jahres 2022 beim Verlag »Neue Erde« erschienen ist. Auf dem Autorentreffen dieses Verlages begegneten Eva-Maria und ich uns zum ersten Mal persönlich, und wir stellten schnell fest, dass wir einander auf eine Weise verstehen, die einzigartig ist. Wir brauchen uns gegenseitig nicht viel zu erklären, um zu wissen, was die andere meint, weil wir beide von unterschiedlichen Positionen aus einem Bewusstsein des Im-Selbst-verankerten-Seins sprechen. So erkannten wir, dass ein großes Potenzial darin liegen könnte, unsere Stimmen gemeinsam zu erheben und gemeinsam über die Themen zu sprechen, die wesentlich für die jetzige Zeit sind.
TV: Was versteht ihr jeweils unter »Weiblichkeit«?
Nora: Die Weiblichkeit beziehungsweise die weibliche Energie ist eines der Grundprinzipien hier auf der Erde. Dementsprechend ist sie eine grundlegende Kraft für alles Leben, und auch ich erfahre die Weiblichkeit als die grundlegende Kraft. Wir erleben hier sowohl den weiblichen als auch den männlichen Pol, doch ich nehme die Weiblichkeit als diese Kraft wahr, die die beiden Pole in sich halten kann, die die Heimat dieser beiden Pole und die Schöpferquelle ist. Die Weiblichkeit ist meine Verbindung mit dem puren Sein, mit der Yin-Energie, wie man sie auch bezeichnet: mit meiner Ruhe und meinem Vertrauen in das pure Sein, das jeder Bewegung zugrunde liegt. Keine Bewegung kann sein, wenn ich sie nicht zuvor aus diesem Bewusstsein des einfach vertrauensvollen Seins geschöpft habe, und das ist Weiblichkeit vor allem für mich. Diese Abstimmung, diese Verortung in dem großen universellen Raum und dadurch entsteht Schöpfung.
»Die Weiblichkeit erfahre ich als schöpferisches Prinzip.«
Die Weiblichkeit erfahre ich als schöpferisches Prinzip, und es zeigt sich uns dadurch, dass das Weibliche das Leben gebärende Prinzip ist und jenes, das wir mit der Erde und der Fruchtbarkeit verbinden. Für mich ist die Weiblichkeit die Lehrmeisterin, die Kraft des puren Seins, die sich mit der Schöpfungsenergie verbindet und immer wieder neues Leben in die Welt bringt. Hingabe ist dabei ein großer Schlüssel. Die Weiblichkeit hängt in meinen Augen ebenfalls mit dem Prinzip der Hingabe zusammen. Der Hingabe an dieses große universelle Sein, in dem wir alle gehalten sind, und der Hingabe an diese Urkraft in mir, die immer wieder neues Leben schaffen kann.
Eva-Maria: Für mich ist Weiblichkeit der Türöffner zu unserem wahren Sein. Sie wird durch eine Frau ausgedrückt, die das Weibliche, das Urweibliche lebt, diese immense Kraft der Liebe. Diese Frau ruht in sich, sie weiß, dass es im Außen nichts zu erringen gibt. Sie ist weder von Bestätigung abhängig noch fürchtet sie Ablehnung. Sie verkörpert die universelle Schöpfungsenergie und strahlt die Schönheit und Macht der Liebe aus. Als Fels in der Brandung einer sich fortwährend verändernden Welt bleibt sie flexibel und spontan. Diese Frau, die zu sich selbst nach Hause gekommen ist, hat in sich das weibliche und das männliche Prinzip vereint. Sie ist in der Lage, den Raum zu halten, in dem der trennungsgeprägte Verstand zur Ruhe kommt. Auf diese Weise findet das männliche Prinzip durch eine andere Person zurück zur Anbindung an die eigene Seele, sofern sie sich dafür öffnet. Es ist eine Frau, die sich mit allem verbunden fühlt und ihre Sicherheit aus ihrem eigenen inneren Selbst zieht. Mit ihrem Herzen hat sie dieses Selbst aufgespürt und ist in Anbindung an ihre Seele eins mit unserem Urgrund. Sie fühlt die Einheit allen Seins und damit die Liebeskraft, Freiheit und Weisheit der Quelle von allem, was ist, der sie sich bedingungslos hingibt. Sie schöpft aus diesem Einheitsbewusstsein.
