Gefühle spüren und kollektive Einflüsse heilen
Viele der Kinder aus der Nachkriegsgeneration hatten unter den schweren Traumatisierungen ihrer Eltern zu leiden. Gefühlskälte und unterdrückte Emotionen führten zu eben solchen Charakterzügen vor allem bei der Generation, die zwischen 1950 und 1975 geboren wurde. Welche Folgen dieses vererbte Trauma hat und dass es heilbar ist, zeigt Dr. Ilona Schönwald.
Irgendwie sind wir alle Kinder von Eltern und oder Großeltern, die Krieg erlebt haben.
Meine Mutter bettelt ihre Familie an, dass sie in einer bombenfreien Phase den Hochbunker verlassen darf, um mit den anderen Kindern draußen zu spielen. Nach einigem Hin und Her willigen sie ein und Waltraut, damals sechs Jahre alt, läuft hinaus zu den anderen Kindern, die da in einem Kreis stehen und ein Lied singen. Waltraut reiht sich in den Kreis ein und singt mit, bis eine Handgranate in die Mitte des Kreises einschlägt. Die Hälfte der Kinder stirbt, sie überlebt. Das geschah 1944.
Sie trägt dies ihr ganzes Leben. Es wirkt in mir und mit großer Wahrscheinlichkeit auch in meinen Kindern. Wenn du zwischen 1950 und 1975 geboren bist, dann geht dich das hier mit großer Wahrscheinlichkeit etwas an. Und wenn du später geboren bist, wirst du vielleicht überrascht sein, dass es auch für Dich relevant ist.
Kind einer kriegstraumatisierten Mutter
Ich bin 1975 geboren und meine Mutter gehört zu einer Generation, die im Krieg selbst noch Kind war und furchtbares erlebt hat – so furchtbar, dass nie darüber gesprochen wurde. Ich glaube, die Zeit ist reif darüber zu sprechen – über das, was für unsere Vorfahren unaussprechbar gewesen ist – weil die Last zu groß wiegt und der Schmerz zu tief sitzt. Ich spreche von einem Schmerz, der sich verbergen lässt, aber sich dadurch nicht auflöst.
»Es ist mir eine Herzensangelegenheit, ein Licht in ein dunkles Kapitel unserer Geschichte zu tagen, denn es wirkt weiter in uns.«
Mein Name ist Dr. Ilona Schönwald, ich bin Online-Mentorin, Rednerin, Heilerin, Ärztin und Autorin. Ich habe das Online Mentoring Soul Genesis entwickelt und begleite Menschen online im DACH-Raum in ihren heilsamen Wandlungsprozessen auf ihrem Weg der Persönlichkeitsentwicklung von innerem Mangel in die innere Fülle. Es geht dabei immer um Ganzwerdung, um Selbstverbundenheit. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, ein Licht in ein dunkles Kapitel unserer Geschichte zu tagen, denn es wirkt weiter in uns.
Ich bin das Kind einer kriegstraumatisierten Mutter. Ich habe mein ganzes Leben eine gewisse Schwere und innere Unruhe empfunden. Vielleicht kennst du das: du lieferst draußen gut ab und innendrin ist es aber irgendwie nie wirklich leicht.
Ich machte Basketball-Leistungssport, Abitur, lernte Krankenschwester, studierte Medizin, wurde Fachärztin. Es gab Zeiten in meinem Leben – als junge Frau – da wünschte ich mir, lieber nicht auf der Erde zu sein.
