Sarah Rubal

Sarah Rubal – Die Heimkehr der Göttin (Teil 1)

Unsere mythische Heldinnenreise

Die bekannte Heldenreise von Joseph Campbell wird hier gegen den Strich gelesen. Die Autorin entfaltet eine weibliche Form der Heldenreise, die auf ganz anderen Prämissen basiert und einen anderen Blick auf das Weibliche wirft. Sie distanziert sich damit von der patriarchalen Geschichte und Mythologie, um eine alternative Kulturgeschichte der Frauen zu schreiben. Ein starker Aufbruch, der mit der Heimkehr der Göttin endet.

Wer sich mit Storytelling oder mit C. G. Jung auseinandersetzt, der kommt an der Heldenreise nicht vorbei. Von der Odyssee über das Gilgamesch-Epos und Star Wars bis Harry Potter bildet sie das Grundmuster aller großen Erzählungen der Menschheit, so heißt es. Der Mythenforscher Joseph Campbell ist der Entdecker dieser mythischen Erzählstruktur, die zu Disneys Erfolgsgeheimnis wurde. In zwölf Schritten reist der Held in die Unterwelt und kehrt mit einem Elixier in die Oberwelt zurück, deren Herrscher er wird. Im Wort »Herrscher« liegt schon der erste Hinweis, womit wir es hier zu tun haben – mit männlichem Größenwahn. Die Unterwelt, die eigene Psyche, als Ort der Machtaneignung des Männlichen.

Sarah Rubal

Drehbuchautor Christopher Vogler passte die Heldenreise für Drehbuchautoren und den Film an. Seither fasziniert die Heldenreise Geschichtenerzähler ebenso wie Suchende und Psychonauten. Sie gilt als der Schlüssel zu unserer Seele und zu unserer Selbstheilung. Doch was hat es mit der Heldenreise auf sich, die doch per se schon an Männer gerichtet ist? Wo sind sie, die Heldinnen? Einige Versuche hat es bereits gegeben, die Heldenreise auch für Frauen zu übersetzen, etwa von Maureen Murdock, einer Schülerin Joseph Campbells, doch dieser Versuch kann als gescheitert betrachtet werden. Sie bleibt dem Patriarchalen verhaftet. Die Frau wird nicht zur Protagonistin der Heldenreise, sondern zu ihrem Ziel, sie ist die Prinzessin, die der Held am Ende gewinnt. Kann das wirklich die Bestimmung für Frauen sein? Selbstbestimmung für Frauen? Fehlanzeige. Die Frau gewinnt nichts. Sie bleibt Objekt, wird nicht zum handelnden Subjekt.

Wo also sind sie, die Mythen, die uns von unserer Selbstwerdung erzählen? Verschüttet, verloren, im großen Vergessen, weil unsere Kultur in den vergangenen 7.000 Jahren eben vor allem durch männliche Denkstrukturen, männliche Geschichten, männliches Streben geprägt wurde. Weibliches Wissen ging vielfach verloren, weil es nicht überliefert wurde, doch wir können es aus Mythen, Märchen, aus erhaltenem Wissen in indigenen Kulturen und unserem eigenen Erfahrungswissen rekonstruieren.

Patriarchale Rollenmuster

Als Biografin begegnen mir viele Frauen und mir fiel auf, dass sie alle in ihrem Leben von einer großen Krise sprachen, die ihnen aber letztlich dabei half, zu sich selbst zu finden und sich von patriarchalen Rollenmustern zu befreien. Oft sind es Frauen um die 40, die auf einmal feststellen, dass all das, was man ihnen mit Anfang 20 als »Glück« versprach, seine Versprechen nicht eingelöst hat. Partnerin, Mutterrolle, Karrierefrau, all das sind Rollen, die uns von außen vorgegeben werden und die wir ungefragt übernehmen, weil sie uns »natürlich« erscheinen, da sie ein Teil unserer gelebten Kultur sind und wir sie millionenfach in unserer Umwelt in Werbung, Filmen, Büchern, Vorbildern finden. Haben wir uns je gefragt, ob diese Rollen wirklich zu uns passen, ob sie überhaupt dazu geeignet sind, uns glücklich zu machen? Und was bedeutet Glück für uns Frauen überhaupt?