TV: Wieso spielt das Weibliche jetzt und in Zukunft eine größere Rolle?
Nora: Für mich liegt es deutlich daran, dass die Weiblichkeit, die weibliche Kraft uns wieder mit dem Leben selbst verbindet und das Tor ist, durch das wir gehen können, um uns mit unserer Seele zu verbinden.
»Die Weiblichkeit als Prinzip, in dem die ganze Schöpfung angelegt ist, verbindet uns mit unserem Ur-Potenzial.«
Denn die Weiblichkeit als Prinzip, in dem die ganze Schöpfung angelegt ist, verbindet uns mit unserem Ur-Potenzial. Ich sehe, dass es in der gegenwärtigen Zeit vor allem darum geht, dass wir uns individuell und demzufolge auch kollektiv wieder neu selbst ermächtigen, um eine neue Welt zu gestalten.
»Die Heilung unserer Beziehung zur Erde und zur natürlichen Welt ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit.«
Die Heilung unserer Beziehung zur Erde und zur natürlichen Welt ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit, und sie ist eng mit der Heilung unserer Beziehung zur weiblichen Kraft verbunden.
»Die Erde ist die planetare Verkörperung der weiblichen Energie.«
Die Erde ist die planetare Verkörperung der weiblichen Energie. Die Selbstermächtigung im Heilungsprozess kann nur geschehen, wenn sich jede und jeder Einzelne von uns wieder mit diesem größeren Potenzial verbindet, mit diesem Samenkorn, das in uns allen angelegt ist, sowie mit der Ruhe der Weiblichkeit: Ruhe im Sinne von Urvertrauen. In dem Urvertrauen, das ich in mir finden und halten kann, finde ich den Zugang zu meiner Seele und den Mut, die Impulse, die aus meiner Seele erwachsen, in die Welt zu tragen. Darum geht es vor allem: mein schöpferisches Tun aus dem Raum der seelischen Empfindung zu schöpfen, in Harmonie mit den universellen Prinzipien. Die Weiblichkeit ist für mich die Rückverbindung mit der Kraft des Universums, mit dem Vertrauen, dass alles an seinem richtigen Platz ist, mit der Gewissheit, dass auch ich hier bin, um aus meinem seelischen inneren Wissen zu schöpfen und Neues in die Welt zu gebären.

Eva-Maria: Das schöne Ur-Weibliche führt seit Tausenden von Jahren einen Dornröschenschlaf, denn die patriarchalen Strukturen haben es hier auf der Erde nahezu ausgelöscht. Die Yang-Energie hat auch die Waagschale des Yin besetzt. Deshalb ist es nun höchste Zeit, die weibliche Energie zum Ausdruck zu bringen. Denn so, wie wir das Weibliche über einen langen Zeitraum behandelt haben, so haben wir auch die Erde behandelt, die dieses Prinzip verkörpert.
Wir haben uns als Menschheit an einen Punkt gebracht, an dem wir uns vollkommen mit unserem Verstandes-Selbst identifizieren, das auch Ego-Persönlichkeit genannt wird. Wir fühlen uns in unserer Haut nicht wohl, wissen aber in der Regel nicht, was uns fehlt. Das Weibliche hat jetzt die Aufgabe, diesem trennungs- und angstgeprägten Verstand ein Stopp entgegenzusetzen und einen Richtungswechsel einzuleiten. Nur wer im eigenen Inneren seinen Wesenskern aufspürt, diesen Juwel in jedem Menschen, ist sich wieder der eigenen Schöpferkraft bewusst. Gehen wir diese Aufgabe nicht an, dann lassen wir uns fremdbestimmen und suchen eine Scheinsicherheit im Außen. Die Sicherheit, die wir über unser Seelen-Selbst erlangen, ist vom Verstand weder nachzuvollziehen noch zu erreichen.
»Nur über das weibliche Fühlen gelangen wir zu unserem tiefen Urvertrauen zurück. «
Nur über das weibliche Fühlen gelangen wir zu unserem tiefen Urvertrauen zurück, entwickeln ein natürliches Unterscheidungsvermögen und sind nicht mehr manipulierbar. Leider liegen über dem inneren Selbst viele Schichten, die dieses Juwel verdunkeln.