Das verstand ich zunächst nicht, da es offenbar erstmal kein Korrelat in meiner Biographie gab. Auf der Suche nach Heilung und in der Sehnsucht, dass sich etwas ändern muss, machte ich mich auf den Weg. Ich wollte alles über Heilkunst wissen und erfahren. Ich machte energetische sowie schamanische und spirituelle Ausbildungen und wurde so auch zur Heilerin. Das führte natürlich dazu, dass ich selbst tiefe innere Wandlung und Heilung erfuhr. Diese intensiven inneren seelischen Prozesse wurden Anfang 40 mit einer spirituellen Krise, wie sie Stanislav Grof, der Transformationspsychologe, beschreibt, »gekrönt«. Stanislav Grof, der auch der Erfinder des holotropen Atmens ist, beschreibt die spirituelle Krise als die stürmische Suche nach dem Selbst und mir wurde zugänglich, dass meine Seele nie ganz auf der Erde angekommen war. Um gut hier anzukommen, im Körper, auf der Welt, muss die Seele sich sicher fühlen. Das war so nicht. Ich habe mich hier immer gefühlt wie eine Besucherin, die aber bald wieder nach Hause will. Aber woran lag das?
Traumatisierende Erfahrungen
Was passiert, wenn Menschen schwer traumatisierende Erlebnisse haben und diese nicht be- oder verarbeiten können? In einer solchen Situation bleiben genau diese Erlebnisse in ihrem Körper, in jeder Zelle gespeichert. Meine Mutter stand als Kind in diesem Kreis. Das Mädchen neben ihr, das hatte sie an der Hand – der hatte es den Schädel weggerissen. Es hätte sie sein können. Sie überlebte. In diesem Moment, als der Lebensfaden dieses Mädchens abgetrennt wurde, trennte sich meine Mutter von all ihren Gefühle. Alle natürlichen Schutzmechanismen wie Flüchten oder Kämpfen konnten nicht funktionieren. Dies führt in der Regel zu einer Dissoziation – einem Aus-dem-Körper-herausgehen. Tiefster Schock, der nicht auszuhalten gewesen ist. Emotional so weiter auf der Erde zu bleiben ist undenkbar. Alles lebendig Innere erfuhr eine traumatische Erstarrung – einen nervalen Shutdown. Von den Erzählungen her hat sie zwei Tage nur geschrien. Sie selbst kann sich daran nicht erinnern.
Was passiert, wenn wir uns unsere Gefühle abschneiden und unser Herz verschließen, weil der Schmerz zu groß ist, weil man dem Schmerz nicht entrinnen kann? Alle Gefühle werden abgeschnitten. Du kannst dich selbst nicht mehr fühlen und schon gar nicht jemand anderen. Mitfühlen, Empathie geht dann nicht mehr, und dies hat häufig weitreichende Auswirkungen auf die Beziehungs – und Bindungsfähigkeit der traumatisierten Menschen.
Was Trauma ist
Wenn wir nun bei dem Wort ›Trauma‹ gelandet sind, ist es bestimmt sinnvoll kurz auf diesen Terminus einzugehen. Seinen Ursprung hat der Begriff Trauma im Griechischen und wird mit »Wunde« übersetzt. Es bedeutet eine körperliche (physische) oder seelische (psychische) Verletzung.
»Ein Trauma ist nicht das, was uns im Außen widerfährt, sondern die innere Reaktion auf das, was uns im Außen passiert.«
Durch ein traumatisches Ereignis kann es zu seelischen Verletzungen kommen. Ein Trauma ist nicht das, was uns im außen widerfährt, sondern die innere Reaktion auf das, was uns im Außen passiert. Zehn Menschen können derselben gegebenenfalls erschütternden Situation im Außen ausgesetzt sein und es würden völlig unterschiedliche Reaktionsmuster daraus resultieren. Von der schweren posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bis zu einer kaum wahrgenommenen Belastung wird alles zu finden sein.
Trauma ist eine innere individuelle Reaktion auf ein äußeres Geschehen. Trauma wird nicht nur durch das ausgelöst, was uns passiert – sondern auch durch das, was uns nicht passiert, wie zum Beispiel mangelnder emotionaler und körperlicher Kontakt mit den Eltern in der Kindheit. Dies führt in der Regel zu einem emotionalen Entwicklungstrauma.
