Dr. Gabor Maté

Gabor Maté – Vom Mythos des Normalen

Psychische Leiden in der Moderne

Der renommierte kanadische Arzt und Suchtexperte Gabor Maté geht in seinem Buch »Vom Mythos des Normalen« den Ursachen von Krankheit und Trauma in unserer Gesellschaft detailliert nach. Wir erfahren von einer anderen Sicht als der, die uns durch die zeitgenössische Medizin, Medien und Gesellschaft vermittelt wird. Gleichzeitig zeigt er Wege auf, um mit sich Frieden zu schließen und den Weg der Heilung anzutreten.

In diesem Buch, Vom Mythos des Normalen, geht es um etwas viel Umfassenderes. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass hinter der gesamten Epidemie chronischer physischer und psychischer Krankheiten, die uns momentan plagt, etwas in unserer Kultur selbst nicht stimmt. Es trägt nicht nur zu den vielen Krankheiten bei, unter denen wir leiden, sondern auch, und das ist entscheidend, zu ideologisch blinden Flecken. Sie halten uns davon ab, unsere missliche Lage klar zu erkennen und, besser noch, etwas dagegen zu unternehmen. Diese blinden Flecken sind in unserer gesamten Kultur weit verbreitet, aber in einem tragisch hohen Maße in meiner eigenen Berufssparte zu finden. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir keine Ahnung haben, wie unsere Gesundheit und unser soziales und emotionales Leben zusammenhängen. 

Anders ausgedrückt: Chronische Krankheiten – ob psychischer oder physischer Natur – sind in hohem Maße ein Resultat oder ein Merkmal der bestehenden Umstände und keine Störung. Sie sind eine Folge unserer Lebensweise, kein mysteriöser Irrweg. 

Spricht man von einer »toxischen Kultur«, kann sich das auf viele Dinge beziehen, zum Beispiel auf Umweltschadstoffe, die seit Beginn des Industriezeitalters so allgegenwärtig und der menschlichen Gesundheit so abträglich sind. Von Asbestpartikeln bis hin zu enormen Mengen schädigendem Kohlendioxid: An realen, physischen Giftstoffen in unserer direkten Umgebung mangelt es wirklich nicht. Wir könnten »toxisch« auch in seinem modernen und populär-psychologischen Sinn verstehen, wie es in der Verbreitung von Negativität, Misstrauen, Feindseligkeit und Polarisierung deutlich wird, die für die soziopolitische Gegenwart typisch sind. Wir können diese beiden Bedeutungen natürlich in unsere Diskussion einbeziehen, aber ich verwende den Begriff »toxische Kultur«, um etwas noch Umfassenderes und tiefer Verwurzeltes zu beschreiben: den gesamten Kontext aus sozialen Strukturen, Glaubenssystemen, Vermutungen und Werten, der uns umgibt und zwangsläufig jeden Aspekt unseres Lebens durchzieht

Gabor Maté

Die Tatsache, dass sich unser soziales Leben auf unsere Gesundheit auswirkt, ist nicht neu, aber dieser Erkenntnis auch Beachtung zu schenken, war nie dringlicher erforderlich. Ich sehe darin das wichtigste und folgenreichste Gesundheitsrisiko unserer Zeit, das durch die Auswirkungen von zunehmendem Stress, Ungleichheit und die Klimakatastrophe, um nur einige Hauptfaktoren zu nennen, gefördert wird. Unser Konzept von Wohlbefinden muss sich vom Individuellen zum Globalen – in jedem Sinne dieses Wortes – wandeln. Das trifft vor allem in unserem Zeitalter des globalisierten Kapitalismus zu, der, um es mit den Worten des Historikers und Kulturkritikers Morris Berman auszudrücken, »zur totalen kommerziellen Umgebung geworden ist, die eine gesamte mentale Welt umfasst.«1Morris Berman: The Twilight of American Culture, New York: W. W. Norton 2001, 64-65 (dt.: Kultur vor dem Kollaps. Wegbereiter Amerika, Frankfurt a. M.: Ed. Büchergilde 2002) Angesichts der Einheit von Körper und Geist, die in diesem Buch besonders hervorgehoben werden soll, würde ich hinzufügen, dass er auch eine totale physiologische Umgebung ausmacht. 