Viele Frauen haben sich bereits auf den Weg gemacht, ihre Urweiblichkeit wieder zum Leben zu erwecken. Aber oftmals fehlt es an Mut, die Erfahrungen in die Tat umzusetzen. Die Unterdrückung des weiblichen Prinzips in Frau und Mann führte dazu, dass sich das Weibliche in der Opferrolle befindet und das Männliche in der Täterschaft. Wohlgemerkt in jedem von uns. Es gilt, diese alten, übernommenen Muster und Prägungen aufzudecken und eine Versöhnung im eigenen Inneren herbeizuführen. Oftmals hängen an unseren Abwehrmechanismen noch alte Verletzungen und Traumata, und wir fürchten diese Gefühle. Der Heilungsprozess findet durch das Anschauen, Fühlen, Annehmen und Vergeben der durchlebten Situationen statt. Dafür brauchen wir gegenseitiges Verständnis und Mitgefühl, Ressourcen des Weiblichen. Der Mann ist aufgerufen, das Weibliche in sich wahrzunehmen, zu fühlen und zu schützen und diesen Schutz auch den Frauen zukommen zu lassen. Dann können die Frauen ihrer Aufgabe nachkommen, dem Männlichen wieder die Anbindung an die Seele zu ermöglichen. Die Identifikation mit unserer Seele und die Hingabe an unsere Intuition lässt uns wieder spüren, dass wir liebevolle, freundliche und zugewandte Wesen sind, die zum Wohle des Ganzen wirken wollen, ein Gegeneinander ist uns dann unmöglich. Auf diesem Weg entwickeln Frauen ein Bewusstsein für ihre innere Kraft und Männer ihren Zugang zu Liebe und Mitgefühl.
Alice aus der Tattva Viveka Redaktion: Stefanie, wie würdest du die Frage, die du soeben gestellt hast, selbst beantworten?
Stefanie aus der Tattva-Redaktion: Es sollte immer ein Gleichgewicht zwischen den Yin- und Yang-Energien herrschen, und im Moment ist der männliche Pol dominierend. Aus diesem Grund muss der weibliche Pol stärker werden, um die Harmonie wiederherzustellen.
TV: Ich habe eine Frage an Eva-Maria. Ich las auf deiner Homepage: »Jeder Mensch ist zur Hälfte männlich und zur Hälfte weiblich.« Wie können wir den Gegenpol – die Frauen den männlichen Pol, die Männer den weiblichen Pol – stärken?
Eva-Maria: Wenn wir uns verlieben, zieht uns eine Eigenschaft des anderen an, die wir selbst gerne leben würden und die deshalb attraktiv auf uns wirkt. So könnte die Partnerschaft dazu dienen, sich diesen ungelebten Teil bewusst zu machen, um diesen Schritt für Schritt auch selbst zum Ausdruck zu bringen. Das, was der eine an einem Zuviel lebt, nimmt der andere und umgekehrt. Wir verlassen uns auf den anderen und wünschen uns, dass der andere diesen Part übernimmt. Unterdrückte Gefühle werden uns im Verhalten des anderen gespiegelt, und damit wollen wir nichts zu tun haben, denn daran knüpfen sich Verletzungen und Traumata, in der Regel aus unserer Kindheit. Um uns zu schützen, sind wir damals in eine Trotzhaltung verfallen und haben mit gekränktem Rückzug oder Wut reagiert, manchmal waren wir auch starr vor Schreck. Doch uns ist nicht bewusst, dass wir mit dieser Unterdrückung auch den Zugang zu unserem wunderbaren Potenzial unterbinden.