Ich spreche hier von einem kollektiven Ereignis, von Menschen, die Krieg erlebt haben. Wir sind die erste Generation, die den Krieg nicht erlebt hat und in der er trotzdem wirkt. Unsere Vorfahren haben uns ihr Leid, ihr Trauma unbewusst weitergegeben, und wir haben es aus Liebe und unbewusst genommen.
Vererbtes Trauma
Vielleicht kennst Du diesen Satz, mit dem ich aufwuchs, den meine Mutter sagte: »Ich habe den Krieg erlebt« – in diesem Satz steckt schon das Maximum an Beschreibung. Ich konnte diesen Satz als Kind überhaupt nicht begreifen. Erst später, als ich tiefer und tiefer in die Heilarbeit eingedrungen bin, konnte ich verstehen: Das hat auch etwas mit mir zu tun, das habe ich völlig unterschätzt.
Und vielleicht denkst du dir jetzt: »Meine Eltern sind meine Eltern, und ich bin Ich.« Aber Trauma wird vererbt – das ist bewiesen, und damit befasst sich auch die Epigenetik . Durch die Erkenntnisse der Epigenetik wird deutlich, wie Umweltfaktoren auf Gene wirken. Die Grundidee des vererbten Traumas ist, dass sich chemische Verbindungen – sogenannte Methylierungen an unserem Erbgut der DNA verändern. Also nicht die Struktur der Doppelhelix und der Sequenzen, sondern chemische Verbindungen, die an der Doppelhelix »draußen« dranhängen. Diese Methylierungen sind für verschiedene Prozesse zuständig, zum Beispiel für Regulationsmechanismen in der Eiweißsynthese und den Nervenregulationsystemen sowie für das An- und Ausschalten bestimmter Abschnitte in der DNA. Diese biochemischen Veränderungen werden weitervererbt. In jeder unserer Zelle findet sich also auch die Information von dem, was unsere Vorfahren erlebt haben. Wenn man es genau nimmt – alle Vorfahren. Wie ein feingetunter biochemischer Riesenrechner und Prozessor.
Die Folgen
Aber was hilft uns das jetzt konkret hier? Vielleicht um zu verstehen. Dafür dürfen wir erstmal begreifen, wie dieser Prozess wirkt und da möchte ich gerne aus meinem eigenen Leben erzählen:
Meine Mutter hatte sich als Überlebensstrategie also ihre Emotionen abgeschnitten, was natürlich zur Folge hatte, dass sie mit mir, als ihrer Tochter, emotional nicht in Kontakt gehen konnte. Vielleicht kennst Du das ja auch. Ich kenne so viele Menschen in dieser Generation, die mir alle dasselbe erzählen. An liebevolle Umarmungen und Kuscheln können sie sich nicht erinnern. Das gab es so nicht.
Auch für mich nicht. Was empfang ich? Einsamkeit und Leere. Auch das ist kollektiv. So möchte kein Kind fühlen, und daraus entstehen wieder verschiedene unbewusste Strategien, um so einer Situation zu entkommen. Meine war folgende: Ich schnitt mich auch von Gefühlen ab – unbewusst –, denn sich nach etwas zu sehnen und es nicht zu bekommen, schmerzt einfach nur. Irgendwie tat ich damit genau dasselbe wie meine Mutter, nur ist es ein anderes Drama.
Mit meinen Bedürfnissen nach Nähe und Geborgenheit, die ich mir aber nicht erlaubte, suchte ich mir im Erwachsenenleben dann – und damit bin ich nicht allein – einen Partner, der all diese Dinge, nach denen ich mich sehnte, überhaupt nicht im Angebot hatte. Denn das war für mich das Vertraute. Das ist ein unbewusstes Schlüssel-Schloss-Prinzip: das kenne ich, das nehme ich, das fühlt sich wie Heimat an und sichert mir das Überleben, denn damit bin ich ja ins Leben gekommen.