Meiner Meinung nach erzeugt unsere soziale und wirtschaftliche Kultur ihrem Wesen nach chronische Stressfaktoren.

Meiner Meinung nach erzeugt unsere soziale und wirtschaftliche Kultur ihrem Wesen nach chronische Stressfaktoren. Sie untergraben das Wohlbefinden auf sehr ernsthafte Weise so zunehmend, wie wir es in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten. 

Wir sollten viele Krankheiten nicht als grausame Wendungen des Schicksals oder boshafte Mysterien sehen, sondern eher als eine erwartete und deshalb normale Konsequenz anormaler, unnatürlicher Umstände. Das würde sich auf revolutionäre Weise auf unseren Umgang mit unserer Gesundheit auswirken. Die kranken Körper und Seelen würden nicht länger als Ausdruck eines individuellen Krankheitsbildes angesehen, sondern als lebendes Alarmsignal. Sie würden unsere Aufmerksamkeit dorthin lenken, wo unsere Gesellschaft aus

dem Ruder gelaufen ist. Dorthin, wo unsere derzeit herrschenden Gewissheiten und Vermutungen rund um die Gesundheit in Wirklichkeit Fiktion sind. Würde man sie klar erkennen, würden sie uns vielleicht auch Hinweise darauf geben, was getan werden müsste, um die Richtung zu ändern und eine gesündere Welt zu schaffen. 

Dem heutigen medizinischen Modell liegt eine scheinbar wissenschaftliche Überzeugung zugrunde, die in gewisser Weise mehr einer Ideologie als empirischem Wissen ähnelt. Daher unterläuft ihr ein doppelter Fehler: Es reduziert komplizierte Ereignisse auf ihre Biologie und trennt den Körper vom Geist. Es befasst sich fast ausschließlich mit dem einen oder dem anderen und bringt kein Verständnis für die grundlegende Einheit der beiden auf. Dieses Versäumnis erklärt weder die unbestritten fantastischen Errungenschaften der Medizin für nichtig noch die guten Absichten so vieler Menschen, die sie praktizieren. Aber es schränkt die guten Dinge, die die Medizin bewirken könnte, stark ein. 

Gabor Maté

Eine der hartnäckigsten und verheerendsten Unterlassungen, die unsere Gesundheitssysteme behindert, ist – entweder aus Nichtwissen oder echtem, aktivem Ignorieren – die Ignoranz dessen, was die Wissenschaft bereits bewiesen hat. Ein typisches Beispiel sind die zahlreichen und zunehmenden Belege dafür, dass menschliche Wesen nicht in einzelne Organe und Systeme zerlegt werden können, nicht einmal in »Geist« und »Körper«. Alles in allem war die medizinische Welt nicht gewillt oder nicht in der Lage, diese Belege zu verarbeiten. Sie konnte ihre Vorgehensweise nicht anpassen. Die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse – von denen viele vom Konzept her nicht allzu neu sind – müssen ihren Weg in das Medizinstudium erst noch finden. Also tappen viele wohlwollende Ärzte weiterhin im Dunkeln. Viele von ihnen müssen sich die Zusammenhänge am Ende selbst erschließen.

Gesundheit und Krankheit sind keine zufälligen Zustände eines bestimmten Körpers oder Körperteils. 

Für mich begann das Herstellen von Zusammenhängen vor einigen Jahrzehnten: Ich stellte meinen Patientinnen und Patienten aufgrund einer Vermutung nicht nur die üblichen trockenen medizinischen Fragen zu ihren Symptomen und ihrer Krankheitsgeschichte. Ich befragte sie stattdessen auch nach dem größeren Kontext: ihrem Leben. Ich bin dankbar für alles, was diese Männer und Frauen mich gelehrt haben – durch ihr Leben und Sterben, durch ihr Leiden und ihre Genesung sowie durch die Geschichten, die sie mit mir teilten. Der Kern des Ganzen deckt sich völlig mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen: Gesundheit und Krankheit sind keine zufälligen Zustände eines bestimmten Körpers oder Körperteils. Sie sind vielmehr Ausdruck eines gesamten gelebten Lebens, eines Lebens, das wiederum nicht losgelöst verstanden werden kann: Es wird von einem Netzwerk aus Umständen, Beziehungen, Ereignissen und Erfahrungen beeinflusst – oder, besser noch, es entsteht daraus. 