Die dargestellten Frauen sind oft erfolgreich, kreativ, schön, sie sind unabhängig und selbstbestimmt, sie erfüllen alles, was man ihnen äußerlich abverlangt, um in diese Gesellschaft zu passen, sie streben nach Selbstverwirklichung und Glück, doch genau das will sich bei den Frauen, die mir begegneten, einfach nicht einstellen. Funktioniert die männliche Heldenreise etwa für Frauen nicht? Ganz gleich, wie oft ich die Heldenreise in meinen Erzählungen anwandte, sie taugte einfach nicht für weibliche Protagonistinnen. Es gab zwar Versuche, sie sozusagen »weiblich« zu übersetzen, doch sie alle blieben dem patriarchalen Diskurs verhaftet. C. G. Jung selbst war der Meinung, dass das Innenleben von Frauen und ihre Bewusstseinsentwicklung nicht so spannend sein könnten wie das von Männern.1Maureen Murdock (1991): Der Weg der Heldin. Knaur, S. 27
Einen Verweis auf das, was mich an der Heldenreise störte, fand ich bei der missverstandenen Feministin Mary Daly. Es war ein einziger Satz, in dem sie von einem Gespräch mit Joseph Campbell berichtete, der sagte, die Frauen brauchten die Heldenreise nicht, sie »seien längst dort«.2Daly, Mary (1981): Gyn/Ökologie. Eine Metha-Ethik des radikalen Feminismus. Frauenoffensive, S. 138

Ein bemerkenswerter Satz, dem kaum jemand Beachtung schenkte, weil Mary Dalys Analyse selbst als ein Mysterium gilt, schon aufgrund ihrer Sprache. Was Joseph Campbell meinte, ist, dass Frauen die Trennung vom Selbst, vom Unbewussten und der Welt an sich, nicht überwinden müssen, weil sie mit ihr auf andere Weise verbunden sind. Das trifft auf den Urzustand des Weiblichen wohl zu und wird auf vielfältige Weise von der Forschung unterstützt, ob es nun um die Nutzung der linken Hirnhälfte bis zum Ende der Fruchtbarkeit oder das Großmutter-Paradox3»Großmutter-Paradox« nennt Rubal die aus der biologischen Anthropologie stammende »Großmutter-Hypothese«. Diese Hypothese versucht zu erklären, weshalb sich im Laufe der Evolution bei Frauen die Menopause entwickelt hat. Zugleich versucht sie zu erklären, weshalb Frauen nach der altersbedingten Unfruchtbarkeit noch viele Lebensjahre erreichen können, während dies bei den meisten anderen weiblichen Säugetieren nicht der Fall ist, unter anderem bei den Menschenaffen. (Wikipedia, abgerufen am 23.10.2023) geht, doch knapp 6.000 Jahre Patriarchat haben in uns Frauen das hinterlassen, was man ein kollektives, transgeneratives Trauma nennen kann. Wir, das sind die Überlebenden. Die Widerständigen sind tot. Wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir aus der Asche und den Spuren lesen können und was unsere eigene, innere Wahrheit uns sagt, was die Göttin uns zuflüstert, wenn man so will. Zwischen der männlichen Heldenreise und der weiblichen Heimkehr der Göttin gibt es einen entscheidenden Unterschied. Frauen kämpfen, ob bewusst oder unbewusst, immer gegen einen zusätzlichen Gegner, der in der männlichen Erfahrungswelt nicht existiert: die mal subtilen, mal deutlicheren patriarchalen Strukturen, die Männer bevorzugen und Frauen abwerten. Das kann sich in Sexismus, in Benachteiligung, in sexueller und emotionaler Gewalt oder in anderen Formen äußern, doch es bedeutet, dass es in der Geschichte von Frauen immer noch einen zusätzlichen Faktor gibt, der berücksichtigt werden muss und der sich entsprechend im weiblichen Archeplot wiederfindet. 