Wie oft saß ich in meiner Ehe abends vor unserem Haus und rauchte eine Zigarette– ich weiß ich bin Medizinerin und das sollte ich vielleicht nicht tun, aber meistens war es wirklich nur eine –, und ich saß da und fühlte mich fürchterlich einsam. Ich wünschte mir einen Freund, der mich sieht – genauso wie ich mir gewünscht hätte, von meiner Mutter als Kind gesehen zu werden. Aber sie hatte den Nebel der Kriegswolke um sich. Da kann man gar nicht durchschauen.
Im Haus saß mein Mann vorm Fernseher. Irgendwann begriff ich, dass es sich zu Hause als Kind oft genauso einsam anfühlte. In dem Versuch, meinen Mann zu erreichen, versuche ich immer noch meine Mutter emotional zu erreichen. Eine Bemühung, die zum Scheitern verurteilt ist. Als ich das begriffen hatte, fügte sich eins zum anderen.
Nicht gesehen und nicht gefühlt
Was passiert, wenn wir als Kinder nicht gesehen und gefühlt werden? Wenn unsere Mütter und unsere Väter uns einfach nicht sehen können? Denn jedes Mal, wenn wir mit unseren offenen bittenden, großen Kinderaugen in die Augen der Mutter oder des Vaters schauen, werden sie an ihren eigenen Schmerz erinnert. Das können sie nur abwehren. In der Regel versuchen wir dann als Kinder, uns irgendwie anders Beachtung zu erschaffen, um wahrgenommen zu werden.
»Vielleicht kennst Du das? Du hast überhaupt nur ein Daseinsrecht, wenn du Gutes tust, hilfst und ablieferst.«
Als junge Frau und in dem Glauben, ich könnte Liebe durch Leistung erwerben, wurde ich leistungsstark, diplomatisch und hilfsbereit. Ich studierte Medizin, um anderen zu helfen und nahm meine eigenen Bedürfnisse kaum mehr wahr. Ich dachte, dass ich alles alleine schaffe. Ich muss nur aushalten, durchhalten und Leistung bringen. Vielleicht kennst Du das? Du hast überhaupt nur ein Daseinsrecht, wenn du Gutes tust, hilfst und ablieferst. Ein Daseinsrecht durch das, was man leistet. Einfach nur Dasein ist ja eigentlich so etwas wie unser Grundrecht, ein Geburtsrecht – aber wir tun dafür alles. Ich frage mich, wie viele Menschen in so einem Modus laufen. Wir sind ungefähr 22 Millionen Menschen in Deutschland, die in der Generation zwischen 1975 und 1950 geboren sind. Wenn wir mit der Brille des vererbten Kriegstraumas, des nicht gesehenen Kindes und dem Leistungsprinzip draufschauen, kann uns dies an vielen Stellen staunen lassen.
Also, ich habe in mein Leben eine relativ große innere Unruhe empfunden.
Erinnerst du dich? Bist du gestillt worden? Oder hat man das nicht gemacht? Haben wir uns in den Armen der Mutter getragen gefühlt? Haben wir das Leben greifen können, um richtig gut anzukommen hier im Leben, im Körper auf der Erde? Haben wir uns hingeben können, weil wir emotional versorgt wurden? Wenn das nicht stattfindet, kommt der Mensch in eine ständige innere Anspannung und sucht immer wieder danach von irgendwo her, irgendetwas zu bekommen. Und dafür gibt es verschiedene Strategien. Helfen ist zum Beispiel eine Strategie, aber sie dient dann nur der Kompensation, um gesehen, geliebt und gebraucht zu werden. Es gibt doch diese total hilfsbereiten Menschen, die kennt jede/jeder von uns. Oder vielleicht bist du selbst einer? Wie ist es, wenn es aus Mangel geschieht und nicht aus innerer Fülle, sondern um gesehen, geliebt und gebraucht zu werden? Aber an was mangelt es uns konkret?