Krankheit ist keine Sache

Krankheit ist ein Prozess 

Wir sind daran gewöhnt, Krankheit als eine Sache anzusehen, derer man sich entledigen muss, oder als einen Feind, den man bekriegen muss – wie zum Beispiel im »Kampf gegen den Krebs«. (Ein Kampf, der, nur um es einmal gesagt zu haben, alles andere als siegreich war.)2Franck Mauvois-Jarvis et al.: »Sex and Gender: Modifiers of Health, Disease, and Medicine«, in: Lancet 396, no. 10250, 22.8.2020, 565-82
Irgendwann einmal, so sagen wir uns, mit ausreichender Forschung, werden wir als Gesellschaft den Krebs »besiegen« und ihn ausrotten. Inzwischen bleiben wir beharrlich uneinsichtig, wie in dem viralen Hashtag #FuckCancer zum Ausdruck kommt. Unsere Alltagssprache zeigt unsere angriffslustige Einstellung: Wir hören von einem Freund oder einem Familienmitglied, das tapfer »gegen MS« oder eine andere Krankheit »kämpft«. Entweder gewinnt er oder sie die Oberhand oder erliegt dem Gegner in diesem Kampf.

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Es kann sein, dass diese Kriegsmetaphern so beliebt sind, weil ihre Ausdruckskraft gut zu unseren Gefühlen der Wut und Verzweiflung passt. Dadurch werden sie jedoch nicht zu einer Hilfe. In einer früheren Arbeit habe ich die kanadische Onkologin Karen Gelman zitiert, eine führende Brustkrebsspezialistin. Sie kann der militärischen Darstellung der Krebsbehandlung und -forschung nicht viel abgewinnen. »Im Körper findet ein Fluss statt – es gibt einen Input und einen Output«, sagte sie, »und man kann nicht jeden einzelnen Aspekt davon kontrollieren. Wir müssen diesen ›Flow‹ verstehen und wissen, dass wir einige Dinge beeinflussen können und andere nicht. Es ist kein Kampf, sondern ein Push-und-Pull-Phänomen, bei dem es darum geht, Ausgeglichenheit und Harmonie zu erreichen und gegensätzliche Kräfte zu einem Ganzen werden zu lassen.«3In den Vereinigten Staaten sind beispielsweise Frauen, die zur Schwarzen oder Hispanic-Bevölkerung gehören, mit einem höheren Risiko für eine Autoimmunerkrankung behaftet als Frauen anderer Zugehörigkeit. Eine 1964 im American Journal of Public Health veröffentlichte Studie über systemischen Lupus in New York ergab, dass »die Morbiditäts- und Mortalitätsraten bei Schwarzen am höchsten waren, gefolgt von Puertoricanern und anderen Weißen in absteigender Reihenfolge« (Morris Siegel: »Epidemiology of Systemic Lupus Erythematosus: Time Trend and Racial Differences«, in: American Journal of Public Health 54, no. 1, Januar 1964, 33-43). Fünfzig Jahre später besteht dieser Unterschied zwischen den Ethnien immer noch. »Im Großen und Ganzen kommt SLE in nicht-weißen Bevölkerungsgruppen (Hispanics, Afroamerikaner und Asiaten) häufiger und in gravierenderer Form mit höherer Krankheitsaktivität und mehr Schäden als bei Weißen vor.