Die weibliche Heldenreise

Trotzdem können wir die weibliche Heldenreise wiederentdecken. Sie findet sich in den Romanen von Sylvia Plath ebenso wie bei Doris Lessing und sie folgt immer dem gleichen Muster, das sich von dem »Archeplot« der männlichen Heldenreise signifikant unterscheidet. Der Beginn der weiblichen Heldenreise ist eine Krise, in die die Protagonistin gerät, weil sie spürt, dass die nach wie vor männlich geprägte Welt das Versprechen von Glück und Selbstverwirklichung nicht einlöst, dass sie einem Betrug aufgesessen ist. Die Krise kann eine Trennung sein, ein Konflikt mit dem Vorgesetzten, eine schwere Krankheit oder ein anderes Lebensereignis. Sie führt dazu, dass die Frauen eine vielfach schmerzhafte, aber auch befreiende und lehrreiche Reise nach innen antreten und sich selbst finden. Im besten Fall kehren sie mit ihrem authentischen Selbst zurück und leben dann ein Leben ohne faule Kompromisse, im Einklang mit sich selbst, weil sie die Lügen durchschaut haben, die ihnen das patriarchale Erbe unserer Kultur aufgetischt hat.

Sarah Rubal

Gerade weil es sich um eine Rebellion gegen dieses kulturelle Erbe handelt, muss diese Heldenreise nicht immer erfolgreich sein. Es kann sein, dass die Frau an den Widerständen scheitert. Sylvia Plaths »Die Glasglocke« ist das Paradebeispiel dafür. Die Heldenreise der Hauptfigur Esther Greenwood besteht darin, dass sie erkennt, dass sie ein psychisches Problem hat und niemals in ein »normales« Leben passen wird, aber dass dieses psychische Problem nicht allein »ihr« Problem ist, sondern auch mit den Lebensumständen zusammenhängt, die ihr, als junge Frau, Anfang der 1950er-Jahre, aufgezwungen werden. Ihre Depression und ihr Suizidversuch sind eine Art Rebellion dagegen. Als einzelne Frau kann sie die Lebensumstände nicht ändern, aber allein ihr Weiterleben und die Bewusstmachung dieser Zusammenhänge sind ein kleiner Sieg. Sie hat sich nicht einfach gefügt und den »richtigen« Mann geheiratet.

Frauen möchten häufig nichts erobern, sie möchten sich selbst heilen und ihren Platz in einer Gesellschaft finden, die an vielen Stellen nach wie vor auf Männer ausgerichtet ist.

Während die männlichen Helden in den Krieg oder in ein Abenteuer ziehen und das den Einstieg in ihre Geschichte bedeutet, geraten Frauen in der weiblichen Heimkehr der Göttin in eine Krise. Die Krise ist der Eintritt in ihre Heldenreise, nicht der Krieg. Sie ist der Auftakt zu einer inneren Transformation, die von äußeren Ereignissen begleitet und katalysiert wird. Frauen möchten häufig nichts erobern, sie möchten sich selbst heilen und ihren Platz in einer Gesellschaft finden, die an vielen Stellen nach wie vor auf Männer ausgerichtet ist. Der Widerspruch, in einer Welt zu leben, die mir als Frau nur scheinbar gerecht wird, löst die Krise aus und führt letztlich zu der Erkenntnis, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen. Im Laufe der Transformation lernt die Frau, diesen Widerspruch für sich zu analysieren und zu begründen, und ergreift dann entsprechende Maßnahmen. Nicht immer läuft es auf eine Befreiung hinaus, denn eine einzelne Frau kann die patriarchalen Strukturen kaum vollständig abschütteln. Jede Frau wird auf irgendeine Weise mit ihnen konfrontiert und muss ihnen gegenüber Stellung beziehen. Sie kann in Gegnerschaft gehen oder sich ihnen fügen, in jedem Fall aber muss sie eine Entscheidung treffen. Nehme ich die Rollen an, die mir die Gesellschaft zugesteht, oder kämpfe ich darum, mich selbst zu definieren?

Rückzug von der Welt

Die meisten Frauen streben nach Verbindung und Weisheit, und das sind Eigenschaften, die eher mit dem Göttlichen in Zusammenhang stehen. Gott – das ist für uns eine väterliche Figur, patriarchal geprägt. Doch wenn wir Gott als Mutter verstehen, als Göttin, deren Töchter wir sind, dann ändert sich die Perspektive. Diese Muttergöttin enthält alle Liebe und alle Weisheit, nach der wir uns sehnen. Sie schenkt das Leben, alles kehrt in ihren Schoß zurück.

Die meisten Frauen streben nach Verbindung und Weisheit, und das sind Eigenschaften, die eher mit dem Göttlichen in Zusammenhang stehen.