Wenn beide Partner auf dem Weg zu sich selbst sind, dann suchen sie keinen Schuldigen mehr im Außen. Der eine hält den Raum für den anderen, ohne ihn zurückzuweisen. So erfährt diese Person die Annahme, das Gesehen- und Gehört-Werden, was sie in der Kindheit so schmerzlich vermisst hat. Dieser Prozess ist überaus heilsam, trotzdem kann der andere die Problematik nicht lösen. Die Aufarbeitung alter Prägungen und Muster, auch aus den kollektiven Erfahrungen, braucht jemanden, der diesen Weg bereits gegangen ist und die Prozesse in die Versöhnung und Vergebung führt. Die Partner können sich auf diesem Weg unterstützen und eine große Hilfe sein. Auf dem Weg der Aufarbeitung alter Themen, die uns der andere spiegelt oder die durch Krankheiten und Unfälle auf sich aufmerksam machen, werden die Schichten um das eigene Seelen-Selbst abgetragen. Wir erfahren, wer wir wirklich sind, woher wir kommen, wohin wir gehen, und wir verlieren die Angst. Nur wer seine eigenen Schattenseiten kennt, kann sich selbst mit der Liebe und dem Mitgefühl versorgen, wenn dieser Schattenanteil, der ein Kindesanteil in uns ist, wieder in Resonanz mit einer Situation gehen will.

Irgendwann ist dieses Spiel zu Ende, wir hören in unserem Inneren nur noch eine Stimme, diese leise, weise Stimme des Herzens, und wir lassen uns von unserer Intuition führen. Das geht mit einem tiefen Glücksempfinden einher. Wir erfahren nach und nach, was wir uns als Seele in diesem Leben vorgenommen haben, und bringen das zum Ausdruck. Dafür ist es notwendig, für sich selbst die verbindliche Entscheidung zu treffen, die ungelebten Eigenschaften ans Licht zu holen und den Mut zur Individualität, zum authentischen Sein zu leben. Hilfreich ist die Frage: Warum geschieht gerade mir dieses Geschehen in diesem Moment? Letztlich geht es darum, dass die Frauen selbstbewusst zu ihren Gefühlsqualitäten stehen und die Männer Mitgefühl und Liebe entwickeln. Dafür müssen sie sich das Fühlen erlauben, was den Männern schwerfällt, und die Frauen sind aufgerufen, Mut, Tatkraft und Durchsetzungsvermögen zu aktivieren – aber alles nicht in einem Gegeneinander, sondern im Bewusstsein, der andere bin ich. Zurzeit sind viele Frauen auf der Erde, die sehr in ihrer männlichen Kraft sind, und viele Männer, die ihren weiblichen Qualitäten näherstehen. Beide sind gleichermaßen dazu aufgerufen, die Qualitäten in ihrer ursprünglichen Form zu leben, denn unterdrückt und abgespalten treten sie in destruktiver Form zutage. Die Aufgabe ist, das weibliche und das männliche Prinzip in uns zu versöhnen, sodass wir in Frieden mit uns selbst sind. Es ist meine Vision, dass wir diesen inneren Frieden intuitiv leben, und das bringe ich in meinem Buch zum Ausdruck.
TV: Du sagtest, dass Frauen vielfach männliche Qualitäten wie den Mut und das Grenzen-Setzen benötigen. Manchmal ist ein gewisses Unterscheidungsvermögen nötig, um zu wissen, wann welche Qualität gebraucht wird. Wann ist es ein Trigger und wann sollte man auf mitfühlende Weise eine Grenze setzen sowie den Mut aufbringen, zu sagen, dass es einem zu weit ging? Viele Frauen tendieren häufig aufgrund ihrer Erziehung und gesellschaftlicher Sozialisation dazu, sich zurückzunehmen und den Fehler bei sich selbst zu suchen, anstatt der anderen Person auch ihre eigene Subjektivität und eigenen Verhaltensmuster zuzusprechen.