Die Sehnsucht verstehen
Wir können ja noch nicht einmal benennen, was uns fehlt – vielleicht gibt es eine Sehnsucht nach irgendetwas, was sich anders anfühlt. Bedeutet das, dass wir Opfer sind? Die Frage können wir uns ja stellen? Oder zumindest habe ich sie mir gestellt. Ich glaube nicht, dass wir Opfer sind. Es ist eine Entscheidung, wie unsere Generation damit umgeht. Wir könnten dabei bleiben und sagen: ich bin Opfer, denn meine Mama konnte mir dies und jenes nicht geben, deshalb konnte ich dies und jenes nicht machen, und deshalb geht es mir schlecht. Wir könnten das so machen, aber zum Glück haben wir die Wahl und es geht darum, dass Heilung geschieht.
Wie wandeln wir es und welche Möglichkeiten haben wir, unser Leben zu gestalten? Wieviel Wut ist da vielleicht auch auf das, was wir nicht empfangen haben und wie leicht ist es, Schuld zu verteilen?
Also was machen wir jetzt? Da gibt es die Momente der Erkenntnis und des Begreifens – mit all den schmerzlichen Effekten. Die meisten bleiben in einem Schmerz stecken und gehen in die Resignation: ich konnte ja nicht, weil mir dies und jenes gefehlt hat. Die anderen machen sich auf den Weg. Ich kann Dir nur ans Herz legen: macht Dich auf den Weg!
Und wenn du dich fragst: wie? Du kannst dich fragen, inwiefern der Schmerz etwas mit Dir zu tun hat. Kennst Du diese Gefühle? Ich lade dich ein, dich zu fragen: Was hast Du für eine Verbindung zu Deiner Mutter? Wie ist es für Dich, Menschen zu beobachtet, die so mutig losgehen? Wie ist das bei dir? Fühlst Du Dich getragen? Was fühlst Du, wenn Du Urvertrauen, Vertrauen ins Leben hörst? Was fühlst du da? Urvertrauen? Hingabe? Wenn Du an Beziehungen denkst, was tut Dir weh? Was triggert Dich, wo kommt der Schmerz her, wenn der Auslöser vielleicht nicht so heftig war?
Jetzt haben wir ja schon unser halbes oder dreiviertel Leben gelebt, und ich kenne so viele, die mir sagen, sie haben irgendwie gar keinen Kontakt zu ihren Gefühlen und fühlen sich nicht angekommen, nicht komplett. Wir hatten die Erlaubnis nicht, uns frei zu entwickeln, weil wir gewählt hatten – aus Liebe und unbewusst: ich muss der Mama helfen, ich muss dem Papa helfen, ich muss das mittragen. Das ist eine Fremdbestimmung über etwas noch nicht einmal Aufgetragenes. Wir fühlen das als unsere Aufgabe und bringen dadurch etwas mächtig durcheinander, eine natürliche Folge – weil wir selbst innerlich zu Mutter oder Vater werden und dann noch Mütter und Väter für unsere Kinder sein dürfen.
Wir haben einen Auftrag entgegengenommen, den nur ein Kind fühlen kann, der noch nicht einmal ausgesprochen wurde. Was ich damit meine? Mach dir eines bewusst: Kinder fühlen alles, wir als Kinder haben alles gefühlt und haben sofort verstanden, in welchem Kontext wir uns befinden. Kinder können das – die verstehen das. Es ist wie ein unausgesprochener Auftrag – sei bitte so und so, damit alles andere weiterläuft. Du erinnerst Dich bestimmt daran, welche Rolle du übernommen hast.
Und deshalb wiederhole ich den Satz gerne: Wir haben einen Auftrag entgegengenommen, den nur ein Kind fühlen kann, der noch nicht mal ausgesprochen wurde.