Wir alle sind mit ihr verbunden, ob wir es wollen oder nicht. Mehr noch, sie ist in uns. Die Göttin ist in uns, wir sind Verkörperungen dieser Göttin, weil in jeder Frau, ob sie nun wirklich Mutter ist oder nicht, die Kraft steckt, neues Leben zu erschaffen und die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden. So sind wir eingebunden in die uralte Weisheit des Lebens und die Rhythmen der Natur. 

Wir wissen durch unsere Körper, dass nichts von Dauer ist, dass sich alles ständig verändert und dass wir ein Teil der Natur sind.

In der Bewusstseinsforschung weiß man heute, dass sich unser Bewusstsein zu großen Teilen aus den Signalen unserer Körperwahrnehmung konstruiert. Ein weiblicher Körper, ob jugendlich, schwanger oder in der Menopause, sendet andere Signale an unser Hirn als ein männlicher Körper. Der weibliche Zyklus, die biologische weibliche Lebensreise ist durch den immerwährenden Wandel und die Neuentstehung geprägt und das spüren wir Frauen. Wir wissen durch unsere Körper, dass nichts von Dauer ist, dass sich alles ständig verändert und dass wir ein Teil der Natur sind. Das ist kein bewusstes, kognitives Wissen, sondern es ist ein intuitives, auf Körpererfahrungen basierendes Wissen. Wer bin ich eigentlich? Was sind meine Stärken? Wieso lebe ich Rollen, die mich weder ausfüllen noch glücklich machen? Wie kann es mir gelingen, zu meinem wahren, authentischen Selbst zurückzufinden und ein Leben zu leben, das mich wirklich glücklich macht, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was die gesellschaftlichen Erwartungen sind?

Die Menstruation wird als eine natürliche Phase der Bewusstseinserweiterung verstanden, die den Frauen Kraft gibt.

Tatsächlich gibt es sehr wohl so etwas wie eine weibliche Heldenreise, in der Erzählung von Inanna und auch in der Persephone-Erzählung finden wir Elemente dessen, was wohl einst die ursprüngliche Reise in das Innere gewesen sein muss, bevor das Patriarchat es an sich riss und kompromittierte. Aber auch unsere modernen Märchen wie »Frau Holle«, »Rapunzel« oder »Dornröschen« erzählen uns davon, wie ein junges Mädchen von einer älteren, initiierten Frau in die Geheimnisse der weiblichen Wandlungskraft eingeführt wird. Wo der Held der klassischen Reise aufbricht und etwas erobert und/oder bekämpft, zieht sich die Göttin in Form der Frau zurück, nutzt den Rückzug von der Welt, um ihr Bewusstsein zu erweitern, sich dem Göttlichen zu öffnen und dann mit neuen Antworten und neuen Lösungen zurückzukehren. Der Demeter-Mythos enthält noch Relikte davon, ebenso wie andere Erzählungen aus Ägypten und viele Märchen. In indigenen Kulturen, wie etwa in Nordamerika, ist es bis heute üblich, dass sich Frauen während ihrer Menstruation zurückziehen oder sogar eine einjährige Frauenheilreise in Abgeschiedenheit verbringen. Die Menstruation wird als eine natürliche Phase der Bewusstseinserweiterung verstanden, die den Frauen Kraft gibt. 

Wo die Heldenreise den Mann herausfordert, lädt die Heimkehr der Göttin die Frau ein, in die Stille zu gehen, sich um sich selbst zu kümmern und dann mit dieser neuen Kraft zur Gemeinschaft zurückzukehren. In unserer Gesellschaft ist dafür kaum Platz. Viele Frauen spüren zwar, dass sie erschöpft und überfordert sind, doch anders lassen sich Beruf und Familie kaum unter einen Hut bringen. Die Krise ist fast unausweichlich, doch sie ist auch eine Chance. 

Wenig verwunderlich hat die weibliche Heldenreise auch nicht zwölf, sondern 13 Stationen, gemäß den 13 Vollmonden und Menstruationszyklen im Jahr – jene angebliche Unglückszahl, die in Wahrheit magische Wandlungskraft hat und die ich, in Anlehnung an einen alten ägyptischen Mythos, die »Heimkehr der Göttin« genannt habe.