Eva-Maria: Ja, das ist richtig. Dann ist es wichtig, zu kommunizieren, was wir gerade spüren. Wir können zum Ausdruck bringen, dass es einem zu viel wird, zum Beispiel: Du hast eine Seite in mir berührt, die etwas Tiefes auslöst. Du bist nicht die Ursache für diese Gefühle, du hast aber etwas in mir in Resonanz gebracht. Es weist mich darauf hin, dass es für mich etwas zu lösen gibt. Wenn uns das nicht in dem Moment gelingt, da wir doch in eine Abwehrhaltung fallen und uns in ein Gegeneinander ziehen lassen, dann können wir es später klären. Zunächst gilt es, in die Ruhe und das Mitgefühl für sich selbst zu kommen und sich nicht vom eigenen Verstand noch zusätzlich kleinmachen zu lassen. Der andere ist immer der Spiegel. Wir werden geübter darin, Ruhe und Mitgefühl hervorzubringen, und lösen uns nach und nach von der Identifikation mit dem Verstand. Das ist der Weg, auf dem wir die Dualität hinter uns lassen, abkürzen können wir ihn nicht. Wenn jemand in Wut ist, doch wir gehen mit dieser Wut nicht mehr in Resonanz, das heißt, sie triggert in uns nichts mehr, dann nehmen wir den anderen mit seiner Situation wahr und können den Raum halten. Wenn uns der Aufruhr zu viel wird, können wir das zudem kommunizieren und ein anderes Mal weitersprechen, je nach Situation.
TV: Das Thema Weiblichkeit-Männlichkeit, Mann-Frau beziehungsweise Geschlecht und Gender wird aktuell stärker diskutiert als beispielweise vor zehn Jahren. Was ist dein Eindruck von der Genderdebatte, Nora? Diese wird zwar nicht auf einer spirituellen Ebene geführt, aber man versucht dennoch, die geschlechtlichen Konventionen aufzubrechen und eine weitere, non-binäre Perspektive einzuführen, die anerkennt, dass man unabhängig vom biologischen Geschlecht sowohl weibliche als auch männliche Qualitäten in sich trägt.
Nora: In den äußeren Bewegungen und Debatten, die diese großen Kräfte der Weiblichkeit und Männlichkeit berühren, beobachte ich, dass sie sich nahezu ausschließlich auf äußere und strukturelle Ebenen beziehen. Ich kann nichts anderes sagen, als dass insbesondere in der Genderdebatte unbewusst versucht wird, über äußere Scheinausgleiche den Verlust einer heilen Beziehung zu den geschlechtlichen und übergeschlechtlichen, das heißt universell neutralen Prinzipien zu kompensieren. Die Unterdrückung der Weiblichkeit jedoch ist ein über Jahrtausende gewachsener Prozess, ein kollektives Trauma. Dies können wir nicht durch ein Sternchen lösen. Diese Lösung kann nur durch inneres Ansehen, innere Arbeit geschehen, und zwar durch die Entwicklung allumfassender Achtung und Verbindung mit der ewigen Einheit aller Prinzipien in uns. Es geht darum, zu erkennen, dass nicht die äußere Form, die wir wählen, das Entscheidende ist, sondern die innere Haltung, die wir nach außen tragen.
Des Weiteren habe ich den Eindruck, dass wir erst am Anfang dessen stehen, diese Prinzipien aus einer spirituellen Perspektive zu begreifen. Gleichzeitig sehe ich, dass dieses spirituelle Begreifen die Grundlage dafür ist, dass wir Heilung finden können. Gerade in den feministischen Bewegungen empfange ich noch viele Energien des Kampfes und des Gegen-etwas-Seins, und gleichzeitig ist die Rückverbindung zum Weiblichen im eigenen Inneren nicht spürbar. Wenn ich mich aber mit dieser weiblichen Kraft in meinem Inneren verbinde und mir klar wird, was sie bedeutet, dann trete ich aus jedem Kampf aus, und wenn ich aus diesem austrete, gebe ich gleichzeitig dem System, das ich transformieren will, keine Energie mehr. Denn jeder Kampf, der sich gegen etwas richtet, gegen eine alte, toxische Struktur, die das Weibliche unterdrückt, jedes Gegen-etwas-Sein gibt dem Energie, wogegen ich mich richte. Ich sehe ein großes Potenzial und die Bewegung, die jetzt gebraucht wird, darin, dass sich jeder Mensch in seiner eigenen weiblichen Energie, die dem Inneren innewohnt, verortet und sich von dieser Energie erfüllen lässt. Erst so wird die innere Versöhnung, dieser innere Frieden, über den Eva-Maria gesprochen hat, im Inneren ermöglicht. Im Grunde ist dies jetzt der Beginn des Kennenlernens dessen, was geschieht, wenn man seinen eigenen inneren Raum öffnet, bevor im Außen eine Veränderung entstehen kann. Das Weibliche wächst, indem es im Inneren kultiviert wird und indem der Frieden und das Schöpferprinzip im Inneren wachgerufen werden. Doch diese Qualitäten wachsen nicht durch Kampf. Das ist eine der entscheidendsten Erkenntnisse in meinen Augen.