« (L. A. Gonzalez et al.: »Ethnicity in Systemic Lupus Erythematosus (SLE): Its Influence on Susceptibility and Outcomes«, in: Lupus 22, no. 12, October 2013, 1214-24) Weiblich und indigen zu sein, erhöht auf beiden Seiten des 49. Breitengrads ebenfalls das Risiko zu erkranken – in Kanada beispielsweise ist die Rate der rheumatoiden Arthritis bei indigenen Menschen dreimal so hoch wie im Vergleich zum nationalen Durchschnitt (Stephen Hunt: »Arthritis Affects Indigenous People at a Rate Three Times Higher Than Average«, CBC News, 5.11.2018, https:// www.cbc.ca/news/canada/calgary/indigenous-rates-arthritis-higher-than- average-1.4892319). In diesen Statistiken überwiegen natürlich die Frauen: Bei den weiblichen Aborigines ist die Rate der rheumatoiden Arthritis nicht drei-, sondern sechsmal höher als bei den Männern (JointHealth Insight: »Rheumatoid Arthritis and the Aboriginal Population – What the Research Shows«, September 2006, https://jointhealth.org/programs-jhmonthly- view.cfm?id=19&locale=en-CA).   Über die Kriegserklärungen hinaus gibt es eine weitere, sogar noch weiter verbreitete Kategorie von Missverständnissen, die unseren Blick auf Krankheiten vernebelt: »Ich habe Krebs.« »Sie hat MS.« »Mein Neffe hat ADS.« Jede dieser Aussagen enthält die nicht hinterfragte Annahme, dass es ein »Ich« (oder jemanden) gibt, das (oder der) unabhängig von der Sache ist, von der Krankheit, an der das »Ich« leidet – genau wie in der Aussage: »Ich habe einen Flachbildfernseher.« Dies hier ist mein Leben und dort drüben ist die Krankheit, die in dieses Leben eingedrungen ist. Betrachtet man Krankheit auf diese Weise, ist sie eine externe Sache mit eigener Natur. Sie existiert dann unabhängig von der Person, in der sie sich zeigt. Angesichts der Tatsache, wohin uns diese Sichtweise gebracht hat, ist es an der Zeit, neue Sichtweisen in Betracht zu ziehen. 
Was wäre, wenn wir Krankheit als ein Ungleichgewicht im gesamten Organismus sehen würden?
Um eine Frage, die für unser Thema wesentlich ist, neu zu formulieren: Was wäre, wenn wir Krankheit als ein Ungleichgewicht im gesamten Organismus sehen würden? Nicht nur als eine Erscheinungsform von Molekülen, Zellen oder Organen, die von Krankheiten befallen oder in ihrer Natur verändert wurden. Was wäre, wenn wir die Ergebnisse der westlichen Forschung und der medizinischen Wissenschaft in einem systemischen Rahmen anwenden würden, um nach allen Verbindungen und Umständen zu suchen, die zu Krankheit und Gesundheit beitragen?
Gabor Maté

Eine solche Neustrukturierung würde unsere Art und Weise, Medizin zu praktizieren, revolutionieren. Anstatt Krankheit als eine feste Einheit zu behandeln, die dem Körper ihren kranken Willen auferlegt, hätten wir es mit einem Prozess zu tun. Dieser kann nicht getrennt von unserer persönlichen Geschichte und dem Kontext und der Kultur, in der wir leben, betrachtet werden. Eine solche Veränderung der Sichtweise ist nicht nur deshalb empfehlenswert, weil sie der interpersonellen Biologie Rechnung trägt. Wenn wir aufhören, Krankheit als eine konkrete, autonome Sache mit einem vorherbestimmten Verlauf zu sehen – und wenn wir bereit sind und darin bestärkt werden, sowohl nach innen als auch nach außen zu blicken –, können wir anfangen, in dieser Angelegenheit zu handeln. Wenn Krankheit eine Manifestation von etwas in unserem Leben ist und nicht nur ein grausamer Störenfried von außen, haben wir die Wahl: Wir können uns um ein neues Verständnis bemühen, neue Fragen stellen und vielleicht neue Entscheidungen treffen. Wir können unseren rechtmäßigen Platz als aktive Mitwirkende in dem Prozess einnehmen, anstatt dessen Opfer zu sein, die hilflos auf das Wunder wirkende, medizinische Personal angewiesen sind. 