1. Die Welt der Väter

In Campbells Heldenreise ist dies »die normale Welt«. Wir Frauen werden geboren in eine Welt, die von Männern definiert wird und die uns Frauen unseren Platz zuweist. Wir erleben Widersprüche, etwa, dass Jungen von Anfang an mehr Freiräume erhalten als wir, doch noch fehlt uns das Bewusstsein, diese Widersprüche zu dekonstruieren. Wir wollen von unseren Vätern geliebt werden, und wir schauen all die romantischen (Disney-)Filme, in denen uns beigebracht wird, dass es das Wichtigste im Leben einer Frau ist, den richtigen Mann zu finden und von ihm geliebt zu werden. Darin, so heißt es, liegt das höchste Glück im Leben einer Frau.

Niemand erklärt uns, dass wir in das Patriarchat geboren werden, vielmehr spüren wir immer wieder, dass die Welt und wir irgendwie nicht zusammenpassen.

Dann erst kann sie wahrhaft glücklich, wahrhaft Frau sein. Was in der klassischen Heldenreise die »normale Welt« ist, ist in der weiblichen Heldenreise die »Welt der Väter«.

Niemand erklärt uns, dass wir in das Patriarchat geboren werden, vielmehr spüren wir immer wieder, dass die Welt und wir irgendwie nicht zusammenpassen. Man sagt uns, dass wir uns benehmen sollen, dass wir freundlich bleiben sollen, zugewandt, fleißig, hübsch, brav, hilfsbereit. Dann bekommen wir Anerkennung – und Liebe, zumindest wird uns das versprochen. Das bedeutet, dass wir viele Anteile von uns – das wilde Mädchen – verdrängen und unterdrücken müssen. Wir passen uns an, um geliebt zu werden. Der Grad dieser Anpassung kann sehr unterschiedlich sein. Möglicherweise wachse ich in einer sehr freien Familie auf, aber werde von Lehrern entsprechend geprägt. Ganz grundsätzlich reichen aber auch die Rollenbilder, die man uns im Fernsehen oder auf Social Media verkauft, damit wir anhand dieser Vorbilder lernen, welche weiblichen Verhaltensweisen erwünscht sind und welche nicht und nach welchen Zielen wir unser Leben auszurichten haben. Wir beobachten an unseren Müttern und anderen Frauen, wie diese sich verhalten, und ahmen dieses Verhalten nach. Daraus entsteht unsere Prägung als Frau. Dazu gehören oft Scham, aber auch ein Hang zum Perfektionismus und zur Aufopferung.

Viele Bereiche unseres weiblichen Seins erkunden wir nicht. Wir lernen nicht, zu träumen, uns zurückzuziehen, unserer inneren Weiblichkeit zu vertrauen, wir erfahren nichts von Göttinnen und der Großen Mutter, von heilenden Ritualen oder von Transformation und Transzendenz. Wir lernen, uns anzupassen und zu funktionieren, und eine ganze Weile sind wir auch ganz gut darin, weil wir gar nicht wissen, dass es auch noch etwas anderes gibt.

Die Göttin oder mythische Figur, die diese Anpassung verkörpert, ist die griechische Athene. Sie ist die Tochter von Zeus, dem Göttervater, und gilt als Göttin der Weisheit, des Kampfes, der Strategie, der Handwerkskunst und der Wissenschaft. Athene wird oft mit einer Eule und einem Schild dargestellt, auf dem das Medusenhaupt zu sehen ist. Medusa war in der griechischen Mythologie eine der drei Gorgonen, die als grausame Kreaturen mit Schlangen auf dem Kopf dargestellt wurden. Sie war die einzige Gorgone, die sterblich war, und in einigen Versionen der Legende wird beschrieben, dass sie einst eine wunderschöne Frau war. Laut der Mythologie wurde Medusa von der Göttin Athene verflucht, nachdem sie in ihrem Tempel eine sündhafte Tat begangen hatte. Der Fluch verwandelte Medusas Haare in Schlangen und machte sie zu einem abschreckenden Monster. Wer Medusa ins Gesicht sah, wurde sofort in Stein verwandelt.