Eva-Maria: Ich möchte aufzeigen, dass das, was Nora gesagt hat, mich sehr berührt. Nora bringt diese Weisheit bereits mit auf die Erde und weiß um das Licht. Die Menschen meiner Generation hatten eine vage Ahnung, eine Vermutung, wie die Dinge sein könnten, aber wir hatten keine Vorstellung von einer Seele oder Ähnlichem. Wir haben uns aufgemacht, im Inneren aufzuräumen. Das bedurfte viel Engagements, war sehr beharrlich, ausdauernd, und wir brauchten dafür alle Kraft. Doch nun nehme ich wahr, dass junge Leute, die jetzt inkarniert sind, zwar auch Traumata und Verletzungen erfahren haben, aber sie sind so im Licht verankert, dass sich diese Verletzungen und Traumata leichter abstreifen lassen. Sie spüren deutlicher, dass diese nicht zu ihnen, zu ihrem Wesen gehören und dass sie ihnen fremd sind. Wir waren gänzlich mit dem, was nicht zu uns gehört, verhaftet und verwoben und mussten uns erst mal davon befreien, um überhaupt das Licht zu sehen. Jedenfalls freue ich mich deswegen so sehr über Noras Hiersein, weil ich merke, dass sich diese neue Generation nun mit Kraft und mit der nötigen Weisheit, dem Engagement und der Begeisterung auf neue Wege begibt. Darüber bin ich sehr glücklich, und wenn ich das sehe, erfüllt es mich mit Zuversicht, dass diese junge Generation die gesamte Gesellschaft zu einem neuen Miteinander bewegen wird. Deshalb ist die ältere Generation nun dazu aufgerufen, dies zu unterstützen und sich dem zu öffnen, anstatt ihnen Steine in den Weg zu legen. Ich sehe jetzt viele junge Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Ich arbeitete zusätzlich im Bereich der Hochbegabtenförderung und sah, wie schwer die Kinder durch die Schule gegangen sind, wie wenig es von Menschen toleriert wurde, die diese Fähigkeiten nicht haben. Es geht darum, neidlos anzuerkennen, was andere Menschen mitbringen, uns davon inspirieren zu lassen und uns einfach daran zu erfreuen. Deswegen freue ich mich sehr über Nora und diese junge Generation.
TV: Eva-Maria, wie hat sich dein Verständnis von Weiblichkeit im Laufe deines Lebens geändert?
Eva-Maria: Ich habe sehr lange meine männliche Seite ausgelebt und sehr lange gebraucht, um diese verletzliche, zarte und weiche Seite in mir zu finden und zu erwecken. Dabei hat mir der Tango geholfen. Dort gibt es zwar auch die Option, dass Frauen führen. Doch schnell merkte ich, dass mir diese Rolle sozusagen auf den Leib geschrieben war, und ich dachte, dass das gerade nicht meine Aufgabe ist. Ich habe mich bewusst in die Rolle der Folgenden begeben und mich führen lassen. Die Herausforderung war, die Kontrolle abzugeben und mich der Führung anzuvertrauen.
TV: Was können Frauen und Männer tun, um ihre Weiblichkeit weiter zu entdecken und zu kultivieren?