Die Möglichkeit der Heilung 

Wenn ich von Heilung spreche, meine ich damit nicht mehr und nicht weniger als eine natürliche Bewegung hin zur Ganzwerdung. Wohlgemerkt bezeichne ich sie nicht als den Endzustand völliger Ganzheit, als »erleuchtet« oder ein ähnliches psychospirituelles Ideal. Es beschreibt eine Richtung, kein Ziel, eine Linie auf einer Landkarte, keinen Punkt. Heilung ist auch nicht gleichbedeutend mit Selbst-Vervollkommnung. Treffender wäre es, von einer Selbst-Findung zu sprechen. Tatsächlich kann unsere moderne Kultur der Selbstoptimierung den Weg der Heilung allzu leicht verschleiern oder verkomplizieren. Sie wird schließlich zu einem großen Teil von denselben konsumorientierten Kräften mitbestimmt, die für die Lebensbedingungen verantwortlich sind, die wir aufgezeigt haben. Wenn wir heilen, geht es darum, die verlorenen Teile unseres Selbst wiederzufinden, und nicht darum, sie zu verändern oder zu »verbessern«. 

Jede Bewegung in Richtung Ganzheit beginnt damit, unser eigenes Leiden und das Leiden in der Welt anzuerkennen.

Jede Bewegung in Richtung Ganzheit beginnt damit, unser eigenes Leiden und das Leiden in der Welt anzuerkennen. Das bedeutet nicht, dass wir uns in einem Strudel aus Schmerz und Melancholie, der nie enden will, und vor allem nicht in der Opferrolle verfangen. Eine neue und starre Identität, die auf »Trauma« – oder in diesem Zusammenhang auf »Heilung« – beruht, kann selbst eine Art Falle sein. Wahre Heilung bedeutet einfach, dass wir uns der Wahrheit unseres Lebens, unseres vergangenen und unseres gegenwärtigen, so offen und objektiv wie möglich stellen. Wir gestehen uns ein, wo wir verletzt wurden, und prüfen ehrlich, soweit wir dazu in der Lage sind, die Auswirkungen dieser Verletzungen, die sowohl unser eigenes Leben als auch das der Menschen um uns herum berührt haben. Das kann aus unzähligen verständlichen Gründen außerordentlich schwierig sein. Ganz gleich, wie groß das Unbehagen ist, das unsere Illusionen überdeckt, die Wahrheit tut weh. Und wir tun uns nicht gerne weh, sofern wir es vermeiden können – selbst wenn wir spüren, dass hinter dem Schmerz etwas Besseres liegen könnte.

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»Wahrheit« ist ein großes kleines Wort, das leicht missverstanden werden kann. Ich spreche nicht von einer ultimativen spirituellen Wahrheit; ich beziehe mich auch nicht auf rein intellektuelle Wahrheiten oder überprüfbare Tatsachen wie »wahr oder falsch«. Wenn das alles wäre, dann könnten wir die Wahrheit studieren, bis wir sie gefunden haben, und jede akademische Fakultät würde von modernen Buddhas geleitet. Wohin hat uns, bei all ihren Verdiensten, unsere große intellektuelle Kapazität gebracht? Genau dorthin, wo wir uns jetzt befinden: in eine ungerechte Welt, die von Selbstauslöschung bedroht ist, in ein Universum des Überflusses mit unsäglichem und unnötigem Leid und Entbehrungen, zu weitverbreiteter Entfremdung und Verzweiflung. In der Tat lässt sich unser Gehirn nur allzu bereitwillig von dem Teil unseres Selbst rekrutieren, der leugnen will, wie die Dinge sind: Es gibt einen Grund, warum »Rationalität« und »rationalisieren« sprachlich verwandt sind. 

Die Wahrheit, von der ich spreche, ist viel bescheidener und bodenständiger: Sie betrifft den klaren Blick darauf, wie es ist, wie die Dinge in diesem Moment tatsächlich sind. Das ist die Art von Wahrheit, die Heilung einleitet. Um sie zu erlangen, müssen wir etwas nutzen, das genialer ist als unsere Intelligenz. 