Medusa wurde oft als Symbol der Angst oder des Bösen dargestellt, aber auch als Bewahrerin von Geheimnissen und Wissen. In vielen Geschichten wurde sie von Helden wie Perseus besiegt, der ihr den Kopf abschnitt und diesen später als Waffe gegen seine Feinde benutzte. Medusa steht für die alte, wilde Weiblichkeit, die sich nicht unterordnet, sondern ihre Feinde mit ihren magischen Fähigkeiten in Stein verwandelt. Sie repräsentiert die Macht der Großen Mutter. Athene ermordet sie, um ihrem Vater zu gefallen, und trennt damit die Verbindung zur Großen Mutter.

Sehr leicht können wir uns hier eine Frau vorstellen, die alles tut, um ihrem Vater zu gefallen, und als Erwachsene nach dem »perfekten« Mann sucht, um ihn zu heiraten. Sie lebt im Außen, ausgerichtet auf Beifall von Männerseite, für ihren Erfolg, ihre sportlichen Leistungen, ihre Kameradschaft, während der Ruf des Weiblichen in ihr verkümmert. Oft erlebt sie irgendwann eine große Ent-Täuschung, in der ihr klar wird, dass sie dennoch nie völlig von Männern akzeptiert und anerkannt werden wird – einfach weil sie eine Frau ist. Das ist meistens ihr Eintrittspunkt in die Krise und den Wandel.

Ein Beispiel aus Literatur und Film ist der Film »Titanic« von Peter Jackson. In diesem Film wird die Heldinnenreise inklusive des Wandels durch eine Krise – die sogar im Außen sichtbar gemacht wird durch den Untergang der Titanic – abgebildet, was zeigt, dass Hollywood längst um den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Heldenreise weiß, vielleicht auch nur unbewusst. Kate Winslet geht als Rose DeWitt Bukater an Bord der Titanic. Sie ist eine Tochter aus wohlhabendem Haus und mit einem vielversprechenden jungen Mann verlobt. 

Unser Leben in der Welt der Väter kann völlig unbewusst verlaufen. Wir tun das, was man von uns erwartet, und ahnen nicht einmal, dass es da noch eine ganz andere Welt gibt. Hin und wieder meldet sich vielleicht ein Gefühl der Irritation über eine Welt, die so ablehnend uns gegenüber ist, aber da alle anderen das auch so zu akzeptieren scheinen, nehmen wir dieses Gefühl nicht ernst.

2. Der Ruf der Sehnsucht

Was in Campbells Heldenreise »der Ruf des Abenteuers« ist, ist für Frauen der Ruf der Sehnsucht. Irgendwann ist er da, der Eine, auf den wir so lange gewartet haben. Zumindest sind wir uns dessen sicher. Da kommt ein Mann, für den wir alles über den Haufen werfen, Studium, Job, Freiheit, um mit ihm die langersehnte Zweisamkeit zu leben. Wir reisen, wir heiraten, alles scheint perfekt. Ja, es scheint. Denn lange währt dieses Glück nicht. Die Kleinfamilie aus Vater, Mutter und Kind ist ein patriarchales Konstrukt. In Wirklichkeit lebte die Menschheit über Jahrtausende hinweg in matrifokalen Kleingruppen mit den Müttern im Zentrum. Frauen waren die verbindenden Elemente der Gemeinschaft. Hierarchien, Macht und Krieg waren unbekannt.

Die Frau spürt, dass etwas nicht stimmt, und beginnt, sich nach etwas zu sehnen. Da sie nicht in Worte fassen kann, was es ist, sehnt sie sich zunächst nach dem, was ihr die Gesellschaft als Erfüllung vorgibt: beispielsweise Partnerschaft, Erfolg im Beruf oder Schönheit. In unserer Welt ist es eine junge Frau, die sich unsterblich in einen Mann verliebt, in der Fürsorge und Hingabe zu ihm vollkommen aufgeht. Frauen sind wunderschön, wenn sie lieben. Leider ist der darauffolgende Schmerz unvermeidlich. In dieser Phase beginnt die Sehnsucht in uns zu pochen, erst ganz leise, dann immer lauter, bis wir diesen Ruf nicht mehr ignorieren können. Wir sträuben uns, verleugnen ihn, tun so, als ob alles in Ordnung ist, doch auf einmal ist das, was wir kennen, nicht mehr genug und wir sehnen uns nach dem Unbekannten. Es ist unsere Seele, die uns ruft, die uns auffordert, auszubrechen aus dem Gewohnten, um uns selbst zu erfahren.