Nora: Mehr als alles andere kommt es auch in diesem Prozess auf die Verbindung mit der eigenen Seele an – das Wiedererkennen der eigenen spirituellen Natur, in der alles gehalten ist. In dem Moment, in dem ich mich mit meiner Seele verbinde, meinen Innenraum aufsuche und durchleuchte, komme ich in der Urseinskraft, der Urschöpferkraft in mir an. Diese sind die Essenz von Weiblichkeit. Ich sehe einen bedeutenden Weg in der Verbindung mit der Natur, der mich selbst stark begleitet und prägt. Denn in der Natur sind all die karmischen Verstrickungen nicht aktiv, all die Programme, Muster und Matrizes, die sich über unser Inneres gelegt haben und durch das System aufrechterhalten werden, sind in der Natur nicht existent. Wenn ich mich mit der Erde, mit Mutter Erde, verbinde, verbinde ich mich gleichzeitig – und es spielt dabei keine Rolle, ob ich männlich oder weiblich verkörpert bin – mit der Urmutter-Energie, mit der Urvertrauens-Energie. Diese Verbindung ermöglicht eine Öffnung in mir selbst, eine Öffnung für dieses unendlich reiche Tragende des irdischen und geistigen Feldes, das mich umgibt. In dem Moment, in dem ich mich von diesen Kräften bewusst durchströmen lasse, wird viel aus meinem System rausgespült, das nicht zu mir gehörte. Dadurch gelange ich in eine Klarheit, die fragt, was zu meiner Seele gehört und was sich nur von außen als eine Scheininformation über mich gelegt hat. Ich erlebe die Meditation als einen wesentlichen Weg, um diese Erfahrungen zu vertiefen: um mich in mich selbst hineinzulegen und zu fühlen, wer ich bin, wenn die Stimmen von außen abfallen, was ich in mir spüre, welche Energie aufsteigen möchte, wenn ich wieder realisiere, dass ich ein vollkommen undefiniertes geistiges Wesen der universellen Liebe bin. In dem Moment, in dem ich das realisiere, entsteht eine neue Ermächtigung. Durch diese Ermächtigung gelange ich in die Bewegung, und ich kann die Informationen, die ich durch die Erde erhalten und die ich in mir selbst gefunden habe, in eine Bewegung bringen, die im Außen eine Form annimmt und ein Wirken im Außen darstellt. Dies ist ein Kreislauf und eine Wechselwirkung – die Verbindung mit all der Kraft, die mich umgibt, die Verbindung mit der Kraft, die ich bin, die in mir ist und die immer wieder durch dieses Feld genährt wird, und meine Ermächtigung in meinem Schöpferfeld.

Mehr denn je geht es nun darum, immer wieder in meine innere Ruhe zu treten, in meine seelische Erhabenheit, und darum, in die Zeitqualität hineinzuspüren und ehrlich im Inneren zu sein, um immer wieder neu zu erkennen, was gerade ansteht, wozu die Energie mich auffordert. Die universellen Energien arbeiten immer für uns, sie leiten uns. Je aufmerksamer und intimer meine Kommunikation mit dem Kosmos ist, umso klarer und sicherer bin ich mit dieser liebevollen Führung verbunden.
Eva-Maria: Das Leben bietet uns in jeder Situation die Möglichkeit, zu lernen und zu wachsen. Die universelle Liebeskraft ist ein bedingungsloses Ja zu allem. Wir bekommen das Feedback vom Universum, und indem wir vollkommen in die Selbstverantwortung gehen, sind wir dankbar für die Lektionen des Lebens, die uns weiter zu uns selbst führen. Für Frauen und Männer ist jetzt die Zeit reif, diesen inneren Führungswechsel zu vollziehen und sich aus dem getrennten Verstandesbewusstsein hinauszubewegen und sich der femininen Intuition hinzugeben. Diese leitet den Verstand an. Wir haben alles darüber gelesen, wissen vom Einheitsbewusstsein, aber das bringt uns nichts, wenn wir es nicht erfahren, nicht fühlen. Wenn wir uns angreifend verhalten, unterdrücken wir damit die eigenen Gefühle, die wir uns nicht anschauen wollen. Solange wir das nicht lösen wollen, reagieren wir immer in den gleichen Mustern. Der Lebensfilm hat andere Akteure, aber es ist immer der gleiche Inhalt. Das Ziel ist, die eigene Schöpferkraft und Eigenmacht der Seele, die ich bin, wahrzunehmen und in meinem Leben zum Ausdruck zu bringen.
TV: Ich finde, dass das, was du gerade sagtest, sehr treffend ist, denn häufig geht man eher zum Angriff über, als sich ehrlich einzugestehen, dass man verletzt ist. Zum Beispiel unterdrückt man die Reaktion des Weinens in schmerzhaften Momenten aus gesellschaftlichen Gründen. Außer in bestimmten Trauermomenten sollte man sich zurückhalten, ansonsten wird es in unserer Gesellschaft als eine Schwäche betrachtet. Allgemein werden emotionale Äußerungen, die von Freude abweichen, ungern gesehen, beziehungsweise man weiß häufig nicht, wie man damit umgehen soll.