Das innere Kind heilen
Es ist kein Verrat, den Auftrag an die Stelle zurückzugeben, wo er her kam. Jedoch ist es Verrat, uns nicht zu erlauben, leicht und kindlich zu sein und mit Freude durchs Leben zu gehen und das verletzte Kind zu heilen. Die Sehnsucht, ein kinderleichtes Leben leben zu dürfen, ein Willkommen in der Welt zu spüren, versorgt und getragen zu sein, führt im Inneren zu einem wackeligen, instabilen Fundament. Für manche Menschen fühlt es sich an, als würden sie ihr Leben auf Zehenspitzen durchschreiten, weil die innere Sicherheit und somit auch die Sicherheit auf der Erde fehlt.
»Für manche Menschen fühlt es sich an, als würden sie ihr Leben auf Zehenspitzen durchschreiten, weil die innere Sicherheit und somit auch die Sicherheit auf der Erde fehlt.«
Als Kind von kriegstraumatisierten Eltern des zweiten Weltkrieges hatte ich, wie viele Menschen in meiner Generation, Eltern, die physisch, jedoch emotional nicht anwesend waren. Dies führt in der Regel zu einem hohen inneren Stresspegel, zu einem Verlorenheitsgefühl in der Welt und diversen anderen Symptomen. Wenn Trauma die Methylierungen an der DNA verändert (wie weiter oben im Artikel beschrieben) und sich dies auch im Stressregulationssystem zeigt, dann können emotional fürsorgliche, nachnähernde Bindungen auch in diesem System wieder Ruhe bringen. Von der Demethylierung zur Remethylierung. Von der Unsicherheit in die Geborgenheit. Von der Angst in das Vertrauen. Ich aus meiner eigenen Erfahrung kann sagen, dass eine konstante zugewandte emotionale Bindung ein sehr stabilisierender Faktor ist, wenn wir uns dem Thema Trauma und transgenerationalem Trauma nähern. Und auch wenn sich zunächst kein Partner im außen zeigt, dann ist es notwendig, zu uns selbst eine nachnähernde, fürsorgliche Haltung einzunehmen, um das innere Kind zu heilen und Sicherheit entstehen zu lassen.
Was passiert, wenn Du Dich umdrehst und hinschaust, wer vor dir lebte, damit Du heute in der Welt sein kannst? Ich nahm einmal an einer Familienaufstellung teil, und da stand ich vor meinen eigenen Vorfahren und es wurde offenbar: Das, was ihr erlebt habt, ist zu groß für mich. Es ist zu groß für uns, wir können es nicht mittragen. Ich kann es nicht mittragen. Das ist einfach viel zu groß.
Indem wir nach hinten schauen und auf uns selbst, können wir unseren Platz einnehmen. Dafür müssen wir ins Gefühl kommen. Aber wie können die Gefühle, die da sind, durchlebt und verändert werden, wenn Du gelernt hast: Gefühle dürfen nicht sein. Emotionen. E-Motions.
Gefühle zulassen
Mein Vater starb im Mai 2020. Ich sitze mehrere Stunden an seinem Bett und halte Totenwache. Irgendwann nach Stunden klopft es an der Tür, und das Bestattungsunternehmen kommt herein, um seinen Körper abzuholen. Ich verlasse das Zimmer kurz und warte draußen im Flur. Der Sarg wird an mir vorbei gefahren und ich gehe zurück in das Zimmer. Was mich dort sofort erfasst, ist diese unendliche Leere in dem Zimmer. Vielleicht kennt ihr diesen Moment? Ich breche innerlich zusammen, mir laufen die Tränen, und es hört nicht mehr auf. Ein kleines Mädchen, das ihren Papa verloren hat. Meine Mutter kommt auf mich zu und kann nichts anderes sagen als: Nein, nein, nein, nein, nein … Dieses überwältigende Gefühl ist einfach zu groß für sie – Emotionen, zu viele Emotionen – sie kann es nicht aushalten. Und wie wäre der Unterschied in so einem Moment gemeinsam zu weinen, denn auch sie hat jemanden verloren, ihren Mann. Wie wäre es gewesen, sich gegenseitig zu halten und gemeinsam trauern?