Wir fürchten das Unbekannte, wir stemmen uns dagegen, doch das Lied der Sehnsucht lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, wenn es einmal erwacht ist, und bald durchzieht es unser ganzes Leben. Es kann ein Mensch sein, der in unser Leben tritt, aber auch nur ein neuer Gedanke, eine Idee, die uns nicht mehr loslässt. Oft denken wir in dieser Phase zuerst: »Das darf nicht sein!« Doch dann wird das Lied nur noch lauter und drängender, es verfolgt uns bis in unsere Träume und schließlich geben wir nach. Eine große Lebendigkeit stellt sich ein, alles kommt in Bewegung. Wir empfinden Euphorie und schwingen ganz hoch. Wir werden von Liebe, Hoffnung und Zuversicht durchströmt. Wir lieben und werden geliebt und alles ist, wie es sein soll. Diese Phase kennen auch Literatur und Film: Bella verliebt sich in »Twilight« in Edward, der mysteriös und faszinierend ist, ohne zu wissen, was sich in Wirklichkeit hinter ihm verbirgt. Auf der Titanic verliebt sich Rose in Jack. Christa Wolfs Kassandra verliebt sich in Apoll.

3. Der Verrat/Verlust

Es kommt, wie es kommen muss. Die romantische Illusion bekommt Risse. Der Traummann betrügt uns, schlägt uns, verlässt uns oder entpuppt sich einfach nur als Langweiler. Vielleicht ist er auch ein Narzisst oder einfach nicht der, für den wir ihn hielten. Wir bekommen das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht nur von ihm, sondern von der ganzen Welt. Dieses Gefühl kennt eine Frau gut. Worauf es jetzt ankommt, ist, wie sie damit umgeht. Während sie nach dem perfekten Partner, dem perfekten Job, dem perfekten Aussehen strebt, kommt die Frau in eine Krise. Der Partner betrügt sie, der berufliche Erfolg stellt sich als Sackgasse heraus, sie fühlt sich verraten und empfindet einen starken Verlust. Der Verrat ist eine große Ent-Täuschung und das kann sehr schmerzhaft sein. Der Schleier der Illusion wird beiseitegeschoben, und wir sehen die Dinge auf einmal in einem anderen Licht.

Das Thema Verrat hat viele Aspekte. Wir können durch Freundinnen und Gefährtinnen verraten werden, weil sich Konkurrenz und Neid breitmachen. Wir können durch unsere Eltern verraten und im Stich gelassen werden oder durch unsere Kinder, die sich gegen uns wenden. Wir können uns selbst verraten, weil wir Dingen nachjagen, die nicht für uns bestimmt sind. Wir können von den Institutionen verraten werden, denen wir vertrauen, Ärzten, Krankenhäusern, Therapeuten, Coaches oder von der Gesellschaft als Ganzes, weil wir uns im Stich gelassen fühlen, aussortiert. In »Twilight« erkennt Bella, dass Edward ein Vampir ist und sie in tödliche Gefahr bringt, Rose auf der Titanic sieht das wahre Gesicht ihres Verlobten und Kassandra wird dazu gezwungen, mit Aeneas zu schlafen. Der Schleier ist weg, die Illusion ist weg, doch uns stürzt das in das Chaos. Der Schmerz ist unermesslich, denn der Zusammenprall mit der Realität ist hart.

Dies ist der erste Teil. Wie die Heldinnenreise weitergeht, erfährst du im zweiten Teil.

Buch von Sarah Rubal:

»Die Heimkehr der Göttin – die mythische Heldinnenreise zu Transformation und Ganzheit«, 978-3757559434, Taschenbuch, 27,99 Euro, https://www.die-heimkehr-der-goettin.de/buch

Sarah Rubal

Sarah Rubal ist Schriftstellerin, Ghostwriter und Drehbuchautorin. Nach einem Studium der Geschichte und Ethnologie in Frankfurt verbrachte sie Zeit bei Indigenen Nordamerikas, insbesondere den Lenape (Delaware). Die Suche nach weiblicher Befreiung in Einklang mit Spiritualität begleitet sie schon seit vielen Jahren. Mit ihren Kindern lebt sie in der Nähe von Frankfurt am Main. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem Kinderbücher zu indigenen Mythen. 

die-heimkehr-der-goettin.de

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