Die Art von Wahrheit, die heilt, erkennt man an ihrem »Felt Sense«, dem gespürten Wissen

Der Intellekt wird zu einem weitaus intelligenteren Werkzeug, wenn er das Herz sprechen lässt; wenn er sich dem öffnet, was in uns die Wahrheit nachklingen lässt, anstatt zu versuchen, dagegen zu argumentieren. »Und hier ist mein Geheimnis, ein sehr einfaches Geheimnis«, rät der Fuchs dem Kleinen Prinzen in Antoine de Saint-Exupérys beliebter Erzählung: »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« Der Intellekt kann überprüfbare Tatsachen wahrnehmen – vorausgesetzt, dass die Verleugnung sie nicht verschleiert oder verzerrt. Das geschieht oft, um Teile in uns zu schützen, die verletzt sind oder Schmerz vermeiden wollen. Es ist möglich, Tatsachen vorzutragen, zu erklären und auf ihnen zu bestehen, ohne dass sie ein Fünkchen von dem, was ich Wahrheit nenne, enthalten. Die Art von Wahrheit, die heilt, erkennt man an ihrem »Felt Sense«, dem gespürten Wissen, nicht nur daran, wie viel »Sinn« sie macht. Falls Ihnen das alles vage oder unwissenschaftlich vorkommt, denken Sie daran, dass das Herz ein lebendiges, schlagendes Organ ist, kein abstraktes Konzept. Dr. Stephen Porges hat auf brillante Weise gezeigt, dass die neuronalen Schaltkreise für soziales Engagement und für Liebe eng mit dem Herzen und seinen Funktionen verbunden sind. Mehr noch: Das Herz hat auch sein eigenes Nervensystem.4Die Neurokardiologie beschäftigt sich mit der Untersuchung des neuronalen Netzes im Herzbeutel, der faserigen Hülle, die das Herz umgibt, und seinen Verbindungen zum Nervensystem und zum Gehirn.
Das verbal denkende Großhirn beansprucht zu Unrecht die Auszeichnung, das einzige Gehirn zu sein. In Wirklichkeit teilt es sich diese Ehre mit dem Darm und dem Herzen. Mit anderen Worten, das Herz weiß Dinge – so sicher wie ein Bauchgefühl auch eine Art von Wissen ist. 

Wir müssen nicht perfekt sein, heilige Barmherzigkeit zeigen oder irgendein emotionales oder spirituelles Level erreichen, bevor wir davon sprechen können, auf dem Weg der Heilung zu sein. Alles, was wir brauchen, ist die Bereitschaft, an dem Prozess teilzunehmen, der sich in uns entfalten will, damit Heilung auf natürliche Weise geschehen kann. Jeder kann unabhängig von seiner Vorgeschichte beginnen, die Zeichen der Ganzheit wahrzunehmen, sei es in Form eines Schreis oder eines Flüsterns, und sich entschließen, sich in ihre Richtung zu bewegen. Mit dem Herzen als Wegweiser und dem Geist als bereitwilligem und neugierigem Partner folgen wir dem Weg, der mit diesem Ruf am meisten in Einklang steht.

Dr. Gabor Maté

Dr. Gabor Maté ist ein international renommierter Arzt aus Kanada, Autor und Experte für die Themen Sucht, Stress und kindliche Entwicklung. Seine Bücher sind alle samt Bestseller und in über 25 Sprachen übersetzt. Gabor Maté ist weltweit vernetzt und als gefragter Redner tätig. Seine Arbeit und sein Lebenswerk wurden in der preisgekrönten Dokumentation »The Wisdom of Trauma – Der weise Schmerz der Seele« filmisch festgehalten. drgabormate.com/

Wir bedanken uns ganz herzlich beim Kösel Verlag für die freundliche Bereitstellung der Buchauszüge. Aus dem Buch von Gabor Maté: »Vom Mythos des Normalen. Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung«, Hardcover, 624 S., Kösel-Verlag 2023, ISBN 978-3-466-34798-8

https://www.penguin.de/Buch/Vom-Mythos-des-Normalen/Gabor-Mate/Koesel/e610550.rhd

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