Mit großer Wahrscheinlichkeit haben sich so viele von uns wieder in den Kopf gerettet, weil wir solche Dinge erlebt haben. Das ist kollektiv, und die meisten Menschen haben eine Ahnung davon oder wissen, wovon ich spreche. Und wie geht es dann weiter?
Runterkommen, geerdet sein, ins Gefühl kommen. Und da kann es gut sein, dass wir erst einmal einem Schmerz begegnen, und zwar unserem eigenen über das, was wir nicht bekommen haben – denn Trauma bedeutet ja auch das, was wir nicht bekommen haben, wie emotional genährt worden zu sein – und dem Schmerz, den unsere Vorfahren getragen haben. Aber wenn Du in Kontakt mit Dir kommen willst, braucht es die Verbindung zu Dir selbst. Trau Dich. Das braucht manchmal ein bisschen Mut und vielleicht auch Begleitung und wird dafür mit dem Schlüssel zu Dir selbst, mit Heilung und Lebendigkeit belohnt. Denn es geht immer von der Erstarrung in die Lebendigkeit – in die E-Motion.
Von der Retraumatisierung zur Heilung
In einem Rückblick auf 30 Jahre Heilkunstexpertise und meinen eigenen tiefgreifenden inneren Prozessen begriff ich irgendwann eine sehr wichtige Sache. Sie ist wesentlich, und wir müssen uns das bewusst machen:
Das Ringen um die Liebe wie wir sie gerne gehabt hätten, ist eine pausenlose Retraumatisierung. Warum? Weil es ein aussichtloser Kampf ist, der in fast 100 Prozent der Fälle scheitert.
Wir suchen überall danach weiter, was da nicht genährt worden ist. Wir suchen es von der Mutter und dem Vater, die es in diesem Leben so nicht mehr geben können und übertragen das auf Menschen, von denen wir erhoffen, diese emotionale Nahrung endlich zu bekommen, aber das ist die Quelle von ganz viel Unglück. Dies führt zu den unterschiedlichsten Konfliktsituationen in Partnerschaften und im Beruf, zu psychosomatischen Beschwerden, Krankheiten und Sucht, da es eine Suche bleibt.
Nochmal also: Das Ringen um die Liebe, wie wir sie gerne gehabt hätten, ist eine pausenlose Retraumatisierung.
Jetzt haben wir die Chance, in dieser Ahnenreihe das ganze Bedürftige und Suchende nicht ewig weiterzugeben. Wir sind in der Lage, anderes unseren Töchtern und Söhnen weiterzugeben, denn eine Zeit von 80 Jahren Frieden in Deutschland und anderen Ländern – wohlgleich es weiterhin Kriege um uns herum gibt – hat es so noch nicht gegeben. Wir blicken zurück auf viele Kriege, wobei der erste und der zweite Weltkrieg wohl die verheerendsten Kriege der Vergangenheit sind. Das Europa, das die jetzige Generationen kennt, ist ein Paradies des Friedens – doch ist Frieden Jahrhunderte lang kein Naturzustand gewesen. Der zweite Weltkrieg ist für die dritte und vierte Generation schon fast in Vergessenheit geraten.
Ich weiß: das ist ein Thema, dass allumfassend ist. Aber auch hier einmal kurz für alle Mütter: Wenn ihr Mütter seit – wie geht das? Ihr habt selbst Mütter, die diese Liebe und das Gefühl nicht geben konnten, habt es selber nicht bekommen und wie geben wir es weiter? Und auch für die Väter: wie gebt ihr es weiter?
Alles, was Dich in den Zustand bringen kann, dass der Kopf mal Pause hat und dass das, was in Deinem Körper ist, hervorkommen kann, wird Dir helfen beim Loslassen, Erkennen und Weitergehen. Wenn Du für Dich erkennst, dass es auch Dein Thema ist und den Weg aus dem Kopf in das Verdrängte gehen möchtest, gibt es heute unzählige Methoden, die Dich dabei unterstützen können.