Eva-Maria: Den größten Mut in einer Welt, in der ausschließlich die Ratio zählt und alles Fühlen als Schwäche abgetan wird, bedeutet es, zu den eigenen Gefühlen zu stehen und sie zu kommunizieren. Wir verschließen schnell unser Herz, wenn wir Ablehnung erfahren, und meinen dann, uns schützen zu müssen. Aber nur die Öffnung des Herzens lässt uns aus der Fülle unseres Seins leben und macht uns gleichzeitig verletzlich. Wir fühlen den Schmerz, aber wir selbst versorgen uns mit dem, was wir im Moment brauchen – Fürsorge, Mitgefühl, und zwar aus dem Wissen heraus, dass uns der andere nur einen Mangel spiegelt, der an alten Verletzungen hängt. Doch wir gehen in die Verantwortung für uns selbst und erwarten nicht die Erfüllung von außen. Dazu gehört, dass wir Frieden mit uns schließen und alles annehmen, auch das, was wir als Fehler angesehen haben. Wir erkennen, dass gerade diese Erfahrungen uns zu der Person haben werden lassen, die wir jetzt sind. Wir sind in einem
lebenslangen Prozess, der uns heil und ganz werden lässt. Wir waren es immer schon, diese Reise lässt uns die Vollkommenheit der Schöpfung fühlen und damit auch unsere eigene, denn nichts ist getrennt.
Nora: Ich sehe die Chance, jetzt etwas Weiteres und Essenzielles zu erkennen, und zwar, dass wir alle über eine übergeordnete Verwandtschaft miteinander verbunden sind. Verwandtschaft in dem Sinne, dass wir als gesamte Menschheit vor derselben Aufgabe stehen, und zwar die in uns gespeicherten Schmerzen zu erlösen. Deshalb kann und muss diese Zeit der Urteile, Kämpfe und Anklagen tatsächlich enden, denn nun geht es nur noch um Erlösung. Jeder Mensch, der mir begegnet, ist ein Spiegel für mich, und wenn ich merke, dass etwas in mir noch in den Kampf gehen möchte, dann bedeutet es, dass es ein Aspekt in mir ist, den ich erlösen darf, und es ist nichts, das mich in den Kampf gegen den anderen bringen muss. In dem Moment, in dem ich diesen Schmerz als kollektives Erbe erkenne, erfahre ich, dass ich mit allem verbunden bin. Ich erkenne, dass ich erschaffen wurde und berufen bin, die erkennende und sehende Liebe zu geben.

Also das Verstehen, dass dein Schmerz im Grunde mein Schmerz ist, und das, was in dir nicht erlöst ist, ebenfalls in mir nicht erlöst ist und wir das jetzt gemeinsam erlösen können, indem wir uns ansehen, was in uns gespeichert ist, in dem übergeordneten Wissen, dass unsere geistige und seelische Instanz immer erhaben darüber ist. In diesem Verstehen von Verbundenheit erwächst in uns das entscheidende Potenzial, um dann auch die Welt zu heilen.
Das Interview führten Stefanie Aue und Alice Deubzer.

Nora Philine Hansing, geboren 2001, hat ihre spirituelle Praxis (Yoga, Qigong, Meditation) stets mit ihrem Engagement für Natur- und Umweltschutz verbunden und viel Zeit damit verbracht, sich über Lektüre von Werken mit ganzheitlichem, gesellschaftskritischem, transformativem und nachhaltigem Bezug weiterzubilden. Ebenso prägend waren und sind intensive persönliche Naturerfahrungen. Bei Heidelberg aufgewachsen, lebt und studiert sie derzeit in Leipzig.
© Bild: Nora Hansing

Eva-Maria Zander, »Aufstehen in der Weiblichkeit« ist das erste Buch der Autorin. Mit Vorträgen, Seminaren und Beratungen treibt sie den Bewusstheitswandel voran und entfacht das Feuer für die Selbsterneuerung von Frau und Mann.
© Bild: Eva-Maria Zander
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