Es gibt so wunderbare Methoden : körperorientierte Therapieformen, Breathwork, Atemtherapie, Tanztherapie, emotional Release, EMDR oder wer es ausprobieren möchte kann auch gerne schamanisch arbeiten. Es geht darum, dass wir aus der emotionalen Entkörperung wieder in den Körper hineinfinden und die Erde als einen sicheren Ort erleben, der uns nährt, versorgt und trägt. Es hat eine millionenfache Dissoziation stattgefunden. Auch dies ist in unseren Zellen gespeichert. Wenn wir uns nicht mit uns Selbst und unseren Vorfahren verbinden, können wir unseren Platz in der Welt nicht einnehmen. Das führt dazu, dass wir unsere Lebenskonzepte nicht im Einklang mit einem gefühlten Leben konzipieren, sondern Lebensideen hinterherrennen, die weder unserem innerem natürlichen Wesen entsprechen noch auf Dauer innere Fülle schaffen kann. Wenn wir uns ein Leben kreieren, das wir nicht fühlen, orientieren wir uns an dem, was die anderen machen und denken dann: ›Ah, so geht Leben‹. Ich muss dies und jenes kaufen, dies und jenes haben und dies und jenes sein oder darstellen. Um es auch provokant zu formulieren: Ganze Wirtschaftszweige bedienen sich an der inneren emotionalen Leere und der emotionalen kollektiven Entkörperung.
»Es geht um die Rückkehr von einem gedachten Leben in ein gefühltes.«
Jetzt ist die Zeit reif, zur Ganzheit zurückzukehren, denn es geht darum, dass Heilung geschieht, es geht um die Rückkehr von einem gedachten Leben in ein gefühltes und es geht darum, von der Erstarrung in die Lebendigkeit zu kommen. Es geht darum, eine große traumatische Decke der Erstarrung zu heben und das Licht hereintreten zu lassen. Es geht um Selbstverbundenheit, es geht um Erdung, um das Innere Kind und um Ahnenarbeit. Es geht um Soul Genesis, es geht um seelisch-emotionale Genesung, es geht um die Rückkehr in eine ursprüngliche selbstverbundene Form unseres Seins.
Wir müssen nicht alles selber machen, das ist auch so eine alte traumatische Überzeugung. Lass sie gehen, lass Dir helfen, wenn Du Dich auf den Weg machst. Wenn wir den Kilimandscharo besteigen wollen, nehmen wir uns jemanden, der den Weg kennt, einen Guide. Dies gilt auch für seelische Wege. Ich wünsche uns allen, dass die Mutterwunde heilt, dass die Vaterwunde heilt. Ich wünsche es Dir als Mutter, Dir als Vater und vor allem wünsche ich es uns für unsere Kinder und Kindeskinder. Von Herzen Ilona.
Dr. Ilona Schönwald wurde 1975 geboren und ist freiberufliche online Mentorin im DACH-Raum, Rednerin und Autorin. Als Krankenschwester, Hautärztin und spirituelle Heilerin bringt sie über 25 Jahre Heilkunstexpertise in ihr Soul Genesis Mentoring mit ein und begleitet Menschen in ihren persönlichen, transformativen Prozessen auf dem Weg zu sich Selbst.
Der Selbsttest: Bin ich betroffen? 6 Anzeichen für vererbtes Kriegstrauma.
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Worum es hier geht, kann – weit über die Kriegsgeschichte hinaus – als spirituelle Bedeutung der „Erb-Sünde“ verstanden werden. Dann wird klar, dass die Kernaussagen (nicht nur) der christlichen Religion anthropologisch zu verstehen sind. Es geht um die Menschwerdung des Menschen, die Menschwerdung Gottes, die Er-Lösung von der immer schon durch Verhalten und Epigenetik tradierten Konditionierung. Die Rückkehr vom Kopf in den Leib, zur Erde: „Der Himmel ist auch die andere Erde“.